Von Christoph Kulmann und Greta Sondej
(aktualisiert: 28.11.2021)
Foraminiferen (früher auch Kammerlinge genannt) sind Einzeller, die in der Regel ein vielkammeriges Gehäuse besitzen, welches je nach Art unterschiedlich gebaut sein kann. Diese sind die Stars im Projekt FORAREX (FORAminifera Rocket EXperiment), in welchem wir deren Verhalten und Schalenwachstum unter Mikrogravitationsbedingungen untersuchen.
Und was sind das jetzt für Lebewesen? Ehrlich, ihr seid nicht die Ersten, die uns diese Frage stellen. Das ist ja auch klar, die kleinen Tierchen kommen einem eher nicht so oft unter.
Die Riesen unter den Einzellern
Foraminiferen sind klein und leben überwiegend im Meer. Sie besetzen vielfältige Meeresumgebungen: von der flachen Gezeitenzone, Korallenriffen bis hin zur Tiefsee. Man unterscheidet sie in planktische (im Wasser „schwebende“) und benthische (am Meeresgrund lebende) Arten. Sie bilden entweder ein simples oder ein mehrfach gekammertes, häufig kompliziert gebautes Gehäuse. Es besteht aus einem organischen Gefüge, in das Kalk oder Fremdmaterial (z.B. Sand, Schwammnadeln) zur Stabilität eingelagert werden. Ihre Schalenformen ähneln dabei filigranen Schneckenhäusern, kleinen Sternchen oder frisch aufgepoppten Popcorn. Ihre Größe variiert zwischen der eines kleinen Sandkorns bis hin zu der einer Kiwi. Fossile Vertreter wie z.B. Nummuliten – umgangssprachlich auch Münz(en)steine genannt – zeigen sogar Schalengrößen von bis zu 16 cm auf.[1] Das ist etwa die Breite einer handelsüblichen Postkarte. Beachtlich, vor allem wenn man bedenkt, dass es sich hier immer noch um einen Organsimus handelt, der nur aus einer einzigen Zelle. Einer EINZIGEN Zelle! Let that sink in.
Grob gesagt, teilt man heute das Leben auf der Erde in drei große Organismenreiche ein – die Bakterien, die Archaeen und die Eukaryoten. Bakterien und Archaeen leben jeweils als einzelne Zellen mit einem eher einfachen Aufbau. Sie haben beide keinen Zellkern. Während wir Bakterien im Alltag ständig begegnen, bevorzugen Archaeen oft extremere Lebensräume, wie heiße Quellen mit kochender Schwefelsäure (siehe Abb. 2) oder tiefe Schlammschichten ohne Sauerstoff. Es spricht einiges dafür, dass die Archaeen den ersten Lebensformen auf der Erde noch am ähnlichsten sind. Manche Archaeen blühen erst so richtig unter Bedingungen auf, die ansonsten beispielsweise in einem Schnellkochtopf herrschen (110°C bis 135°C).
Die Eukaryoten sind komplexer gebaut, haben feiner strukturierte Zellen mit einem Zellkern und anderen Unterabteilungen. Extreme Bedingungen wie Hitze oder Säure vertragen sie nicht so gut. Dafür können die Eukaryoten andere interessante Dinge. Sie können komplexe Körper aus vielen Zellen und unterschiedlichen Geweben aufbauen und so Aufgaben besser verteilen. Das ist doch viel spannender als alleine in ranziger Milch oder kochender Schwefelsäure zu schwimmen. Fast alles, was wir in der belebten Welt ohne Mikroskop tatsächlich sehen können, gehört zu den Eukaryoten.
Verwandschaftsbeziehungen
Wozu gehören hier nun die Foraminiferen? Genau wie wir Menschen stehen sie bei den Eukaryoten und somit bei den höher organisierten Lebensformen. Aber womit können wir sie anschaulich vergleichen?
Aus der Schule kennt man vielleicht noch einige Einzeller. Da gab es im Biologieunterricht die Amöben, die Kieselalgen, das Pantoffeltierchen (siehe Abb. 2) oder das Augentierchen (ja, die kamen dran). Die Amöben sind dabei für Einzeller ziemlich groß – in etwa so groß wie die Spitze einer Bleistiftmine (0,5 mm) – und können Teile ihrer Zelle ausstülpen, um sich damit fortzubewegen oder um Beute zu fangen. Auch Foraminiferen weisen diese Eigenschaften auf. Die erste Erklärung, die wir im Zusammenhang mit Foraminiferen hörten, war also, dass es „Amöben mit kleinen Schalen“ seien.
Später dämmerte uns allerdings, dass diese Erklärung nur unzureichend sein kann, weil es irgendwie doch größere Unterschiede zwischen unseren Foraminiferen und den Amöben gibt. Zum Glück sind Biologen sehr ordentliche Leute – wer einmal das Büro eines wirklich leidenschaftlichen Naturforschers gesehen hat, der versteht, was wir meinen. Neben prallgefüllten Bücherregalen mit ausgestopften Tieren oder fremdartigen Pflanzen gehören auch halbmeterhohe Stapel von Fotokopien, Zeitschriften, Ordnern und Präparatkisten zur „décoration intérieure“. Sie nehmen nicht nur jede verfügbare Tischfläche, sondern generell jedes Möbelstück ein und dennoch kann der Bürobesitzer auf Nachfrage immer noch zielsicher einen Artikel aus den 45 Stapeln hervorziehen. Entsprechend haben Biologen ein ausgeklügeltes System entwickelt, um sämtliche bekannte Arten von Lebewesen der Erde zu katalogisieren und abzuheften. Dieses System richtet sich nach der bekannten oder nach aktuellem Stand vermuteten Verwandtschaft von Arten. Das Ergebnis ist ein Stammbaum, ähnlich Ihrem eigenen Familienstammbaum – nur größer.
Einen etwas vereinfachten Stammbaum der Eukaryoten haben wir unten einmal aufgeführt (Abb. 3). Die Menschen als Art sind darin nicht direkt zu sehen, noch nicht einmal die Säugetiere oder die Wirbeltiere allgemein. Stattdessen taucht darin nur die wirklich größere, übergeordnete Gruppe der Eumetazoen („echte Vielzeller“) auf, zu der neben vielen anderen auch die Menschen, Säugetiere und Wirbeltiere gehören. Gleich die erste Verzweigung hinter den Eumetazoen gibt die Schwämme (Porifera) als unsere nächste, näher verwandte Gruppe wieder. Schwämme können bis zu zehntausend Jahre alt werden und sind wichtige Filtrierer im Meer– vielleicht nicht die unangenehmsten „Vettern“.
Die nächsten beiden Verzweigungen fassen uns und die Schwämme (siehe Abb. 4a und b) mit den – sicher noch nie gehörten – Choanoflagellaten und den Amöben zusammen. Alles sind Organismen, die wir noch am ehesten als „Tiere“ bezeichnen könnten, weil der Aufbau ihrer Zellen immer noch Ähnlichkeiten mit dem der Tiere aufweist. Wäre unser erster Vergleich mit den Amöben richtig gewesen, dann wären wir schon an dieser Stelle mit den Foraminiferen verwandt – Vettern dritten Grades sozusagen.
Aber ganz so einfach ist es dann doch wieder nicht. Schauen wir auf das Diagramm, so finden wir die Foraminiferen an einer ganz anderen Stelle. Die Gruppe aus Eumetazoen, Schwämmen, Choanoflagellaten und Amöben wird durch eine sehr deutliche Abzweigung von einer anderen großen Gruppe getrennt. Auf dieser anderen Seite finden wir zum Beispiel alle Landpflanzen sowie die Grün- und Rotalgen. Unsere Zimmerpflanzen, die Gewächse im Wald und das Grünzeug, das wir beim Baden im Meer oft mit rausholen, gehören alle in diese Gruppe. Hier finden wir alles, auf das die klassische Bezeichnung der „Pflanze“ noch zutrifft.
Aber auch die Pflanzen sind wiederum sehr deutlich von mehreren anderen Gruppen getrennt, die… ja, was eigentlich sind? Es sind weder Tiere noch Pflanzen, sonst hätte man sie zu einer dieser beiden Gruppen gestellt. Offenbar gibt es auch unter den Eukaryoten noch mehr zwischen Himmel und Erde als nur Tiere und Pflanzen. Das Pantoffel“tierchen“ zum Beispiel würde man unter den Ciliaten („Wimperntierchen“) finden. Die Kieselalgen sind die Diatomeen. Das Augen“tierchen“ Euglena wiederum steht unter der sehr weit abseits gelegenen Gruppe der „Excavata“ (Einzeller mit ausgeprägter Mundgrube) und ist offensichtlich noch einmal ganz anders beschaffen als die anderen Gruppen, die wir schon weder als Tiere noch als Pflanzen ansprechen können.
Die Foraminiferen finden wir schließlich in einer größeren Gruppe, die als Rhizaria (“Scheinfüßchenwesen”) bezeichnet wird. Das ist interessant – neben Tieren und Pflanzen gibt es auf jeden Fall noch Rhizarien auf dieser Erde, denn diese sind ebenso deutlich von den anderen Eukaryoten abgegrenzt wie die Tiere und die Pflanzen.
Wenn uns also demnächst wieder jemand fragen sollte, was genau Foraminiferen eigentlich sind, so können wir unsere Brillen aufsetzen und ganz kompetent antworten: Es sind Rhizarien. Alles klar?
Bildnachweis
[1] Copyright © FORAREX 2018
[2] Copyright © WikiImages 2012 auf Pixabay; URL: https://pixabay.com/de/photos/thermalquelle-grand-prismatic-spring-63080/ [Letzter Zugriff: 28-Nov-2021]
[3] Copyright © OpenClipart-Vectors 2016 auf Pixabay; URL: https://pixabay.com/de/vectors/biologie-mikrobiologie-1295384/ [Letzter Zugriff: 28-Nov-2021]
[4] Grafik verändert nach „Fig. 1.1 A phylogeny of biomineralizing eukaryotes, drawn from papers cited in the text“ von Knoll, A., Kotrc, B. (2015) Protistan Skeletons: A Geologic History of Evolution and Constraint. In: Hamm C. (eds) Evolution of Lightweight Structures. Biologically-Inspired Systems, Vol 6. Springer, Dordrecht. Kapitel 1, S. 2 DOI: https://doi.org/10.1007/978-94-017-9398-8_1; URL: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-94-017-9398-8_1
[5a] Foto links: Copyright © Dimitri Svetsikas 2017 auf Pixabay; URL: https://pixabay.com/de/photos/schwamm-meer-natur-marine-tierwelt-2758309/ [Letzter Zugriff: 28-Nov-2021]
[5b] Foto rechts: Copyright © Angie Johnston 2015 auf Pixabay; URL: https://pixabay.com/de/photos/aquarium-fische-unterwasser-panzer-842729/ [Letzter Zugriff: 28-Nov-2021]
Referenzen
[1] Rudolf Röttger: Wörterbuch der Protozoologie In: Protozoological Monographs, Bd. 2, 2001, S. 155, ISBN 3-8265-8599-2
[2] Knoll, A., Kotrc, B. (2015) Protistan Skeletons: A Geologic History of Evolution and Constraint. In: Hamm C. (eds) Evolution of Lightweight Structures. Biologically-Inspired Systems, Vol 6. Springer, Dordrecht. DOI: https://doi.org/10.1007/978-94-017-9398-8_1; URL: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-94-017-9398-8_1
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