Anne Applebaum beschäftigt sich in ihrer Publikation „The Red Famine – Stalin’s War on Ukraine“ mit einem Ereignis, das bis heute eine Zensur in der Geschichte der Ukraine ausmacht – dem Holodomor 1932/33. Übersetzt man zu Deutsch, so spricht man vom „Tod durch Hunger“. In der Literatur wird bis heute über dessen Kategorisierung diskutiert. Jedoch herrscht Unklarheit, ob man es als einen Genozid einstuft, oder ob man von einem Produkt der sowjetischen Misswirtschaft in der Landwirtschaft und der Gleichgültigkeit der Bolschewiki gegenüber dem Schicksal der Bauern spricht. Unabhängig von diesen Definitionsfragen markiert der Holodomor schmerzhaft für das kollektive Gedächtnis der Ukraine einen Grundstein für ein nationalidentitäres Narrativ – Sowjetunion gegen die Ukraine; bzw. der gezielte Versuch Stalins, die Ukraine auszuhungern. So schreibt auch Applebaum: „The famine and its legacy play an enormous role in contemporary Russian and Ukrainian arguments about their identity, their relationship and their shared Soviet experience“.

Die Journalistin und studierte Historikerin schrieb für die Washington Post, aber auch Gazeta Wyborcza, The Independent und andere renommierte Zeitschriften. Zudem ist sie Professorin an der London School of Economics und Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University und Mitglied des Kuratoriums der Johns Hopkins University. Für ihr 2003 veröffentlichtes Werk „Gulag – A History“ erhielt sie ein Jahr später den Pulitzer Preis.

Bei ihrer Recherche über die Hungersnot stützt sich Applebaum auf Zeitzeugeninterviews, Briefe und weitere persönliche und öffentliche Dokumente, von denen einige erst nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 in ukrainischen und ehemals sowjetischen Archiven öffentlich zugänglich wurden. Es ist wichtig zu bemerken, dass sie sich nicht nur auf die Jahre 1932/33 konzentriert, sondern einen historisch unüblich weitgefassten Rahmen wählt, um zu einem tieferen Verständnis des Holodomor aus ukrainischer Perspektive zu gelangen.

Im ersten Teil des Buches befasst sich Applebaum mit der Ukraine als Nation und ihrer Identitätsbildung. Sie beschreibt eine starke Verbindung der ukrainischen Sprache mit der Landbevölkerung, greift unter anderem auch den Dichterkult Tschewtschenkos; aber auch den nationalpolitischen Kult um Hrushevsky auf und zieht ihre Analyse der ukrainischen Identität bis in die Zeit der Kiewer Rus‘, des polnisch-litauischen Commonwealth im sechzehnten Jahrhundert und des Zarenreichs zurück (Ab dem neunten Jahrhundert, beginnend mit der Kiewer Rus, bis in das Jahr 1917).

Hierbei behauptet Sie, dass Ukrainer/innen ab dem Mittelalter eine geteilte Identität, oft auch in Abgrenzung zu Besatzern besaßen. Diese Formulierung erscheint sehr simpel im Vergleich zu der Komplexität der Nationsbildung der Ukraine. Die Verortung der Ukrainischen Nation oder Traditionen, die als konstituierende Vorgänger dieser fungierten, ist eine weitaus komplexere Frage. Applebaum geht auf den Gründungsmythos des Kosakentums nur sehr peripher ein; nennt die Kiever Rus‘ ebenfalls kurzgefasst und letztlich geht sie mehr auf die Kolonisation der Ukraine durch Polen, Russland und Österreich-Ungarn ein.

Unterschiedliche Gruppen und Interessen in den gesellschaftlichen Hierarchien waren nicht per se einheitlich unter einem Ukrainischen Narrativ vereint, das sich gegen alle außenstehenden Nationen richtete, wie es durch Applebaums Formulierung erscheint. In Ostgalizien unter Habsburger Herrschaft forderte die Frage nach Identität eine Entscheidung zwischen der Zugehörigkeit zu Ruthenien, der Ukraine oder Russland. Auch in Russland selbst gab es Ideen einer ukrainischen Nation, die der Idee der „Kleinrussen“ gegenüberstanden, verbunden mit politischen Sympathien für das jeweilige Land. Nachdem sie den einheitlichen Charakter der ukrainischen nationalen Identität hervorgehoben hat, erwähnt Applebaum diese in dem Land vorherrschende Dichotomie, geht aber nicht näher darauf ein.

Die Betonung, die Applebaum auf die Ukraine als bäuerliches Volk legt, ist nachvollziehbar. Offen bleibt, inwieweit sich die Landbevölkerung tatsächlich mit einer ukrainischen Identität, sowie Sprache identifizierte und dies politisch zum Ausdruck brachte. So behauptet Applebaum, dass die ukrainische Nationalbewegung durch die „Wiederbelebung“ der ukrainischen Sprache Unterstützung in der Bauernschaft fand. Applebaum behandelt diesen Aspekt an dieser Stelle nicht direkt. Ihre anschließende Darstellung der ukrainischen Revolution ab 1917 beschreibt jedoch auch eine Politisierungstendenz der Landbevölkerung in der Ukraine. Dabei beantwortet sie indirekt die vorherige Frage, indem sie das Hauptinteresse der Landbevölkerung, nämlich den Landbesitz, nennt, nicht die nationalidentitäre Zugehörigkeit. An weiterer Stelle, als sie die kurzzeitige Machtergreifung Petliuras umschreibt, nennt Applebaum wiederholt das erneute Aufleben der ukrainischen Sprache durch ein temporäres Verbot der Russischen Sprache in Kiew.

Jene nationalistische Sichtweise führt sich auch in ihrer Darstellung der Kriegsverbrechen und antisemitischen Pogrome in der Ukraine fort. Franziska Davies, Ost-Europa Historikerin, beschreibt es in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung wie folgt: „Nicht erwähnt werden von Applebaum die Massenpogrome, die zu einem erheblichen Teil Ukrainer kurz nach dem deutschen Einmarsch in der heutigen Westukraine im Jahr 1941 an ihren jüdischen Nachbarn verübten, denen sie Kollaboration mit der gerade abgezogenen Sowjetherrschaft vorwarfen “.

Applebaum behauptet zu Recht, dass alle Seiten im Bürgerkrieg in der Ukraine Pogrome verübt haben, weist aber jede weitere Untersuchung der Verantwortung für die Pogrome als „Rosinenpickerei“ zurück. Allerdings betreibt Applebaum hier selbst „Rosinenpickerei“. Sie bevorzugt die niedrigste Schätzung der Zahl der Pogromopfer von 50.000. Diese Zahl stammt von dem Pogromforscher Naum Gergel. Sie erwähnt nicht, dass seine Forschungen auch ergaben, dass Truppen der Ukrainischen Volksrepublik für etwa 40 Prozent der Pogrome verantwortlich waren und ihre Pogrome im Durchschnitt mörderischer waren als die der weißen Armee und der Bolschewiki.

Auch kritisch zu betrachten ist ihre Behauptung, dass „in der Stadt Proskuriv (heute Chmelnyzkyj) ein von den Bolschewiki angezettelter Aufstand im Laufe von zwei Tagen zum Tod von 1.600 Menschen führte“. Dies ist eine Verschleierung der Identität sowohl der ukrainischen Täter als auch der jüdischen Opfer des berüchtigtsten und blutigsten ukrainischen Pogroms jener Zeit, denn der Slogan der einmarschierenden Armee lautete wie folgt: „Tötet die Juden, und rettet die Ukraine “.

Den schon vor dem zweiten Weltkrieg verwurzelten ukrainischen Antisemitismus in dieser Publikation nicht tiefer zu examinieren scheint eine Lücke in der Betrachtung der gesellschaftlichen Dynamiken zu bilden, zumal es beispielsweise verstärkt das antisemitische Narrativ gab, die Juden seien für die Hungersnot verantwortlich. Applebaum greift dies lediglich peripher auf und porträtiert es im Rahmen nationalsozialistischer u.o. bolschewistischer Propaganda.

Davies zufolge bleibt auch die Kollaboration ukrainischer Faschisten mit den NS-Truppen und die Ermordung von Hunderttausenden Polen in Wolhynien in der heutigen Nordwestukraine, durch die sogenannte UPA (Ukrainische Aufstandsarmee) zwischen 1943 und 1945, unerwähnt. Auch Aussagen wie: „The collaboration of some Ukrainians with the Nazis“ unterstreichen eine gewisse Fahrlässigkeit in Applebaums Umgang mit der Thematik der Kollaboration. Hierbei spricht sie sich zwar zurecht auch gegen historische Literatur aus, die die Ukraine zur Zeit des Zweiten Weltkrieges aufgrund der Kollaboration als „faschistisch“ bezeichnet, doch fragt sich inwieweit hier ihre eigene Stellungnahme zum Vorschein gelangt, oder weshalb sie sich an dieser Stelle nicht an einen neutraleren Ausdruck gehalten hat.

Die Kritik der unerwähnten Pogrome, der mangelnden Auseinandersetzung mit dem ukrainischen Antisemitismus und Massakern ist nach genauer Betrachtung als legitim anzusehen. Applebaum erwähnt jedoch an diesen zuvor bemerkten Stellen meistens, dass eine tiefere Investigation den Rahmen sprengen würde. Man könne hier argumentieren, dass sie sich selbst diesen großen Rahmen vorgenommen hat und sich die teleologische Ausrichtung ihres Werkes verschieben würde, sobald sie von ihrem Narrativ abweichen würde. Es ist nun mal der Versuch Applebaums ein positives ukrainisches Narrativ zu kartographieren, und Abschweifungen kritischer Natur gegenüber der Rolle der ukrainischen Bevölkerung konstituieren weder Applebaums Schwerpunkt, Expertise noch Ziel ihrer Publikation.

Fahren wir in der Betrachtung des Werkes fort, so gelangen wir zum Herzstück der Publikation; der Hungersnot. Den Kern der ersten Hungersnot in den 1920er Jahren sieht Applebaum in der bolschewistischen Etablierung des War Communism in der Ukraine, der laut Autorin 1918 in das Land Einzug fand, und die Militarisierung aller ökonomischen Beziehungen bedeutete, einschließlich der Kontrolle über den Weizen der Ukraine. Sie schreibt: „[…], the Bolsheviks assumed that the exploitation of Ukraine was the price that had to be paid in order to maintain control of Russia “.

Ende der 1920er Jahre gab die Sowjetunion die Neue Ökonomische Politik zugunsten von Kollektivierung, Requirierung und Dekulakisierung auf. Die Bolschewiki wollten die Bauern zwingen, sich den Kolchosen anzuschließen. Sie verhängten Getreidequoten, mit deren Erträgen das industrielle Wachstum durch Exporte finanziert werden sollte. Beschlagnahmungsbrigaden zogen in die Dörfer, um die Erzeugnisse zu konfiszieren, und setzten Gewalt ein, um Widerstand zu überwinden. Damit einher ging eine Kampagne zur Liquidierung der sogenannten Kulaken, der vermeintlich reicheren Bauern. Die als Kulaken bezeichneten Bauern verloren ihre Höfe und wurden in die Peripherie der Sowjetunion verbannt, in der der Boden schlechte Anbaubedingungen bot.

Die Bauern wehrten sich und griffen dabei auf Methoden zurück, die von Gewalt bis zum Horten von Nahrung reichten. Allein im März 1930 registrierte man zweitausend Massenproteste in der Ukraine. Somit verschlimmerte sich die Krise in der sowjetischen Landwirtschaft, die wiederrum zu einer weit verbreiteten Unterernährung in vielen Teilen der Sowjetunion führte. Stalin, der die nicht erfüllten Getreidequoten der Präsenz Ukrainischer Nationalisten innerhalb der Ukrainischen Kommunistischen Partei zuschrieb, sah den fünf Jahres Plan nicht in Erfüllung gehen und befand sich in einer prekären Situation, was die Sicherstellung seiner Macht betraf.

Was jedoch nicht von Applebaum erwähnt wird ist die Möglichkeit der Bauern die kollektiven Farmen zu verlassen, sofern sie zum Eintritt gezwungen wurden (Auch im Zusammenhang mit dem Narrativ Stalins, lokale Ukrainische Akteure als Sündenböcke dazustellen). Diese, vorsichtig ausgedrückt, „Emanzipierung“ und gute Wetterbedingungen führten im Jahre 1930 zu einer Rekordernte. Plokhy beschreibt es als: „[…] victory for the peasantry and a defeat for collectivization […].“ Laut Plokhy war dies aus Stalins Sicht Grund genug die späteren schlechteren Quoten als Lüge abzuschreiben und den Bauern das Verstecken ihrer Ernte vorzuwerfen; was dann mit einer härteren Kollektivierung einherging. Weitere Maßnahmen (Bspw.: Kollektive Farmen die auf Blacklists gesetzt werden konnten, sofern sie nicht die Quoten erfüllten. Geschlossene Grenzen in der Ukraine, um privaten Handel von Nahrung auszuschließen und Abwanderung zu verhindern) Stalins festgehalten im Dekret „Über die Beschaffung von Getreide in der Ukraine, im Nordkaukasus und in der westlichen Region“ vom 14. Dezember 1932, führten letztlich zu der heute als Holodomor bekannten Hungersnot. Am meisten betroffen waren Regionen südlich von Kiew, in denen es schon zu Beginn der strikteren Kollektivierung kein Getreide mehr einzutreiben gab.

Mark Tauger, Geschichtsprofessor and der Universität West Virginia, kritisiert an dieser Stelle Applebaums Zitierung Stalins über die mechanisierte Landwirtschaft. Die Autorin schreibe das Vorhaben als ‚sowjetischen Wissenschaftskult‘ ab, ohne anzuerkennen, dass die sowjetische Führung versuchte die amerikanische Landwirtschaft nachzuahmen (Jene war noch stärker mechanisiert und wissenschaftlich fundiert).

Somit, schlussfolgert Tauger, ziehe Applebaum nicht in Betracht, dass die Missernten dazu beigetragen haben könnten, die sowjetische Führung in der Modernisierungsfrage ihrer Agrarkultur zu beeinflussen. Ihm fehle an dieser Stelle auch die Erwähnung des VASKhNiL, der zentralen Forschungsakademie für Agrarkultur; die andere Ziele verfolgte, als; so Tauger über Applebaum’s Aussage; ‚die Bauern für die Industrie auszuquetschen‘. So war die Modernisierung der Landwirtschaft ein zentrales Thema auf den Plenarsitzungen des Zentralkomitees von 1928, dem Applebaum keine Beachtung schenkt.

Im Zweiten Teil werden ich mich weiteren kritischen Stimmen widmen und mein persönliches Fazit zum Buch präsentieren.