Kollektive Amnesie?

Europa als Kolonialmacht scheint im zeitgenössischen politischen Diskurs in den Archiven und öffentlichen Debatten in die Peripherie gedrängt. Wie Hansen und Jonsson in ihrer Veröffentlichung von 2014 erklären: „Europa als zwischenstaatliches und supranationales politisches Projekt und Gebilde wurde außerhalb und jenseits der Geschichte des Kolonialismus platziert“. In Anbetracht der Tatsache, dass dieser koloniale Kontext den größten Einfluss auf die Entscheidungsfindung und die Vereinbarungen hatte, die die Anfänge der EU, wie wir sie heute kennen, prägten, scheint dies ein unvermeidliches Thema für den Europablog zu sein.

Wenn wir die heutige EU und ihre Zukunft verstehen wollen, müssen wir zunächst ihre Geschichte verstehen. Somit muss man in die Vergangenheit blicken und begreifen, wer mit welchen Entscheidungen die EU geprägt hat. Dieser Artikel wird sich hauptsächlich mit den Problemen befassen, die sich aus der „Amnesie“ eines großen Teils der europäischen Geschichte ergeben und mit der Frage, wie ihre Darstellung geändert werden kann, um die gesamteuropäische supranationale Verwicklung in den Kolonialismus besser widerzuspiegeln. Ich werde mich vor allem auf die Arbeit von Hansen und Jonsson über Eurafrika (2014) und einen Aufsatz mit dem Titel „EU Memory Politics and Europe’s Forgotten Colonial Past“ von Aline Sierp (2020) beziehen. Nach einer kurzen Einführung in den Gründungshintergrund der EU werde ich zu den Konflikten übergehen, die diese unzureichende Würdigung der EU-Geschichte mit sich bringt, und mögliche Lösungen aufzeigen. Abschließend werde ich einen Ausblick auf dieses Thema geben und darlegen, wie vielversprechend die Zukunft der EU meiner Meinung nach sein könnte, wenn sie sich ihrer kolonialen Vergangenheit intensiver zuwendet.

Projekt "Eurafrika"

Im Jahr 1952 wurde die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl zwischen Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden gegründet. Als Motive für die Gründung dieser zunächst vor allem wirtschaftlichen Gemeinschaft werden weithin genannt: In erster Linie eine gemeinsame Kontrolle von Kohle und Stahl, eine Stabilisierung zwischen den Ländern in Europa zur Vermeidung eines weiteren Krieges, wirtschaftliches Wachstum im eigenen Land und ein europäischer Schulterschluss gegen die USA und auf der anderen Seite Russland. Was in den meisten historischen Darstellungen und Debatten fehlt, einschließlich der offiziellen Erklärungen auf der EU-Website und z.B. in den offiziellen Dokumenten der NATO-Vereinbarungen (Hansen und Jonsson 2014), ist die Tatsache, dass ein Hauptgrund bei den Verhandlungen zur Gründung der EU die Idee von Eurafrika war, um den Kolonialismus offiziell zu überwinden, aber niemals wirklich Ressourcen oder geopolitische Kontrolle loszulassen (Hansen und Jonsson 2014: 20). Somit wurde der Kolonialismus in einer damals neuen Form fortgesetzt und der Boden für neokoloniale Hierarchien und Strukturen bis heute geebnet.

Eurafrika als ernsthaftes Projekt wurde erstmals auf der von Bismarck initiierten Berliner Konferenz im Jahr 1885 erwähnt und politisch diskutiert. Im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahr 1957 setzte sich Frankreich aufgrund seiner überseeischen Kolonien nachdrücklich für dieses Vorhaben ein. Diese Befürwortung wurde auch von den anderen Mitgliedern positiv aufgenommen, die in dieser gemeinsamen Anstrengung, Afrika zu verwalten, ihre Chance sahen, über Frankreich den gemeinsamen Handel mit dem Süden zu eröffnen.

Gleich, aber anders?

Weitere Gründe für das Projekt waren: Afrika als Lösung für die europäische Überbevölkerung, Ressourcenvorteile gegenüber anderen Weltmächten und ein stärkerer Zusammenhalt der Europäer (Hansen und Jonsson 2014: 28). Nicht zu vergessen, dass einige spätere Mitglieder der EWG, wie das Vereinigte Königreich oder Portugal, zu dieser Zeit noch koloniale „Besitztümer“ hatten (Sierp 2020: 688). Die Idee des eurafrikanischen Projekts trieb die europäische Integration vor allem in der unmittelbaren Nachkriegszeit voran, beeinflusste aber auch noch lange danach die Debatten. Als Beispiel seien die Verhandlungen über die Römischen Verträge von 1957 genannt, bei denen das afrikanische Projekt einer der dominierenden Aspekte bei den Verhandlungen über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war (Hansen und Jonsson 2014: 256).

Dies führt mich zu folgendem Problem. Wenn Eurafrika als Projekt so viel Einfluss auf die Gründungsinstitutionen und die in ihnen ausgehandelten Entwürfe hatte, wie beeinflusst dann die historisch unzureichende Anerkennung einer gemeinsamen kolonialen Vergangenheit die europäische Identität der EU? Während die EU proklamierte, den Kolonialismus hinter sich gelassen zu haben, bewegte sie sich weiterhin in einem Geflecht aus Hierarchie und geopolitischer Dominanz, das es ermöglichte, die alten kolonialen Strukturen aufrechtzuerhalten (Hansen und Jonsson 2014: 20). Navigiert man durch den Geschichtsabschnitt der offiziellen Website der EU, ist es erschreckender Weise ziemlich schwierig, etwas über den Kolonialismus zu finden.

Der Hauptgrund für die Gründung der EU war laut der Website der Frieden in Europa durch Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sowie langfristiger Wohlstand für alle Mitgliedsländer. Vor allem die Weltkriege und der Holocaust werden als Anreize für die Gründung der Europäischen Union angeführt. Das sind die Ereignisse, die im Kontext einer gemeinsamen europäischen Geschichte gesehen werden (Sierp 2020: 693). Im Vergleich dazu wird der Kolonialismus selbst meist nicht im Kontext einer gemeinsamen europäischen Geschichte erwähnt, sowie auch die koloniale Ausbeutung, die zur europäischen Integration beigetragen hat, nicht oder zumindest unzureichend erwähnt. Natürlich wird das Thema nicht völlig ausgeklammert. Dennoch scheint es an offizieller Anerkennung, Dokumentation und aufklärerischer Öffentlichkeitsarbeit zu mangeln (Hansen und Jonsson 2014). Dies wird deutlich, wenn man den Umgang mit der Kolonialgeschichte untersucht. Es handelt sich zumeist um eine Geschichte, die in einem nationalen Kontext wahrgenommen wird, losgelöst von den Prozessen der Bildung einer europäischen Gemeinschaft. Selbst hier ist die Anerkennung der Geschichte vieler Länder auf nationaler Ebene unzureichend und wird daher nicht viel zu einem gesamteuropäischen Ansatz der Anerkennung beitragen (Sierp 2020: 692). Im Hinblick auf eine europäische Identität lässt sich schlussfolgern, dass es eine ausgewählte Version der Geschichte gibt, die sich dafür entscheidet, diese koloniale Vergangenheit Europas nicht in den Diskurs der Europäischen Union und ihre Bildung einer gemeinsamen Identität zu integrieren.

Nun wird deutlich, dass es notwendig ist, eine weitere entscheidende Frage zu stellen. Nämlich die nach der Verantwortung für diese nicht nur nationale, sondern gemeinsame supranationale Vergangenheit. Denn eine Anerkennung und Übernahme der vollen Verantwortung durch die EU als supranationale Institution könnte auch dazu führen, dass die institutionellen Strukturen, die ein Produkt dieser kolonialen Vergangenheit sind, in Frage gestellt werden. Dies ist eines der Hauptprobleme oder die lockere Schraube, die den Fortschritt der Anerkennung behindert: Sobald die europäischen Institutionen beginnen, Verantwortung für ihre koloniale Vergangenheit zu übernehmen, werden sie einen Teil ihrer Integrität verlieren und die Grundlagen neu definieren müssen, auf denen sie unsere heutige europäische Identität und unser Selbstverständnis aufbauen. Andere Fragen, die eine Herausforderung darstellen könnten, sind Fragen der Kompensation oder der intra- und interinstitutionellen strukturellen Veränderungen, die die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit durch die EU-Institutionen genau widerspiegeln würden. Man könnte argumentieren, dass es sich um eine Art neue Identitätskrise der EU handelt, allerdings eher auf institutioneller Ebene.

Verantwortung

Ein weiterer Faktor, der diese Umstrukturierung erschwert, ist die Tatsache, dass es für neue Mitgliedstaaten, die nicht direkt in den Kolonialismus verwickelt waren, bequemer sein mag, der EU beizutreten und sich nicht mit der Frage der Verantwortung auseinandersetzen zu müssen. Doch sie finden sich in diese post- und neokolonialen Strukturen verwoben, die nicht einmal von ihren Urhebern ausreichend hinterfragt und aufgearbeitet werden. Nationalstaaten, die sich mit ihrer kolonialen Vergangenheit auseinandersetzen müssen, finden nicht genug Motivation, dies effizienter zu tun, wenn sie nicht von einer gemeinsamen Autorität oder den Forderungen einer anderen Nation unter Druck gesetzt werden. Selbst wenn ehemalige Kolonien weiterhin auf offizielle Erklärungen, Entschuldigungen oder die Rückgabe von Artefakten drängen, wird dies immer im Schatten eines größeren Gebildes geschehen, nämlich der Europäischen Union, die ihre kolonialen Kämpfe angeblich überwunden hat, indem sie verkündete, dass ihre Mitgliedstaaten sich nach der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit zusammengefunden haben. Dieser Punkt kann von A. Sierp (2020: 691) unterstrichen werden, der die Umhüllung des Konzepts des Kolonialismus in einer abstrakten Weise ausdrückt, die alle ehemals beteiligten Parteien von der Auseinandersetzung und einer effizienten „Aufarbeitung“ der Vergangenheit entfernt und die Kolonialzeit und ihre Auswirkungen auf die Welt historisiert. Ein „fälschlich geläuterter“ Eurozentrismus stärkt somit weiterhin das Narrativ der EU als Retterin, die beispielsweise Entwicklungs- oder humanitäre Hilfe für Länder leistet, die unter dem Einfluss eben jenes ehemaligen Kolonisators leiden, der sich nun als helfende Hand mit der blauen Flagge inszeniert.

Die Fortsetzung dieser Version der Geschichte würde nur zu einer „[…] Wiederherstellung, Konsolidierung und Vertiefung der Asymmetrien und Hierarchien führen, die von den früheren europäischen Kolonialreichen produziert wurden […].“ (Sierp 2020: 699). Wie wir dem entgegenwirken können und sollten, werde ich im zweiten Teil HIER betrachten.