Was für ein Ausblick! Nach einem recht steilen Aufstieg haben wir den Gipfel erreicht. Wir sind auf Entdeckungstour in der Sierra de Guadarrama, einer Gebirgskette in Zentralspanien. Unter uns erstreckt sich das „Valle de los Caídos“ (Tal der Gefallenen). Auch aus dieser Entfernung sticht das überdimensional große Kreuz, das „Santa Cruz“, aus dem umgebenden Grün heraus. 152 Meter ist es hoch – verrät der Wikipediaartikel, den wir uns auf der 45-minüten Autofahrt von Madrid noch schnell durchgelesen haben. Gemeinsam mit einem Freund bin ich bei zwei Freund*innen in der spanischen Hauptstadt zu Gast, um die beiden in ihrem Erasmussemester zu besuchen.

Wer – wie wir vier – die Vorlesung „Europäisches Gedächtnis im 21. Jahrhundert. Konflikte und Potentiale“ bei Herrn Kissel im ersten Semester besucht hat, hört vom spanischen Erinnerungsort „Valle de los Caídos“ nicht zum ersten Mal. Ich versuche mich an die Details zu erinnern. Als Herzstück der Geschichtspolitik Francos wurde es nach Ende des Bürgerkrieges ab 1940 durch Zwangsarbeiter*innen erbaut. Es war ein wahnwitziges Projekt, das den Bau einer riesigen Basilika in den Felsen des Gebirges beinhaltete, fast 20 Jahre andauerte und 14 Menschenleben kostete. Die meisten Arbeiter*innen waren politische Gefangene, denen eine Verkürzung ihrer Haft in Aussicht gestellt worden war. Was aber war der Sinn dieses überdimensionalen in Stein gehauenen Monuments? Es stellt eines der größten Mausoleen der Neuzeit dar, fast 34.000 Opfer des spanischen Bürgerkrieges wurden hier anonym in Urnen beigesetzt und – das ist das Verwunderliche – es handelte sich um Tote beider Seiten. Franquisten und Republikaner wurden hierbei „zwangsversöhnt“, der Erinnerungsort lässt sich als eine künstlich erzeugte Einheit der gespaltenen spanischen Gesellschaft verstehen, eine Legitimation für den Staat, an dessen Spitze sich Franco geputscht hatte.

Beigesetzt wurde hier auch José Antonio Primo de Rivera, Mitgründer der rechtsextremen Splittergruppe Falange, Vorläufer von Francos späterer Staatspartei. Primo de Rivera war bereits kurz nach Ausbruch des Bürgerkriegs hingerichtet worden. Franco instrumentalisierte dessen Tod für seine eigenen Zwecke, indem er ihn postum zum Märtyrer seiner Bewegung erklärte.

Auch Francos Leichnam befand sich bis ins Jahr 2019 noch in der Basilika. Beschlossen durch die sozialistische Regierung unter Sánchez und unter Protest von Familienangehörigen und ranghohen konservativen Politiker*innen erfolgte damals die Umbettung in einen Friedhof am Stadtrand Madrids.

Bis in die 2000er diente das Valle de los Caídos daher als ein Wallfahrtsort rechtsextremer Gruppierungen sowie linker Gegenaktionen – bis hin zu einer Bombenlegung. 2007 verbot das „Ley de Memoria Histórica“ (Gesetz der geschichtlichen Erinnerung) jegliche weiteren politischen Aktionen vor Ort.

Beim Betreten erschlägt mich die dunkle Weite des Komplexes. Da wir uns innerhalb eines Berges befinden, gibt es kein Tageslicht. An den Wänden thronen massive Soldatenstatuen, die mit christlichen Wahrzeichen ausgestattet sind. Diese Verknüpfung kriegerischer und religiöser Symbole – das Gleichsetzen der Soldaten mit Figuren des Christentums – ist allgegenwärtig. Tafeln erinnern an die Opfer des Bürgerkriegs und gedenken der Taten Francos.

„Der Gedenkort ist Teil der insgesamt umstrittenen spanischen Erinnerungskultur.“, meint Wikipedia. Bis heute konnten die politischen Lager in Spanien keine Einigung über die zukünftige Ausgestaltung des Komplexes erzielen. Während sich die Linke ein Dokumentationszentrum und ein Mahnmal für die Opfer der Franco-Diktatur wünscht, plädieren rechte Parteien für die Umbettung der Toten in einen Ehrenfriedhof. Die Vergangenheit sollte man ihrer Auffassung nach ruhen lassen.

Letztendlich blieb der Ort daher so erhalten, wie er initial erdacht worden war. Bei unserem Besuch haben wir das Gefühl, die Zeit sei hier stehen geblieben. So suchen wir vergeblich nach Hinweisschildern, welche den Bau in einen geschichtlichen Kontext setzen, über Opfer des Franquismus informieren und das Regime verurteilen. Über dem Grab Primo de Riveras (und bis 2019 Francos) werden bis heute tägliche Messen durch die Mönche des Klosters abgehalten. Bei unserer Besichtigung liegen hier ein Kranz und Blumen auf der Grabplatte, auf welcher Primo de Riveras Name zu lesen ist.

Wieder draußen muss ich erstmal durchatmen. Vor dem Gebäude erstreckt sich ein weitläufiger Aufmarschplatz. Die wenigen Menschen, die außer uns da sind, machen Selfies und lächeln in die Kamera. Es ist nicht Saison. Große Busparkplätze, ein Hotel und Restaurant erwecken aber den Eindruck, dass dies im Sommer ein beliebter Ort für Ausflüge ist.

2022 verabschiedete das spanische Parlament ein neues Erinnerungsgesetz. Das „Ley de Memoria Democrática“ (Gesetz zur demokratischen Erinnerung) verbietet erstmals die Verherrlichung der Person Francos, verankert Aufklärung über das Regime im Schulplan und sieht eine Umbenennung des Tales der Gefallenen in „Valle de Cuelgamuros“ (Tal von Cuelgamuros) vor. Auch Primo de Riveras Leichnam soll nun umgebettet werden. Widerstand kommt von den rechten Parteien, die bereits angekündigt haben, im Falle eines Regierungswechsels das Gesetz kippen zu wollen.

Das Valle de los Caídos ist ein durch Franco erschaffener Erinnerungsort, der bis heute keine wesentliche Umdeutung erfahren hat, und so den fehlenden gesellschaftlichen Konsens über die Verurteilung des Franco-Regimes in Spanien symbolisiert. Durch seine fast geisterhafte, weltfremde Erscheinung offenbart er die hier spürbare Absenz eines Diskurses über die Diktatur, welche das Land fast 40 Jahre lang prägte und dessen Folgen sich bis heute bemerkbar machen.