Vor wenigen Tagen wurde der Friedensnobelpreis im Osloer Rathaus verliehen. Zu den Preisträger*innen gehört die ukrainische Menschenrechtsorganisation „Zentr Hromadjanskych Swobod“ (Zentrum für bürgerliche Freiheiten), die aktuell die Aufgabe verfolgt, die durch russische Truppen in der Ukraine begangenen Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Stellvertretend für ihren inhaftierten Mann nahm zudem die Ehefrau des belarusischen Rechtsanwalts Ales Bjaljazki den Preis entgegen. Bjaljazki ist Mitgründer der NGO „Viasna“ (Frühling), welche sich seit Ende der 90er für politische Gefangene in Belarus engagiert. Außerdem ausgezeichnet wurde die mittlerweile in Russland verbotene Organisation Memorial, die sich seit der Perestroika-Zeit gegen das Vergessen stalinistischer Verbrechen einsetzt.

Am 7. Oktober 2022, Putins 70. Geburtstag, war die Auswahl bereits bekannt gegeben worden. Auch wenn das Komitee betonte, dass der Zusammenfall mit dem Geburtstag des russischen Präsidenten ein Zufall sei, wirkte es doch wie keiner. Die ausgezeichneten Organisationen und Personen setzen sich für Menschenrechte ein, die aufgrund des Regimes Putins in Gefahr sind: Gegen die Ukraine führt Russland seit Februar einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, in Belarus ermöglichte die Unterstützung des Sicherheitsapparats durch Moskau die Niederschlagung der friedlichen Proteste 2020 und in Russland selbst werden abweichende Meinungen durch massive Repressionen im Keim erstickt.

Ich fand die Auszeichnung großartig – ein Zeichen, das Menschenrechtler*innen dieser drei Staaten im Kampf gegen Putins aggressive Hegemoniebestrebungen im postsowjetischen Raum in die Öffentlichkeit rückt. Daher war ich überrascht, als ich las, dass führende ukrainische Politiker*innen die gemeinsame Würdigung scharf kritisierten. Mychajlo Podoljak, Berater im Präsidentenbüro, äußerte via Twitter: „Das Nobelpreiskomitee hat eine interessante Auffassung des Wortes ,Frieden‘, wenn den Friedensnobelpreis zusammen Vertreter zweier Länder erhalten, die ein drittes überfallen haben.“ Seine Kritik ging noch weiter: Belarusische und russische Oppositionelle hätten nicht genug getan, um den Krieg gegen die Ukraine zu verhindern.

Bjaljazki sitzt wie viele andere belarusische Aktivist*innen aktuell in Minsk im Gefängnis. Viasna kann aufgrund einer Einstufung als “extremistische” Organisation durch das belarusische Regime nur im Untergrund und aus dem Exil agieren. Im Rückblick erscheint das Verbot Memorials Ende 2021 als strategischer Schritt in Richtung des Angriffskrieges gegen die Ukraine. Es bedeutete die Ausschaltung einer der letzten kritischen Stimmen in der russischen Öffentlichkeit. Trotz ihrer eindeutig gegen das belarusische und russische Regime gerichteten Aktivitäten werden die Preisträger*innen in dieser Stellungnahme als stellvertretende Institutionen ihrer Herkunftsstaaten interpretiert, in welchen sie offiziell nicht einmal mehr die Berechtigung besitzen zu existieren. Ich wollte die überwiegend negative Aufnahme der Preisvergabe in der Ukraine besser verstehen und habe deshalb mit meiner Kommilitonin Alona, die aus dem Osten der Ukraine stammt und die Diskurse in den ukrainischen Medien und in der Politik verfolgt hat, gesprochen.

Sie berichtete mir, dass der erste Friedensnobelpreis für die Ukraine als solcher durchaus positiv wahrgenommen wurde, die gleichzeitige Vergabe des Preises an russische und belarusische Preisträger*innen die Freude hierüber aber getrübt habe. Die gemeinsame Auszeichnung Belarus´, der Ukraine und Russlands spiegelt ihrer Meinung nach die westliche Sicht auf die Region wider, aus welcher die drei Staaten immer noch als eine Einheit gedacht werden: „Wenn man über die Ukraine redet, müssen Belarus und Russland auch immer dabei sein. Dieser Mythos der drei brüderlichen Nationen ist der Grund dafür, dass dieser Krieg angefangen hat.“ Die Vergabe des Friedensnobelpreises wurde als Teil der so oft erlebten Verallgemeinerung des postsowjetischen Raumes empfunden, die der Ukraine nicht gerecht wird. „Wenn man hier über Osteuropa spricht, denkt man sofort an Russland. Im Kopf vieler Westeuropäer*innen ist Russland weiterhin der große Bruder und alle anderen Länder sind kleine Brüder.“

Zudem wurde kritisiert, dass Russland zum zweiten Mal seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine 2014 den Friedensnobelpreis erhalten habe – und nun sogar in Zeiten der Großinvasion. Auch wenn die Auszeichnung nicht an Länder vergeben wird, sondern an Menschen und Vereinigungen, die sich um Frieden bemühen, glaubt Alona, dass der Preis eine Symbolkraft innehat, die mit den Herkunftsländern der Preisträger*innen zusammenhängt. Es ginge hierbei nicht darum, dass man gegen die ausgezeichneten Organisationen sei. Aber in Kriegszeiten einen Preis an Russland zu vergeben, erkenne nicht an, was gerade in der Ukraine passiert.

Alona erklärt: „In dieser Zeit betrachten es viele Menschen in der Ukraine als ein starkes Symbol. Der Preis wird nicht nur an eine bestimmte Organisation vergeben, sondern an eine bestimmte Organisation aus Russland.“ Sie sieht dahinter auch das Narrativ, dass es sich bei dem Krieg gegen die Ukraine eben nicht um einen russischen Krieg, sondern um den Krieg Putins handelt, was sie für falsch hält. Nur eine Minderheit in Russland sei gegen den Krieg und es sei eine westliche Wunschvorstellung, dass es eine große Anzahl von Anhänger*innen einer Opposition gebe. Ihrer Meinung nach stellt die Auswahl an Preisträger*innen eine nach dem Krieg durchaus denkbare Option dar, aber in der aktuellen Situation sei es eine falsche Entscheidung gewesen: „Es steckt ja schon im Namen: Preis des Friedens. Diese zwei Länder bringen aktuell keinen Frieden in die Welt, sie machen genau das Gegenteil. Auch wenn es um Organisationen geht, die gegen das Regime kämpfen, finde ich es jetzt zu diesem Zeitpunkt falsch.“

Der Diskurs um die Friedensnobelpreisvergabe weckte meine Erinnerung an einen anderen Moment. Im August hatte ich an der belarusischen Exiluniversität EHU in Vilnius eine Summer School besucht. Hier sprach unter anderem ein belarusischer Sozialwissenschaftler, der momentan im Exil in Tallinn lebt. Gemeinsam mit einer ukrainischen Kollegin hatte er zu russischer Propaganda bezüglich Covid-19 in der Ukraine und Belarus geforscht. Er berichtete uns, dass seine Anwesenheit auf einer ukrainischen Summer School, die wegen des Krieges nach Estland verlegt worden war, von ukrainischer Seite diskutiert wurde. Hierbei kam die Frage auf, ob seine Teilnahme als Belaruse – trotz seiner offensichtlich oppositionellen Einstellung – in der aktuellen Situation angemessen sei. Er selbst kommentierte dies indem er betonte, dass die Gefühle der Menschen aus der Ukraine aufgrund ihrer Situation Vorrang hätten.

Vom Vorwurf, die belarusische Unterstützung des Krieges gegen die Ukraine nicht verhindert zu haben, hörte ich zudem von einem Aktivisten aus Minsk. So hätten ihn Verwandte aus der Ukraine gefragt, warum die Menschen in Belarus nichts tun würden, um gegen die Mittäterschaft seines Landes am Krieg vorzugehen. Eindrücklich berichtete er, der selbst die Proteste 2020 unterstützt hatte und dessen NGO im Zuge Lukaschenkas repressiver Politik verboten worden war, wie hart ihn diese Vorwürfe trafen. Statt offenen Widerstand zu leisten, könne er sich genauso gut direkt ins Gefängnis begeben – so beschrieb er die aktuelle Situation in Belarus.

Unter diesem Eindruck wollte ich von Alona wissen, ob es in der Ukraine einen Diskurs gibt, in welchem belarussischen und/oder russischen Oppositionellen ein Nichtverhindern des russischen Angriffskrieges vorgeworfen wird. Sie berichtete mir von Kommentaren zu Videos und Nachrichten im Internet, in denen Menschen aus Belarus durchaus Vorwürfe gemacht werden, da auch von ihrem Territorium aus Angriffe auf die Ukraine ausgeführt wurden. Alona meint aber, man müsse die Situation, in der sich die Menschen in der Ukraine befinden, berücksichtigen und daher für solche Äußerungen Verständnis aufbringen. „Ich finde es nicht schön, dass Menschen so etwas anderen vorwerfen, aber sie sind physisch und psychisch stark belastet. Von hier aus können wir nicht verstehen, wie schwierig ihre Situation ist.“ Dass die meisten Menschen in Belarus das Regime Lukaschenkas nicht unterstützen, hätten die Proteste 2020 ja deutlich bewiesen und dies sei sicher auch einem Großteil der Menschen in der Ukraine bewusst.

Insgesamt steht die Diskussion über Belarus ihrer Einschätzung nach aber auch nicht im Vordergrund. Gegenüber Russland kann Alona verstehen, dass die Menschen in der Ukraine unter dem Eindruck des Krieges müde werden, zwischen „guten“ und „schlechten“ Russ*innen zu unterscheiden. Zum Teil belaste es sie auch selbst emotional diese Differenzierung im Kopf vorzunehmen. Sie wünscht sich, dass „das alles einfach bald vorbei ist“. Gleichzeitig ist ihr aber bewusst, dass aufgrund der Folgen des Krieges und der gemeinsamen Grenze mit Russland auch ein Ende der Kampfhandlungen kein schnelles Ende des Konfliktes bedeuten wird.

Neben Oleksandra Matwijtschuk, der Vorsitzenden des Zentrums für bürgerliche Freiheiten, und Bjaljazkis Ehefrau nahm Jan Ratschinski als Vorsitzender den Preis für Memorial in Oslo entgegen. Kritisch hinterfragte er selbst in seiner Ansprache die Auswahl seiner Organisation. Er erklärte, dass Memorial viel getan habe, „aber hat unsere Arbeit die Katastrophe vom 24. Februar verhindert?“

Für mich bleibt die Frage, ob die Verleihung des Friedensnobelpreises an die drei Preisträger*innen im Schatten des russischen Angriffskrieges als gerechtfertigt zu werten ist oder das westliche Unverständnis für die Region in der aktuellen Wirklichkeit widerspiegelt, offen. Der Diskurs und das Gespräch mit Alona verdeutlichten mir aber, welche gedanklichen Fronten der Krieg gegen die Ukraine zwischen Menschen einzig aufgrund ihrer Nationalitäten bereits aufgebaut hat.