von Pia Götz 

In einem der letzten Artikel haben wir euch das Prinzip der Computer Tomographie vorgestellt. Das MAPEX an der Uni Bremen durchleuchtet Objekte mithilfe von Röntgenstrahlung, analysiert und wertet die Ergebnisse aus. Mithilfe der Computer Tomographie begeben wir uns im neuen Artikel auf eine Zeitreise. Wir enthüllen Verborgenes aus der Vergangenheit, ziehen Erkenntnisse aus der Gegenwart und evaluieren den Nutzen für die Zukunft. Dabei zeigt sich die Scherbe im neuartigen digitalen Gewand, was neben neuen Möglichkeiten auch Risiken birgt.

Widmen wir uns also noch einmal dem Beispiel der Tonscherbe aus dem 16. Jahrhundert. In den CT-Aufnahmen sind Partikel mit stärkerer Röntgenabsorption erkennbar. Mit den zerstörungsfreien CT-Verfahren und dem Wissen aus anderen wissenschaftlichen Arbeiten, wie Rother (1992) lassen sich fundierte Aussagen über die Zusammensetzung des Materials tätigen. Die Scherbe muss so, im Gegensatz zu vielen chemischen Analyse-Verfahren, nicht zerstört werden. Das ursprüngliche Gefäß, von dem die Scherbe ein Bruchstück widerspiegelt, ist unter Historiker*innen hinlänglich als Siegburger-Steinzeug bekannt.

Abbildung 1: Siegburger Kanne; Herstellung Ende 14. Jahrhundert, gefunden im 20. Jahrhundert in der Nähe von Hamburg Bildquelle: Von Archäologisches Museum Hamburg.

Siegburger Steinzeug – damals wie heute begehrt

Das Spätmittelalter und die frühe Neuzeit waren die Hochzeiten dieser keramischen Warenart. Hergestellt in Siegburg im Rheinland, wurde es in ganz Europa gehandelt und dient heute der Datierung archäologischer Fundstellen.

Ausschlaggebend für die Ansiedlung der Siegburger Töpfer waren reiche Waldbestände für Feuerholz, die gute Anbindung an den schiffbaren Wasserweg – die Sieg –  und qualitativ hochwertige Tonlagerstätten. Eine Zunftordnung schrieb nicht nur präzise vor, wie bei Herstellung und Handel vorgegangen werden sollte, sondern erlaubte strikt nur die niedergeschriebenen Gefäßtypen. Diese waren hauptsächlich Kannen und Krüge (Dornbusch, 1873).

Durch die strenge Zunftordnung, wonach das Wissen der Töpfer nur an ehelich geborene Söhne weitergegeben werden durfte, war die Siegburger Steinzeugproduktion über Jahrhunderte fest in der Hand einiger weniger Familien (Dornbusch, 1873).

Um auch die mittellosen Bürger*innen am Erfolg des Steinzeuges teilhaben zu lassen, durften diese sich jährlich zu einem Fest einen Krug bei den Töpfern abholen. Dieser wurde im Kloster kostenlos mit Bier gefüllt, jedoch nur so weit, wie die empfangende Person den Krug noch mit einer Hand heben konnte. Dazu gab es einen rheinischen Groschen und ein Pfund Gerste (Dornbusch, 1873).

Nicht alles Gold, was glänzt, aber Titan

Das deutsche Steinzeug aus der rheinländischen Stadt Siegburg war durch seine Qualität und Kunstfertigkeit zur Zeit des Mittelalters also sehr wertvoll und wurde wie Edelmetall in ganz Europa gehandelt. Dabei spielt die Materialhaltbarkeit ebenfalls eine große Rolle. Die Härteeigenschaft des Siegburger-Steinzeugs ist auf das Vorhandensein von Titandioxid (TiO2) zurückzuführen, Mineralkörner von hoher Dichte. Rother (1992) untersuchte mehrere Steinzeugproben des Siegburger Steinzeugs aus dem 15. Jahrhundert mit Röntgenfluoreszenz-Verfahren. Die Ergebnisse der Untersuchungen zeigen die typischen Zusammensetzungen von Siegburger Steinzeug. Demnach bestehe Siegburger Steinzeug typischerweise zu  1,7 – 1.8 Gewichtsprozent aus Titandioxid (Rother, 1992). Dieses widerum treten in vier natürlichen polymorphen Formen auf – Mineralien gleicher Zusammensetzung bei unterschiedlicher Kristallstrukturen. Die häufigsten Formen von Titandioxid sind Rutil und Anatas. Weitaus seltener zu finden ist es als Brookit und Akaogiit, sodass davon ausgegangen werden kann, dass in unserer Scherbe sehr wahrscheinlich Rutil und/oder Anatas zu finden sein wird. Jene röntgenabsorbierenden Partikel, die in der Animation als funkelnde Staubwolke dargestellt wird, die so schön goldig glänzt.

Auch die Lufteinschlüsse lassen  Rückschlüsse auf den Herstellungsprozess zu. Die horizontale Ausrichtung der Blasen lassen darauf schließen, dass das Gefäß rotierend hergestellt und die Oberfläche dabei mit einem Holzwerkzeug geschabt und glatt gestrichen wurde (Berg, 2008).

Abbildung 2: Horizontal ausgerichtete Lufteinschlüsse in der Scherbe.

Die schöne Farbe und auch das Funkeln sind dabei nur das Resultat einer Bildgebung, dem Rendering (siehe hierzu auch den vorherigen Artikel). Mit der CT-Messung lässt sich natürlich keine tatsächliche Farbe aufnehmen. Allein das Absorptionsverhalten, eben die erhöhte Absorption der Partikel, ist bekannt.

Imagewechsel

Auf der einen Seite generieren wir neue wissenschaftliche Informationen über Zusammensetzung und Verteilung von spezifischen Materialeigenschaften. Auch der zerstörungsfreie Zugang zum Inneren eines Objekts wird ermöglicht. Auf der anderen Seite geht die tatsächliche Farbinformation des Objekts verloren.

Objekteigenschaften lassen sich also fast variabel sichtbar und unsichtbar machen. Dem Objekt wird im wahrsten Sinne des Wortes digital ein Imagewechsel verpasst. Ästhetisch ansprechende digitale Objekte werden kreiert. Doch wie lassen sich beide Informationsquellen miteinander vereinbaren und wie wirken sie auf uns?

Jahrhunderte alte Museumsstücke im neuen digitalen Gewand

Im Projekt “DigitalMaterialities – Virtual and Analogue Forms of Exhibition” (zu deutsch: Digitale Materialitäten – virtuelle und analoge Formen der Ausstellung) geht es genau um dieses Spiel zwischen originalem Objekt und der künstlich erzeugten Version. Dabei versuchen Forschende aus einem interdisziplinären Team, die Grenzen zwischen wirklicher und digitaler Materialität von Museumsstücken zu verwischen, um aus beiden kombinierten Informationsansätzen den größten Nutzen zu ziehen. Beteiligt hierbei sind Forschende vom Leibniz-Institut für Wissenschaftskommunikation in Tübingen, das Leibniz-Institut für Maritime Geschichte (Deutsches Schifffahrtsmuseum) in Bremerhaven und das MAPEX Center for Materials and Processes an der Uni Bremen. Ein transdisziplinäres Team aus den Bereichen Psychologie, Kultur- und Materialwissenschaften.

Neben der Erforschung der Materialeigenschaften mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen und den historischen Hintergründen soll vor allem der Einfluss der digitalen Materialitäten auf den Wissenserwerbsprozess untersucht werden.

Ein Perspektivenwechsel – im Wandel

Museen befinden sich im Wandel. Nicht nur durch die Pandemie angetrieben, strebt die Menschheit zunehmend einer Digitalisierung entgegen. So werden einige Museen schon heute virtuell nach Hause ins Wohnzimmer gebracht und ermöglichen es den Besucher*innen, Objekte digital anzufassen, mit ihnen zu experimentieren und ihre Anwendung oder Funktionsweisen zu verstehen. Fragile Objekte, die sonst hinter Glas verschlossen wären und keinesfalls berührt werden dürften. Ein Gewinn, der nicht nur auf die Anwendungen zuhause begrenzt ist. Vielmehr laden digitale Objekte die Besuchenden des Museums vor Ort dazu ein, interaktiv und mit erhöhter Aufmerksamkeit Museumsobjekte zu erkunden. Die veränderte Farbgebung des digitalen Objekts beeinflusst dabei die Wahrnehmung. Riesige Projektionen können die Aufmerksamkeit der Museumsbesuchenden auf deren klitzekleinen Original-Objekte oder den Fokus auf mit dem Auge kaum sichtbare Teilbereiche des Objekts lenken. So können aber auch bestimmte Materialeigenschaften farblich unterstützt  werden, wie beispielsweise bei der rotierenden Punktewolke.

Abbildung 3: Die Tonscherbe als 3D-Grauwertbild, die scharfen Bruchkanten lassen auf ein hartes Material schließen, Rendering der Tonscherbe zum Imitieren von Silber und Gold.

Abbildung 4: Organisch anmutende Darstellung der Tonscherbe.

Trotz einiger Jahrhunderte im rauen Wesergrund gebettet und unerbittlichen Witterungsbedingungen ausgesetzt, weist die Tonscherbe relativ scharfe Bruchkanten auf. Das liegt an der Härte des Materials. Nehmen wir mal an, wir wüssten nicht, um welches Material es sich bei der Scherbe handeltee und betrachteten allein die Kontur der Scherbe, ohne Farbgebung – wir würden wahrscheinlich vermuten, es handelte sich um einen harten, spröden Gegenstand. Vielleicht sogar metallisch?

Natürlich ist es durch das Rendering auch möglich, vermutete Eigenschaften zu beeinflussen und einen Gegenstand anders wirken zu lassen. So können die digitalen Licht- und Schatteneinstellungen kombiniert mit geschickt gewählten Oberflächeneigenschaften die Tonscherbe weicher aussehen lassen. Das Ergebnis mutet dabei fast einer organischen Struktur an. Andererseits kann die Oberfläche durch das gewählte Rendering auch eher grob und schroff wirken.

 

Abbildung 5: Vielfältige Rendermöglichkeiten der Tonscherbe: Glas, Kohle & sprödes, grobes Tonmaterial.

Das Spiel zwischen Originalobjekt und seinem Digitalisat lässt somit Raum für Interpretation und öffnet neue Wege, komplexere Funktionsweisen der historischen Ausstellungsstücke zu verstehen. Doch Vorsicht! Hier lauert die Gefahr für Missinterpretationen. Durch die Farbgestaltung könnten die digitalen Objekte von ihrem Originalobjekt gegebenenfalls losgelöst und mit diesem nicht mehr in Verbindung gebracht  werden. Vor allem bei sehr abstrakten Darstellungsweisen könnte dies der Fall sein. Ein schmaler Grat zwischen der Erzeugung von Aufmerksamkeit und Wagnis zum Verlust des Bezuges zum Originalobjekt. Es stellt sich zudem die Frage, welchen Stellenwert wir dem Digitalisat zukommen lassen. Ist das Digitalisat ein digitaler Zwilling, lediglich die digitale Kopie eines Originals, eine Ergänzung oder ein gänzlich neu erschaffendes Objekt?

Ein fachübergreifendes Forschungsgebiet, das über die Grenzen des MINT-Bereiches geht und die philosophisch-anmutenden Fragen aufwirft: Was ist real, was digital? Was ist nur eine andere Darstellungsform? Was eine Kopie? Und wie würde ein Objekt bezeichnet werden, das durch einen 3D-Druck vom digitalen wieder zu etwas physisch Anfassbaren wird?

Bleibt auf dem Laufenden: Immer am letzten Freitag eines jeden Monats wird auf dem Instagram-Account des Schifffahrtsmuseums (@Leibnizdsm) ein Rätsel mit einer digitalen Vorstellung eines neuen Objektes  veröffentlicht, das zum Bestaunen und Verwundern einlädt.

Quellen

Dornbusch, Johann Baptist: Die Kunstgilde der Töpfer in der abteilichen Stadt Siegburg und ihre Fabrikate. Mit Berücksichtigung von anderen bedeutenden rheinischen Töpferniederlassungen, besonders von Raeren, Titfeld, Neudorf, Merols, Frechen, Höhr und Grenzhausen. Ein Beitrag zur Geschichte des Kunsthandwerkes am Niederrheine. Heberle, Köln 1873.

Rother, A. : Ergebnisse der chemischen Analyse von Steinzeug aus dem Rheinland. TT – Results of the chemical analysis of stoneware from Rhineland, 1992 Berliner Beiträge zur Archäometrie

https://en.wikipedia.org/wiki/Titanium_dioxide

Berg, Ina: Looking through pots: recent advances in ceramics X-radiography, 2008 Journal of Archaeological Science

https://www.dsm.museum/en/research-and-science/research-projects/digital-materialities-virtual-and-analogue-forms-of-exhibition

https://www.iwm-tuebingen.de/www/en/forschung/projekte/projekt.html?name=DigiMat

https://www.uni-bremen.de/mapex/aktuelles/news/maritime-materialien-museal-erfahrbar-machen-pressemitteilung-deutsches-schifffahrts-museum-von-thomas-joppig

Bildquellen

Siegburger Kanne: Archäologisches Museum Hamburg, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=21059040

Alle anderen Visualisierungen: Pia Götz, MAPEX Bremen, piagoetz@uni-bremen.de

erstellt mit

Visualisierungs-Software: Dragonfly ORS 2021.3 – https://www.theobjects.com/index.html