Friedhof für die Opfer des Genozids im Srebrenica Memorial Center in Potočari.
In den zahlreichen Bestürzungsbekundungen nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine hatte mich ein Satz immer wieder erstaunt: Dass nach 75 Jahren Frieden nun wieder ein Krieg in Europa herrsche. Ohne die Dimension des russischen Angriffskrieges relativieren zu wollen, neben vielen weiteren Konflikten, stehen dem doch insbesondere die verheerenden Kriege im ehemaligen Jugoslawien entgegen.
Dort hat mitten in Europa ein Genozid stattgefunden. Ein Genozid, der hier im gegenwärtigen Gedächtnis immer weniger präsent ist: Im Zuge des Bosnienkriegs ermordeten bosnisch-serbische Soldaten in der Stadt Srebrenica mehr als 8300 Bosniaken. Das war im Juli 1995. Nicht einmal 30 Jahre sind seitdem vergangen.
Erst kürzlich habe ich den Film „Quo Vadis, Aida?“ gesehen, der als erster Spielfilm die Thematik Srebrenica auf die Leinwände brachte. Der Anblick der Bilder, auch wenn auf explizite Gewaltdarstellungen verzichtet wird, löste bei mir eine besondere emotionale Wirkung und eine fast wütende Erkenntnis aus: 50 Jahre nach Auschwitz waren in Europa Menschen aufgrund ihrer Ethnie und Religion systematisch deportiert und ermordet worden. (Auch wenn Srebrenica und der Holocaust keinesfalls gleichgesetzt werden können!).
Heute ist kein runder Jahrestag dieses Ereignisses, aber es gibt wohl kaum einen falschen Zeitpunkt, um daran zu erinnern. Vielen in meiner Generation ist das Wort Srebrenica heute kaum bekannt. Kein Wunder, in der Schule haben wir nichts darüber gelernt, scheinbar stand Wichtigeres auf den Lehrplänen. Das ist in meinen Augen fatal, in vielerlei Hinsicht. Da ist zum einen die immense Dimension dieses Verbrechens. Es handelt sich um das bis dato größte Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Hinzu kommt die Tatsache, dass der Genozid von Srebrenica bis heute Gegenstand erbitterter erinnerungspolitischer Konflikte ist. Wichtig erscheint das Thema aber auch vor dem Hintergrund, dass die Spannungen in Bosnien-Herzegowina weiter schwelen und der Frieden höchst fragil erscheint.
Doch wie war es zu einem solchen Verbrechen gekommen?
Vorausgegangen war der Zerfall Jugoslawiens zu Beginn der 1990er Jahre. Über 40 Jahre lang waren in dem autokratisch regierten Vielvölkerstaat die ethnischen Konflikte noch weitgehend ruhig geblieben. 1992 begann der Bosnienkrieg zwischen den drei in Bosnien-Herzegowina mehrheitlich lebenden Ethnien: Den orthodoxen Serben/Serbinnen, den katholischen Kroaten/Kroatinnen und den muslimischen Bosniaken/Bosniakinnen. Nach einem Referendum hatte auch die Teilrepublik Bosnien-Herzegowina ihre Unabhängigkeit erklärt, die jedoch von der bosnisch-serbischen Seite abgelehnt wurde. Bosnisch-serbische Truppen begannen mit Hilfe der jugoslawischen Volksarmee die Hauptstadt Sarajevo zu belagern und brachten in der Folge weite Teile des Landes unter ihre militärische Kontrolle.
Srebrenica ist eine kleine Stadt im Osten des Landes Bosnien-Herzegowina, ganz nahe der Grenze zu Serbien. Im Laufe des Krieges war sie zu einer bosniakischen Enklave inmitten serbisch eroberten Gebietes geworden und somit zu einem Zufluchtsort für viele Bosniak*innen. Die UN erklärte sie 1993 zur „Schutzzone“. Doch die internationale Gemeinschaft versagte diesen Schutz auch geltend zu machen. Die unweit der Stadt stationierten UN-Blauhelmsoldaten unter niederländischem Kommando waren dazu nicht in der Lage, die angeforderten Luftangriffe blieben aus.
So wurde die Stadt nach fast dreijähriger Belagerung am 11. Juli 1995 von bosnisch-serbischen Einheiten eingenommen. Männer und Jungen der zivilen Bevölkerung wurden separiert, an verschiedene Orte deportiert und dort in Massenerschießungen ermordet. Vor den Augen der UN vollzog sich über mehrere Tage ein Verbrechen fast unvorstellbaren Grauens.
Srebrenica war aber keineswegs ein isoliertes Verbrechen. Der Genozid 1995 bildete nur den Gipfel gravierender Kriegsverbrechen gegen die bosniakische Zivilbevölkerung in den vorangegangenen Kriegsjahren. Schon 1992 waren bei Massakern in Višegrad sowie der Region Prijedor mehrere tausend Bosniak*innen ermordet worden. Diese Verbrechen waren ein wichtiger Bestandteil der serbischen Kriegsführung. Durch „ethnische Säuberungen“, der systematischen Vertreibung und Ermordung der nichtserbischen Bevölkerung, sollten ethnisch homogene Gebiete geschaffen werden. Alle Konfliktparteien begingen im Laufe des über drei Jahre währenden Krieges zahlreiche Kriegsverbrechen. Die überwiegende Anzahl wurde jedoch von bosnisch-serbischer Seite verübt.
Das späte militärische Eingreifen der NATO durch Luftangriffe ab August 1995 veränderte den Kriegsverlauf. Das Ende des Jahres unterzeichnete Dayton-Abkommen beendete schließlich den Bosnienkrieg und legte zugleich den politischen Grundstein für den heutigen Staat Bosnien-Herzegowina.
Die Folgen des Krieges wiegen im Land bis heute schwer und auch der Genozid wirkt stark nach. Nahe Srebrenica, das heute in Bosniens serbischem Teilstaat Republika Srpska liegt, erinnert eine Gedenkstätte an die Opfer. Doch längst ist nicht alles aufgearbeitet, viele Fragen bleiben ungeklärt. Noch immer werden neue Opfer identifiziert und neue Leichen entdeckt, bis heute konnten nicht alle gefunden werden. Die Täter hatten die Leichen in Massengräbern verscharrt und danach mehrfach umgebettet.
Die juristische Aufarbeitung zog sich über viele Jahre. Erst 2019 bzw. 2021 wurden die Hauptverantwortlichen des Genozids, die bosnisch-serbischen Militärs Radovan Karadžić und Ratko Mladić, durch den eigens für die Kriege in Jugoslawien errichteten Sonderstrafgerichtshof in Den Haag letztinstanzlich verurteilt. Zahlreiche Verantwortliche für die serbische Kriegspolitik bleiben jedoch bis heute ungestraft. Die Rolle der UN und der Blauhelmsoldaten vor Ort ist bis heute umstritten, doch für den Tod von 350 Opfern wurde dem niederländischen Staat in einem Gerichtsurteil von 2017 eine Mitschuld zugewiesen.
Insbesondere in diesen Tagen, im Kontext des Nahostkonflikts, zeigt sich einmal mehr, wie höchst umkämpft der Begriff Genozid ist. Das gilt auch für den Fall Srebrenica. Bei der Frage, ob es sich um einen Genozid, also einen Völkermord handelt, ist nicht etwa die Anzahl der Toten entscheidend, sondern einzig der Aspekt der Intention der gezielten Vernichtung einer ethnischen oder religiösen Gruppe. Mehrfach wurden die Verbrechen von Srebrenica von internationalen Gerichten als Genozid eingestuft. So urteilte der Internationale Gerichtshof 2007, „[…] dass die in Srebrenica begangenen Taten […] mit der spezifischen Absicht begangen wurden, einen Teil der muslimischen Bevölkerung von Bosnien und Herzegowina zu vernichten“. Dennoch wird der Genozid in der Republika Srpska und in Serbien geleugnet und die Verbrechen werden von vielen Menschen relativiert und verantwortliche Kriegsverbrecher verherrlicht. Selbst von höchsten Regierungsstellen.
Die umkämpfte Geschichtspolitik und fehlende Aussöhnung erweisen sich als schwere Belastung für den Staat Bosnien-Herzegowina. Die heutige Situation im Land erscheint äußerst kritisch, so stellen die separatistischen Bestrebungen der Republika Srpska eine Bedrohung des Friedens dar und sorgen für neue Ängste innerhalb der bosniakischen Bevölkerung.
Vor diesem Hintergrund erscheint es umso wichtiger, dass wir über Srebrenica und die Geschehnisse des Bosnienkriegs gut informiert sind. Aus Respekt vor den Opfern, aber auch im Sinne des Anspruchs eines friedlichen Europas ist es notwendig, das Gedenken an Srebrenica wach zu halten und jeglicher Leugnung und Geschichtsklitterung entgegenzutreten.
Quellen:
Vor 25 Jahren: Das Massaker von Srebrenica | Hintergrund aktuell | bpb.de
Vor 30 Jahren: Beginn des Bosnienkriegs | Hintergrund aktuell | bpb.de
Interessante Links :
Film „Quo Vadis, Aida?“ (2020) von Jasmila Žbanić.
Im Mittelpunkt der Handlung steht das Schicksal von Aida, einer fiktiven bosniakischen Übersetzerin für die UN.
Der Film ist zurzeit u.a. auf Amazon Prime zu sehen.
Amazon.de: Quo Vadis, Aida? ansehen | Prime Video
„Das Massaker von Srebrenica 1995“ (2022)
Folge des Podcasts „Zugehört!“ des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr.
https://open.spotify.com/episode/4AQ2j26wJC6tgKg98l8wuA?si=0d70c2d2c9dc4564
Eine Folge des Podcast „Neues vom Ballaballa-Balkan“ zu Srebrenica (2020)
https://open.spotify.com/episode/4fRI8afWsEH1eESxKMlcxW?si=1d2f64e1ae6b489a
Arte Doku „Bosnien-Herzegowina – Ein zerbrechlicher Frieden“ (2023)
Zu Beginn über das Gedenken an Srebrenica und dessen politischer Instrumentalisierung, anschließend u.a. Hintergründe zum Bosnienkrieg und der heutigen Situation.
https://www.arte.tv/de/videos/108970-000-A/bosnien-herzegowina-ein-zerbrechlicher-frieden/