Der Kinovorhang geht auf und es präsentiert sich Peter Weiss‘ Oratorium in Elf Gesängen – Die Ermittlung, diesmal in Regie von Rolf P. Kahl. Wir befinden uns in einem Teilbereich des L’univers concentrationnaire. Aus Perspektive des Richters: Die Täter sitzen auf einer Tribüne links, gegenüber dem Richter und den Geschworenen, auf der rechten Seite befindet sich der Ankläger. Die Zeug*innen treten auf und gehen ab, ein Kommen und Gehen von Zeugnissen über die grauenvollen Geschehnisse in Auschwitz.
Das Bühnen-/Filmbild verschreibt sich einem eleganten Minimalismus und ganz vom Rande ragen grau-schwarze Säulen mittlerer Größe empor, deren Präsenz an das Holocaust Mahnmal in Berlin erinnert. Die Zeug*innen sind den höhnischen Bemerkungen der Täter ausgesetzt, die permanent auf ihre Unschuldigkeit plädierten. „Ich habe anderes gemacht,“ „Ich war hierfür nicht zuständig,“ „das unterlag nicht meinem Aufgabenbereich,“ „daran erinnere ich mich nicht,“ sind nur einige der leeren Ausrufe der NS-Täter, die man immer wieder hört.
Weiss erstellte ein mnemotechnisch adaptiertes Zeugnis der Vergangenheit, genauer: Ein Bericht über den Ablauf des systematischen Mordes am europäischen Judentum in den Konzentrationslagern der Nazis. Mnemotechnik lässt sich in Erinnerungstechnik übersetzen, was sich bis ins alte Griechenland zurückverfolgen lässt. Dort sprachen schon Platon und Cicero über die Lehren der Rhetorik, zu denen auch verschiedene Visualisierungs- und Memoriertechniken gehörten, wie bspw. das sich Vorstellen eines bekannten Raumes und das Verorten von bestimmten Informationen an unterschiedlichen Bereichen jenes imaginierten Ortes. Diese könne man, einmal richtig einsortiert und gespeichert, jederzeit wieder aufrufen. So war es vielen bekannten Rednern jener Zeit möglich, sehr lange Reden zu halten, ohne auch nur einen Notizzettel bei sich zu führen.
Weiss‘ Wahl des Oratoriums als dramenreduzierte Darstellung und eine Art Totengesang, bzw. etymologisch bedeutende Erschaffung eines Gebetsraumes außerhalb der Kirche erscheint vorerst ungewöhnlich, da man die Worte und thematischen Komplexe ‚Gesang‘ und ‚Auschwitz‘ nun wirklich nicht oft nebeneinanderstehen sieht. Man könnte auch argumentieren, dass Weiss sich hierbei auf die Rolle der Musik in der NS-Zeit bezog, wenn man bedenkt, wie die Nazis klassische Musik vereinnahmten und dass es in den Konzentrationslagern absurderweise Orchester gab, die aus den dortigen Häftlingen bestanden.
Jedoch reichte diese freiversige Struktur ohne Punkt und Komma in Form eines Gebets oder Gesangs dem Autor nicht aus, um eine verständliche Struktur für Auschwitz zu schaffen. Peter Weiss suchte nach einem Gerüst, das das Grauen von Auschwitz sortieren könne oder zumindest eine Übersicht über das Geschehene schaffen könne. Fündig wurde er in seinen Studien zur Göttlichen Komödie von Dante Alighieri. Er suchte und fand für sich wohlbemerkt den „Realisten Dante“, das bedeutet, eine Art säkulare Göttliche Komödie. Strukturelle Parallelen bestehen in den Gesängen und in der dreiteiligen Struktur, die sich überall im Stück wiederfinden lässt. So kondensiert Weiss auch die Teilnehmer*innen des Prozesses auf durch drei teilbare Personenzahlen. Die Gesänge leiten systematisch durch die Vernichtungsmaschinerie der Konzentrationslager von der Rampe bis zu den Feueröfen. Dabei behandelt das Stück in seiner Gesamtheit neun Orte der Folter und des Mords in Auschwitz.
Thematische und inhaltlich faktische Grundlage des Stückes ist, wie am Anfang erwähnt, der Frankfurter Auschwitz Prozess (Original: Strafsache gegen Mulka und andere), zu dessen Beobachtern neben Jaspers, Arendt, oder Miller eben auch Weiss gehörte. Seinem Stücktext voraus geht auch die eigene Besichtigung des ehemaligen Konzentrationslagers in Auschwitz, während der Besichtigungen der Richter und Ankläger 1964, deren Wahrnehmung er in seinem Essay namens „Meine Ortschaft“ auf sehr mnemotechnisch strukturierte Weise festhält. Neben den Zeitungsberichten Bernd Naumanns in der Frankfurter Allgemeine und eigenen Notizen des Autors, diente soeben genannter Essay als spätere topografische Vorlage für Weiss‘ dokumentarisches Theaterstück.
Jenes Genre, das dem Brechtschen Theater und dem politischen Theater Piscators entstammt und in den 1960ern erst richtig aufblühte, definierte er selbst in einem eigens hierfür verfassten Essay: „Das dokumentarische Theater ist ein Theater der Berichterstattung. Protokolle, Akten, Briefe, statistische Tabellen, Börsenmeldungen, Abschlussberichte von Bankunternehmen und Industriegesellschaften, Regierungserklärungen, Ansprachen, Interviews, Äußerungen bekannter Persönlichkeiten, Zeitungs- und Rundfunkreportagen, Fotos, Journalfilme und andere Zeugnisse der Gegenwart, bilden die Grundlage der Aufführung. Das dokumentarische Theater enthält sich jeder Erfindung, es übernimmt authentisches Material und gibt dies, im Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet, von der Bühne aus wieder.“
Diese von Weiss formulierten Kriterien des Dokumentartheaters betonen auch seinen späteren Fokus im Stück, der nicht auf dem individuellen Leiden und persönlichen Geschichten (auch wenn diese im Stück an zwei Stellen sehr prägnant auftreten), sondern auf den systematischen Rahmenbedingungen, dem gesellschaftlichen Raum, der es ermöglichte, dass Auschwitz stattfinden konnte. Er betont hier stark den Kapitalismus und die Beteiligung Deutscher Industriekonzerne am Holocaust.
R.P. Kahl überzeugt als Regisseur in seiner Neuverfilmung durch seinen eigenen Fokus, der, anders als bei Weiss, auf den Zeug*innen liegt. Weiss‘ dokumentarischen Ansprüchen nach, bedarf es der Erzeugung des Konzentrats der Aussage, in jenem Fall des Frankfurter Auschwitz Prozesses. Hierfür ist es laut Weiss nötig, Emotionen und theatralische Gesten so weit wie möglich zurückzuschrauben, um die systematischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Wirkungsweisen der Lager und deutschen Industrien aufzudecken. Es stehen sich gegenüber: Täter und Opfer. Anders als in Frankfurt werden beide Seiten parallel bzw. abwechselnd angehört. Wichtig zu betonen ist jedoch, dass es keinen direkten Dialog zwischen den beiden Gruppen gibt. Es wird eher ein Dialog fabriziert, durch die Vermittlung des Richters und des Anklägers, die sich im Wechselspiel benötigte Aussagen von den jeweiligen Seiten einholen.
In der Neuverfilmung sehen wir die Emotionen präzise, gar filigran eingearbeitet in den kleinsten Gesichtszuckungen oder Handbewegungen; vor allem jedoch in den Augen, deren Fokus einen beachtlichen Teil einnimmt und sich somit der bei Weiss vorliegenden Distanzierung vom Individuum entzieht. Kahl geht einen Schritt weiter, um vielleicht einer weiteren damaligen Kritik an Weiss‘ Stück entgegenzuwirken. Wie bei Weiss findet sich auch in Kahls Neuadaption keine wörtliche Bezeichnung der Herkunft der Opfer. Dennoch, anders als bei Weiss, deutet eines die Herkunft der Zeug*innen an – ihr Akzent. Somit löst Kahl elegant die gewagte Kritik an der „Ermittlung“, jenes Stück präsentiere eine einfache Austauschbarkeit von Opfer und Täterrollen.
Auch sehr bemerkenswert ist die Neuadaption im Hinblick auf ihre Länge, in gekürzter Version um die drei Stunden, in der Originalfassung ganze vier Stunden, die keinen der 11 Gesänge streicht und Ihnen ihre individuelle Relevanz nicht abspricht. Denn wenn man sich einmal mit dem Stück auseinandersetzt, erkennt man die Wichtigkeit aller Gesängen und Themen, die dort angesprochen werden. Eine Kürzung kann dann nur als enttäuschend wahrgenommen werden.
Die Neuverfilmung setzt die Bedeutung und Besonderheit des Stückes in eine neue Perspektive. Damals als das Stück Mitte der Sechziger uraufgeführt wurde, sorgte es für gesellschaftliche Furore und entfachte Debatten über die Darstellbarkeit des Holocausts auf der Bühne (was fragwürdig ist, da das Stück, den eigenen Worten des Autors entnommen, nie danach suchte, Auschwitz auf die Bühne zu holen). Heute erinnert es uns an die Notwendigkeit, nicht nur die Erinnerung an den Holocaust, sondern an die gesellschaftlichen Umstände und Einstellungen, die dieses Grauen ermöglichten, ganz im Sinne Adornos Forderung in seinem Essay über die Erziehung nach Auschwitz, immer wieder ins Gedächtnis zu rufen. Dies in der Hoffnung ein kontinuierliches Bewusstsein dafür zu schaffen, wie Menschen sich dazu entscheiden konnten, Tag für Tag solche Schreckenstaten unreflektiert auszuführen, um solch eine soziale Rahmenbedingung nie wieder entstehen zu lassen.
„Das Stück ist noch in einigen Kinos zu sehen und es ist nur zu empfehlen, sich diesen vier Stunden auszusetzen, auch wenn es sehr anstrengend werden kann. Im Nachhinein erkennen man den Mehrwert dieses Meisterwerks des dokumentarischen Theaters, dessen theoretische Grundstruktur in diesem Blog, wenn überhaupt, nur gestreift wurde.“
Quellen:
Weiss, P. (1968). Rapporte. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Weiss, P. (1971). Rapporte 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Weiß, C. (2000). Auschwitz in der geteilten Welt – Peter Weiss und die »Ermittlung« im Kalten Krieg Teil 1. St.Ingbert: Röhrig Universitätsverlag.
Yates, F.A. [1966] (1999). Frances Yates Selected Works. Volume III. The Art of Memory. London: Routledge.