Applebaum beschreibt die Hungersnot dennoch detailliert, auch mit Hilfe von Interviews, privaten Korrespondenzen und Memoiren. Timothy Snyder, ein US-amerikanischer Historiker mit Schwerpunkt auf Geschichte Mittel- und Osteuropas, schreibt in der Washington Post: „Her account will surely become the standard treatment of one of history’s great political atrocities.“ Plokhy und Applebaum sind sich über die Auswirkungen der Hungersnot auf die Ukraine einig, was in Plokhys Veröffentlichung „The Frontline“ wie folgt zum Ausdruck kommt: „The December 1932 decree turned Stalin’s all-Union ‚grain-extraction‘ campaign into a direct assault on the Ukrainian political elite and the cultural foundations of Ukrainian nation-building, thereby distinguishing the famine in Ukraine from that in other parts of the USSR.“ Plokhy lobt ebenso die Hartnäckigkeit Applebaums auf diese Einzigartigkeit der ukrainischen Situation aufmerksam zu machen. Hierbei ziehe sie sehr detailliert die Stärke des ukrainischen Nationalismus und den bäuerlichen Widerstand gegen das kommunistische Regime in Moskau heran. Ein Charakteristikum Ihrer Publikation, das von anderen Stimmen, wie zum Beispiel Mark Tauger, eher kritisch angemerkt wird, da das Werk Potential gehabt hätte, tiefer auf weitere Einflussfaktoren und Erklärungen der Hungersnot einzugehen.
Ebenfalls könne man an dieser Stelle Applebaums Vorgehen, die Hungersnot geografisch zu verorten kritisieren. Sie schreibt im Abschnitt „Borders“ über das Ende des Hungers mit dem Beginn des russischen Territoriums. Hierbei zitiert sie aus einem Sammelband ukrainischer Schriftsteller/innen herausgegeben von Michael Browne „Ferment in the Ukraine“ aus dem Jahre 1971. In dem Zitat geht es um eine Region „direkt hinter Kharkiv“. Nun stellt sich die Frage, welche Region genau gemeint ist, und weshalb Applebaum erst am Ende des Buches im Kapitel „Aftermath“ die Auswirkungen der Hungersnot 1932/33 in Kazakhstan lediglich kurz anmerkt.
Eine weitere Kritik, die man auf die Memoiren über die Hungersnot bezogen anführen kann, stammt von Sheila Fitzpatrick, eine der ersten Kommentatorinnen zum Werk von Applebaum im Guardian. Sie merkt an, dass viele dieser Berichte aus den Archiven des Ukrainischen Instituts für Nationale Erinnerung stammen, welches laut Fitzpatrick auch politisch eine klare Agenda führt. Dennoch betont Fitzpatrick, dass Applebaum definitiv keinen unkritischen, rein an der ukrainischen Erinnerungskultur orientierten, Bericht der Hungersnot präsentiert.
Im Kern schließt sich Applebaum Terry Martin’s Idee der nationalen Interpretation der Hungersnot an. Sie verweist in Ihrem Werk auf sein Argument, dass die Hungersnot im sowjetischen Kurs gegen die Bauern wurzelt, welcher im weiteren Verlauf in die Nationalitätspolitik des Regimes integriert wurde. Ebenfalls im Einklang mit dem historischen Mehrheitsdiskurs führt Applebaum die Zahl der Opfer der Hungersnot an, die auf 4,5 Millionen geschätzt wird. Besonders lobenswert ist hierbei auch die ausführliche Art und Weise, mit der Applebaum durch Erläuterung der historischen Zählungen inkl. Bedingungen und damit verbundenen Problematiken an die Todesopferzahl heranführt.
Die daran anschließenden Kapitel „The Cover Up“ und „The Holodomor in History and Memory“ bezeichnet Fitzpatrick, als exzellent und als die Interessantesten für Akademiker/innen. Hier behandelt Applebaum die Versuche der Sowjetunion, vor allem Stalins, die Hungersnot zu verharmlosen und die Verantwortung von sich abzuschieben und die post-sowjetische ukrainische Aufarbeitung der Thematik. Sie befasst sich hierbei auch mit der relativ jungen Generation ukrainischer Intellektueller nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1985, die die Autorität und Legitimität des sowjetischen Systems in Frage zu stellen wagten, insbesondere dessen toxische Industriepolitik und berüchtigte Geheimhaltung. Dazu gehörte auch eine „Wiederentdeckung“ des Holodomor.
Das Werk schließt im Kapitel „The Ukrainian Question Reconsidered“ mit einer Diskussion Applebaums über die Einstufung des Holdomor als Genozid. Hierbei herrscht Uneinigkeit von Seiten der Kritik über Applebaums Behandlung der UN-Völkermordkonvention über die Begriffsdefinition des Genozids. Zuerst stellt sie zurecht fest, dass es sich bei einem Genozid mehr um eine legale und moralische, als eine historische Kategorie handelt. Interessant ist auch die unterschiedliche Interpretation von Seiten der Kritik. Fitzpatrick beispielsweise bezeichnet Applebaums Meinung als differenziert und nicht per se in Einstimmung mit der Einstufung als Genozid.
Überraschender Weise sprach sich Applebaum auf Facebook persönlich gegen diese Interpretation aus, und positionierte sich für die Bezeichnung des Holodomor als Genozid. Sie sieht lediglich eine Problematik in der UN-Konvention für eine legale Durchsetzung des Begriffes. Applebaum behaupte, dass die Hungersnot perfekt in die ursprüngliche Definition von Völkermord passe, wie sie von dem Rechtswissenschaftler Raphael Lemkin aufgestellt wurde.
Damit eine Handlung als Völkermord gilt behauptet die Autorin, dass die UN-Völkermordsdefinition die Absicht, alle Mitglieder einer ethnischen Gruppe zu töten, voraussetzt. Die UN-Konvention selbst beschreibt Völkermord jedoch ausdrücklich als „Handlungen, die mit der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“[2]. Somit wird klar, dass Völkermord auch „nur“ an einem Teil einer Gruppe begangen werden kann, um gesetzlich anerkannt und verurteilt zu werden. Hierzu äußert sich Applebaum nicht und es bleibt offen, weshalb sie sich dazu entschieden hat, dieses wichtige Detail nicht in ihre Betrachtungen miteinzubeziehen. Man könnte jedoch argumentieren, dass sie dies aufgrund ihrer Argumentation gegen die Sowjetunion bzw. russische Propaganda getan hat. Denn in diesem Textabschnitt geht sie auch auf die teilweise erfolgreichen Versuche der Sowjetunion ein, aktiv die Definition der UN-Konvention zu beeinflussen. Doch hat dieser Fakt nicht viel mit der Kategorisierung zu tun, die, wie wir gesehen haben, auch laut UN legitim wäre.
[2] Übereinkommen über die Prävention und Bestrafung des Verbrechens des Völkermords – Genehmigt und zur Unterzeichnung und Ratifizierung oder zum Beitritt vorgeschlagen durch die Resolution 260 A (III) der Generalversammlung vom 9. Dezember 1948 – Inkrafttreten: 12. Januar 1951, in Übereinstimmung mit Artikel XIII.
Das Buch „Red Famine – Stalin’s War on Ukraine“ von Anne Applebaum nimmt definitiv eine bedeutende Rolle in der heutigen Zeit ein und trägt zur Diskursverbreitung und Erforschung des Holodomors bei. Es leistet seinen Beitrag, das Bewusstsein für dieses tragische Ereignis zu schärfen und trägt zu einer breiteren Diskussion über die sowjetische Politik und die Leiden der ukrainischen Bevölkerung bei. Applebaums gründliche Recherche und ihre Fähigkeit, verschiedene Quellen zu nutzen, machen das Buch zu einer wichtigen Ressource für Forscherinnen und Forscher, die sich ausführlicher mit dem Holodomor auseinandersetzen möchten.
Dennoch gibt es Stellen, die widersprüchlich erscheinen, Quellen deren Ursprung man genauer untersuchen müsste, Details die von Applebaum nicht genauer betrachtet werden und einen Bias der Autorin, der sich stark auf der Seite der Ukraine verorten lässt. Wie mit diesem Artikel deutlich wurde wurzelt dieser zum Teil in den verwendeten Quellen des Ukrainian Research Centres, aber vermutlich auch an der ideologischen Sphäre in der sich die Autorin befindet, wenn man ihr akademisches und privates Umfeld genauer betrachtet (Plokhy; Das Ukrainian Research Centre Harvard oder ihr Mann, ehemaliger polnischer Außenminister. Alles auch sehr EU und Ukraine lehnende Instanzen in ihrem unmittelbaren Umfeld). Umso wichtiger erschien mir an dieser Stelle die Arbeit mit der Kritik, um andere Perspektiven und kritische Einschätzungen zu berücksichtigen, und damit zu einem umfassenderen Verständnis dieses historischen Ereignisses und Applebaums Werk zu gelangen. Die dabei kritischste Stimme ist mit Abstand Mark Tauger zuzuschreiben. Aufgrund der Länge seines Artikels konnte ich nur einige seiner Punkte in den Blog integrieren, doch ist seine Kritik durchaus lesenswert, gut durch Literatur gestützt und wäre potentiell eine individuelle Betrachtung im Rahmen eines weiteren Artikels wert. Er sieht Applebaums Werk sehr kritisch im ukrainischen nationalistischen Narrativ verankert und findet ihre Arbeitswese bezüglich Zitierungen und Literaturangaben mangelhaft, oft behauptet er auch Widersprüche und fehlende Belege auf Seiten der Autorin gefunden zu haben.
Die weiteren genannten Kritiker/innen (Plohky, Davies, Fitzpatrick und Snyder) sind gegenüber der Publikation Applebaums definitiv positiver gestimmt und würden das Werk in die Sparte einer gelungen Public History Publikation einordnen, die doch eine bemerkenswerte Tiefe erreicht. Laut ihnen präsentiert Applebaum erfolgreich ihr zentrales Argument: Stalin nutzte die Hungersnot nicht nur, um Ukrainer/innen zu töten, sondern auch, um die ukrainische Nationalbewegung zu zerstören, die er als Bedrohung für die Sowjetmacht ansah, und um die Idee der Ukraine als unabhängige Nation für immer zu vernichten. Es wurde durch die Kritikbetrachtung besonders deutlich, dass Applebaums gewählter historischer Rahmen der Ukraine bemerkenswert und ambitioniert versucht einen Bogen in die Gegenwart zu ziehen, aufgrund seiner Größe aber auch selektive oder zufallsbedingte Lücken aufweist. Meine persönliche Positionierung findet sich wohlbemerkt in der Mitte der in diesem Blogbeitrag präsentierten Kritik. Doch stimme ich letzteren Kritiker/innen zu, dass Anne Applebaum ein äußerst ausführliches Werk publizierte, welches Potential zu einem Standardwerk besitzt. Dennoch darf man nicht den Fakt ignorieren, dass sie primär eine Journalistin ist und das Werk dementsprechend von akademischen Publikationen zu unterscheiden ist.
QUELLEN
Alexander, Yonah; Myers, Kenneth (2015). Terrorism in Europe – Routledge Library Editions: Terrorism and Insurgency. Routledge Publishing, New York.
Applebaum, Anne (2017). Red Famine Stalin’s War on Ukraine. First Anchor Books Edition. Penguin Random House LLC, New York.
Davies, Franziska (2020). Als in Stalins Reich Millionen Menschen verhungerten. https://www.sueddeutsche.de/politik/stalin-ukraine-1.4752620
Fitzpatrick, Sheila (2017). Red Famine by Anne Applebaum review – did Stalin deliberatley let Ukraine starve? The Guardian: https://www.theguardian.com/books/2017/aug/25/red-famine-stalins-war-on-ukraine-anne-applebaum-review
Gergel, Nahum. „The pogroms in the Ukraine in 1918–21“ in YIVO Annual of Jewish Social Science, 6 (1951).
Plokhy, Serhii (2021). The Frontline – Essays on Ukraine’s Past and Present. Harvard University Press.
Snyder, Timothy (2017). The deliberate starvation of millions in Ukraine. The Washington Post: https://www.washingtonpost.com/outlook/the-deliberate-starvation-of-millions-in-ukraine/2017/11/03/0999f2d0-b8bb-11e7-be94-fabb0f1e9ffb_story.html
Tauger, Mark (2006). “Stalin, Soviet Agriculture, and Collectivization,” in Trentmann and Just, eds., Food and Conflict in Europe in the Age of the Two World Wars, New York.
Tauger, Mark (2018). Review of Anne Applebaum’s „Red Famine: Stalin’s War on Ukraine“. History News Network, Columbian College of Arts & Sciences, The George Washington University: https://historynewsnetwork.org/article/169438