„In Vilnius feiern wir sogar im Gefängnis“ – diesen Spruch höre ich an meinem ersten Tag der Orientierungswoche als Austauschstudentin an der Universität Vilnius. Im Gefängnis feiern? Klingt erstmal abwegig. Doch tatsächlich ist dies in Litauens Hauptstadt möglich.

Konkret geht es um die ehemalige Haftanstalt Lukiškių kalėjimas (Lukiškės Gefängnis), die sich mitten im Zentrum nahe dem Parlamentsgebäude und der größten Einkaufsstraße in Vilnius befindet. Seit ihrer Schließung 2019 werden die Gebäude von hunderten Künstler*innen als Studios oder Ateliers genutzt. Veranstaltungen wie Konzerte, Kunstausstellungen, Partys und Sportübertragungen finden innerhalb des Komplexes und im Sommer auch im Innenhof statt. Auch für private Veranstaltungen können Räume gemietet werden. Zudem kann man Führungen durch das bis vor wenigen Jahren noch aktive Gefängnis buchen, die zum Teil durch ehemalige Wärter*innen gegeben werden.

Bei einer solchen zweistündigen Tour durch den Komplex, an der ich gemeinsam mit einem Freund teilnehme, kann man sich vom maroden Zustand der Gebäude überzeugen. Dies gab unter anderem Anlass für Kritik seitens der EU und trug letztendlich auch zu dessen Schließung bei. Es erscheint mir kaum vorstellbar, dass Lukiškės zur Zeit seiner Erbauung 1904 das modernste Gefängnis des Russischen Zarenreiches darstellte – allerdings habe sich, so betont der Führer unserer Tour, seitdem eben kaum etwas gebäudetechnisch verändert. Anders verhält es sich mit den Menschengruppen, die hier im Laufe der Zeit inhaftiert waren: Anhand von ihnen lässt sich die bewegte Geschichte der heute litauischen Stadt Vilnius nachzeichnen.

Unter dem Eindruck der polnischen Aufstände im 19. Jahrhundert sollte die Gefängnisstruktur im westlichen Grenzgebiet des Zarenreiches ausgebaut werden. Bei der „Bedrohung“ durch nationale Bewegungen nahm das multikulturelle und -konfessionelle Vilnius im Zarenreich eine Schlüsselposition ein. So strebten sowohl Vertreter*innen der Nationalbewegungen Polens, Belarus‘ als auch Litauens danach, Vilnius zur Hauptstadt ihres zukünftigen Staates zu machen. Inhaftiert in Lukiškės‘ (polnisch: Łukiszki; belarusisch: Лукішкі) waren im Zarenreich daher vor allem politische Gegner*innen, die sich auch innerhalb der Gefängnismauern in unterschiedliche Gruppierungen je nach nationaler und politischer Gesinnung aufspalteten. Zu den prominentesten kommunistischen Gefangenen zählte Felix Dzerzhinsky, der später die sowjetische Geheimpolizei Tscheka gründen sollte.

Die orthodoxe Kirche beim Blick auf den Eingang zum Gefängniskomplex

Modern an Lukiškės war für die damalige Zeit nicht nur dessen Infrastruktur, sondern auch der Ansatz, demnach Religion zur Resozialisierung der verurteilten Menschen eine entscheidende Rolle spielen sollte. Dementsprechend fanden sich im ursprünglichen Bau eine orthodoxe Kirche, eine katholische Kapelle sowie eine Synagoge. Obwohl zu Beginn des 20. Jahrhunderts jüdische und katholische Menschen die Mehrheit der Bevölkerung in Vilnius darstellten, ist die orthodoxe Kirche als Symbol der offiziellen Religion des Zarenreiches architektonisch am prominentesten und ist bereits beim Blick von außen zu erkennen. Die Synagoge wurde unter der NS-Besatzung zerstört.

In der Zwischenkriegszeit gehörte Vilnius zum wiederhergestellten Polen, zu dessen Gefangenen jüdische, belarusische und litauische Nationalist*innen sowie die als noch größere Bedrohung empfundenen Anhänger*innen des Kommunismus zählten. Dies änderte sich mit Übernahme der Stadt durch die Sowjetunion 1940, die Vilnius der Litauischen Sowjetrepublik einverleibte und nationale Aktivist*innen als Hauptfeinde betrachtete. 1941 begannen bereits die ersten Deportationen von hier aus in das Gulag-System in Richtung Osten.

Für die deutsche Besatzung spielte Lukiškės ebenfalls eine Schlüsselrolle. So wurde hier ein Großteil der jüdischen Bevölkerung aus Vilnius inhaftiert. Für viele bedeutete es die letzte Station, bevor sie im südwestlich von Vilnius gelegenen Waldstück Ponary ermordet wurden. Zudem wurden im Gefängnis wichtige sowjetische Persönlichkeiten der Region und Kriegsgefangene inhaftiert. Exekutionen und grausame Haftbedingungen prägten den Gefängnisalltag.

Mit der erneuten Eroberung Vilnius durch die Rote Armee 1944 stellten polnische Untergrundkämpfer*innen bis Ende der 1940er die größte Gruppierung an Gefangenen dar. Diese hatten vor dem sowjetischen Einmarsch vergeblich versucht, Vilnius von den verbleibenden deutschen Truppen zurückzuerobern. Im Verlauf wurden sie durch litauische Gefangene ersetzt. Hierzu zählten auch Teile der Partisan*innenbewegung gegen die sowjetische Besatzung.

Im Innenhof verfolgen Menschen das Finale der Basketball-WM

Leider ist Lukiškės als transnationaler Erinnerungsort nicht das Thema unserer Führung. Wir erhalten nahezu keine historischen Informationen, vielmehr habe ich das Gefühl, an einer ‚Erlebnistour‘ teilzunehmen, die uns durch dunkle Räume und Orte gewaltvoller Verbrechen führt. Wir enden im Todestrakt, in welchem der berühmt-berüchtigte litauische Mafiaboss Boris Dekanidse 1995 hingerichtet worden sein soll. Für den Mord an einem Journalisten, der die Strukturen seiner Mafia-Gruppierung publik gemacht hatte, wurde er als letzte Person Litauens zum Tode verurteilt. Der Fall war brisant, galt Dekanidse doch als unantastbar – die sogenannte Vilnius-Brigade drohte damit, das gesamte Gefängnis zu stürmen, sodass hohe Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden mussten. Zudem wurde aufgrund von Drohungen seitens seiner Familie das damals noch aktive litauische Atomkraftwerk heruntergefahren.

Vom Keller, in dem sich der Todestrakt befand, geht es für die Teilnehmenden der Führung wieder nach draußen. Hier sehen wir uns die unüberwindbar erscheinende Zaunanlage um das Gefängnis an. Der Tourguide berichtet, dass es – soweit bekannt – keiner Person gelungen sei, auf diese Weise zu fliehen. Der Kontrast zwischen Lukiškės als Gefängnis und seiner heutigen Nutzung wird mir auch dadurch deutlich, dass zur selben Zeit, als wir an der Führung teilnehmen, das Finale der Basketball-WM auf eine Leinwand im Innenhof übertragen wird, sodass die Führung von einer Geräuschkulisse aus begeisterten Fans begleitet wird. All dies macht Lukiškės für mich zu einem surrealen Ort.

Für die überwiegend kommerzielle Nutzung des Ortes erntete das neu entstandene Kulturzentrum, das sich Lukiškės 2.0 nennt, auch Kritik. So regte sich Widerstand gegen Pläne, ehemalige Zellen über Airbnb zu vermieten, nachdem das Gefängnis als Drehort der Serie „Stranger Things“ 2020 Popularität erlangt hatte.

„Für diesen zukünftigen Gefängnisinsassen bleibt eine Zelle reserviert”, betont unser Tourguide.

Lukiškės ist auch aus der Musikszene von Vilnius kaum mehr wegzudenken. Wie aber ist es für Musiker*innen, an diesem besonderen Ort zu spielen? Um dieser Frage nachzugehen, habe ich mit Ignas gesprochen, der mit seiner Band Homechestra bereits mehrmals auf der Bühne von Lukiškės aufgetreten ist. Auf meine Frage, ob dies anders war als an gewöhnlichen Orten zu spielen, antwortete er:

„Es war aufregend, denn der Ort wurde bereits sehr in den sozialen Medien gehypt. Eine Sache, die vielleicht etwas verstörend war, war die folgende: Wenn man im Backstagebereich die Toilette benutzen will, dann ist diese in einer der Zellen. Man verwendet also die bestehende Infrastruktur des Gefängnisses. Das bringt einen dazu, darüber nachzudenken: Neben der Toilette steht ein Bett, in dem mal jemand geschlafen hat. Ich hatte bereits an einer Führung teilgenommen, von welcher mir am meisten diese Geschichte hängengeblieben ist: Die Gefangenen hatten Zugang zu den Büchern in der Bibliothek. Da der Zustand des Gefängnisses bereits sehr schlecht war, nahmen die Häftlinge die Bücher, um sie auf ihre Betten zu legen, damit es während des Schlafens wärmer war. Wenn man sich daran erinnert… es ist einfach sehr düster dort drin. An anderen Orten, die renoviert sind, ist es in Ordnung. Ich würde mein Empfinden als gemischte Gefühle beschreiben: Ich fand das nicht total verstörend, aber schon ein bisschen beunruhigend. Man erinnert sich an Dinge und stellt sich das Leben der Menschen im Gefängnis vor. Dort hat sich kaum etwas verändert. Es gibt immer noch ihre Inschriften an den Wänden. Es ist ein bisschen ungewöhnlich im Vergleich zu anderen Orten, an denen ich gespielt habe. An anderen Orten beurteilt man die Ausstattung, zum Beispiel wie die Bühne aufgebaut ist. In Lukiškės ist der Veranstaltungsort eine ‚Extraschicht‘, etwas, zu was der Ort erst später wurde. Es war nicht der ursprüngliche Sinn dieses Ortes. Man kann irgendwie spüren, dass man sich hier woanders befindet.“

Die Umwandlung des ehemaligen Gefängnisses in ein Kulturzentrum beurteilt er recht positiv. So würden die sonst verlassenen Gebäude des Komplexes für etwas Gegenteiliges, etwas, dass Freude bringen soll, genutzt werden. Seiner Meinung nach wäre ein partieller Umbau der Gebäude sinnvoll, um diese besser zu kulturellen Zwecken nutzen zu können. Hierbei sollten einige Teile zu Bildungszwecken bestehen bleiben, in anderen Bereichen könnte man allerdings die „Gefängnisästhetik loswerden“.

Ignas (Mitte) mit seiner Band Homechestra bei einem Auftritt im Innenhof des ehemaligen Gefängnisses

Mir persönlich wird Lukiškės 2.0 als besonderer und bizarrer Ort in Erinnerung bleiben – in meinem Kopf lassen sich die dort begangenen Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen der unterschiedlichen Regime kaum mit meinen Erlebnissen dort verknüpfen. Bereits bei einem Besuch in Vilnius vor einem Jahr war ich selbst bei einem Konzert im Innenhof des Komplexes gewesen. Hierbei erschloss sich mir dessen vielschichtige Geschichte in keiner Weise: Beim heutigen Spaziergang über das Gelände finden sich keine Hinweistafeln oder andere Formen der Erinnerung an die Ereignisse, die sich hier in der Vergangenheit abgespielt haben. Ich teile die Auffassung, dass Lukiškės als Kulturtreffpunkt zu einem lebensfrohen und kulturell bunten Ort geworden ist, dessen Tore vielen Menschen offenstehen. Gleichzeitig verschweigt er einen Großteil seiner Geschichte, wird den Ereignissen kaum gerecht und verliert dadurch das Potenzial zu einem die Grenzen Litauens überschreitenden Erinnerungsort zu werden.