„Die wilden 90er“ – diesen Begriff höre ich zum ersten Mal von meinem litauischen Freund Paulius. „Wild?“, frage ich nach. „Chaotisch, ohne Ordnung und klare Zukunftsperspektive“, erhalte ich als Erklärung. Um diese Aussagen einordnen zu können, ist es notwendig, in der Geschichte des südlichsten der drei baltischen Staaten zurückzugehen: Litauen erklärte sich am 11. März 1990 im Rahmen der Singenden Revolution als erste Sowjetrepublik unabhängig und markierte damit den Beginn des Zerbrechens der Sowjetunion. 50 Jahre zuvor hatte diese das mit ca. 3 Millionen Einwohner*innen bevölkerungsreichste baltische Land völkerrechtswidrig annektiert. 1991 löste sich die UdSSR nach dem gescheiterten Augustputsch auf. Hierdurch erlangte Litauen seinen Status als eigenständiger Staat wieder, der sich nun mit neuen Herausforderungen konfrontiert sah. Wirtschaftskrise sowie politische und gesellschaftliche Instabilität, auch aufgrund noch fehlender Institutionen und Behörden, zeichneten das Land über das erste Jahrzehnt in Unabhängigkeit hinaus.

Paulius Pakutinskas, 1990 geboren, erlebte diese Jahre als Teil seiner Kindheit. Auch diese charakterisiert er als wild. Wie bei vielen Kindern seiner Generation wurde sie durch die Abwesenheit der Eltern geprägt. So erinnert er sich an zahlreiche Tage, die er alleine draußen verbrachte ohne Absprachen mit seinen Eltern. Die Erziehung überließ man größtenteils der Schule, gemeinsame Zeit mit den Eltern gab es kaum. Diese hatten größere Sorgen: Korruption, Arbeitslosigkeit, hohe Preise und Lebensmittelknappheit bestimmten den Alltag der Litauer*innen in den 90er Jahren. Nach dem Zerfall der Sowjetunion kletterte die Inflation in unbekannte Höhen. Hiervon versuchte man sich durch die Einführung einer vom Rubel unabhängigen Übergangswährung zu erholen. Es mangelte dem Staat, der 50 Jahre lang zentralisierte Planwirtschaft nach Maßstäben Moskaus betrieben hatte, an eigenen wirtschaftlichen Strukturen. „Ich denke, in dieser Situation lag der Fokus weniger auf persönlichen Dingen, als darauf, Geld zu verdienen und unsere Familie durch die Krise zu bringen“, meint Paulius. Er bekam als Kind selbst zu spüren, dass das Geld fehlte. So konnte er sich wie viele seiner Klassenkamerad*innen Schulbücher nicht kaufen und an Exkursionen nicht teilnehmen. Über mehrere Wochen musste die Familie sparen, um sich eine Kleinigkeit leisten zu können.

Der Vater der Familie wechselte in dieser Zeit mehr als einmal den Job. Die Mutter besaß als Lehrerin zwar eine sichere Anstellung, das ohnehin niedrige Gehalt konnte die Schule ihr aber monatelang nicht pünktlich auszahlen. Da die Familie einen Kredit für ihre Wohnung aufgenommen hatte, geriet sie in finanzielle Schwierigkeiten und musste sich bei Paulius´ Großeltern Geld leihen. Ona, die Großmutter meines Freundes, arbeitete vor der Unabhängigkeit in einer Lederfabrik, deren Betrieb im Zuge der Auflösung der Sowjetunion eingestellt wurde. Auch hier war das Geld also knapp. „Viele Fabriken schlossen damals und es gab eine große Anzahl an Menschen, die mit einem Schlag arbeitslos wurden“, berichtet sie heute. Auch dieser Umstand habe den Satz bedingt, der in den ersten Jahren oftmals zu hören war: „Prie ruso viskas buvo gerai“ (Dt.: Unter den Russen war alles besser). Viele Litauer*innen waren enttäuscht. „Wie sollten wir es als kleines Land ohne Ressourcen und umgeben von großen mächtigen Nachbarn alleine schaffen, aus dieser Situation herauszukommen?“ habe sie damals gedacht. Russische

Edita mit ihren beiden Kindern Mitte der 90er Jahre 

Sanktionen verschärften die ohnehin angespannte wirtschaftliche Situation. Mehrere Korruptionsskandale erschütterten die Politik und führten zu Misstrauen von Teilen der Bevölkerung gegenüber dem entstehenden System. Die neue Verfassung, die sich an ihrem Vorläufer der litauischen Republik der Zwischenkriegsjahre 1918 – 1940 orientierte, trat nach erfolgreichem Referendum 1992 in Kraft und schuf eine parlamentarische Demokratie.

Die Großeltern meines Freundes bekamen nach der Unabhängigkeit ihr in der Sowjetunion vergemeinschaftetes Land zurück. Dies war nicht selbstverständlich, sondern hing mit der Tatsache zusammen, dass ein entfernter Verwandter Verbindungen zur zuständigen Behörde besaß. Bis heute gibt es Rechtsstreitigkeiten über die Zugehörigkeit bestimmter Landbereiche in Litauen. Durch die eigene Landwirtschaft konnte sich die Familie in den schwierigen Zeiten mit Lebensmitteln zum Teil selbst versorgen. „Das war für unsere Familie wirklich ein Segen“, erklärt mir Paulius´ Mutter Edita.

Ona bei der Arbeit in der Fabrik (Bild in den 80er Jahren aufgenommen)

Die Familie lebte damals wie heute in der zentral in Litauen gelegenen Kleinstadt Kedainiai, welche in den 90ern kein immer sicheres Pflaster darstellte. Schlägereien auf der Straße gehörten zum Alltag, ebenso Diebstahl und Messerstechereien. Paulius erinnert sich daran, dass sein Vater und er für gewöhnlich seine Mutter gemeinsam vom Supermarkt abholten, wenn es dunkel wurde. Einmal stießen ihn mehrere Männer vom Fahrrad, um dieses zu stehlen. „Danach habe ich mit Karate und Selbstverteidigung angefangen“, erzählt er. Zum Stadtbild gehörten auch Straßengangs, um die man besser einen Bogen machte. Manche Bezirke sollten die Menschen nachts daher nicht betreten. Edita berichtet von vor allem in größeren Städten aktiven mafiösen Strukturen. Gingen Besitzer*innen eines Ladens oder einer Firma auf die Schutzgelderpressungen nicht ein, wurden Häuser in Brand gesteckt. Die Polizei schien machtlos, diesen Strukturen zu begegnen. „Die Polizei war selbst total korrupt und als Institution schwach“, erinnert sie sich.

Auch die nach der Unabhängigkeit einsetzende Emigrationswelle hinterließ spürbare Folgen. So ist die Bevölkerung seit 1991 um mehr als eine halbe Million Menschen geschrumpft. Oftmals verließen vor allem junge Menschen auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen das Land, in den 90er Jahren stellte Großbritannien das beliebteste Auswanderungsziel dar.

Anfang der 2000er bemerkte die Familie erste Verbesserungen im Alltag. Die ökonomische Krise entschärfte sich schrittweise. Zunehmend stabilisierte sich der litauische Staat durch neu geschaffene Institutionen, Reformprozesse und den Aufbau internationaler Beziehungen. 2004 wurde Litauen, das seit seiner Unabhängigkeit eine Orientierung in Richtung Westen angestrebt hatte, Mitglied der Europäischen Union sowie der NATO.

Heute gehören die „wilden 90er“ der Vergangenheit an, haben aber Spuren hinterlassen. Die Ende der 80er und in den 90ern geborene Millenial-Generation in Litauen erlebte die sowjetische Ära selbst nicht mehr, dennoch wurde ihr Aufwachsen durch die Auswirkungen der Auflösung des Systems nachhaltig geprägt. Sie haben den Ruf, besonders individualistisch und eigenständig zu sein, da sie früh lernen mussten, alleine zurecht zu kommen. Paulius glaubt, er habe Dinge wertschätzen gelernt, die in seiner Kindheit nicht selbstverständlich waren. „Wenn man diesen Jahren doch etwas Positives abgewinnen will“, sagt er heute, „dann vielleicht, dass ich dadurch ein dickes Fell gewonnen habe.“

 

Von Orientierungslosigkeit, Alkohol und den vermeintlichen Nazis im Westen

Interview mit Paulius´ Onkel Arunas Goštautas, 1970 geboren, über die 90er Jahre in Litauen

Arunas Goštautas erlebte den Übergang von der Sowjetunion zum heutigen Litauen als 20-Jähriger, der gerade seinen zweijährigen sowjetischen Militärdienst im russischen Murmansk leistete. Das Interview fand mit litauischer Übersetzung statt.

 

How do you remember the first years after Lithuania gained independence?

It was a fast changing moment. One minute you were living in one system and the next minute you were already establishing and creating something new. Everything started to change radically after 11th March, 1990 (Anm. d. Red.: Tag der litauischen Unabhängigkeitserklärung). I remember I was in the army and my duties were coming to an end. I started my time in military in one system and finished it in another one. Those were crazy times. For me as a young 20 year old it was too much. I felt so lost and without a place when I got back from the army. I felt very uncertain how my future would look like. At that moment I didn’t understand clearly what was going on. I remember that when I got back, there was so much uncertainty. You were not sure how you were going to live a year later or in a 10-year period from that day – you were not even sure about the next day. Many factories, companies and institutions were closed, lots of losses and shutdowns. At that moment I was living from part-time-jobs, so for me it wasn’t very bad, but I know that for other people those years from the 90s to the end of the century were especially difficult. The salaries were low, social guarantees were unreliable and the legal system was very shady.

How safe was it to live in Lithuania in that time?

I remember that you could open any newspaper and it would be full of stories about crime, mafia wars, shooting, looting, thievery etc. Mafia shootings and attacks were happening everywhere on a weekly basis. It was a difficult time to keep your car outside, leave your home unattended or carry big amounts of cash with you. When you would call the police to tell them about an incident happening they would reply that they were too busy and did not have any capacities to send anybody.

What other problems were burdensome?

We all had financial worries. Back then there was no trading or fiscal system. People were making money by trading goods on the black market. Since the tax system was still in a developing stage, commerce specialists had their golden age. Living off your regular salary was very difficult, so you definitely needed a side work or even several to earn some more money. Blat (Anm. d. Red.: Das russische Wort “Blat” bedeutet übersetzt Vetternwirtschaft und steht als Begriff für ein korruptes System u.a. aus Schwarzmarkt, informellen Absprachen und Einflussnahme in der Politik) was common everywhere.

Ein 2-jähriger Wehrdienst war in der Sowjetunion verpflichtend

If you didn´t have any connections or contacts, you couldn´t find a good job. Procedures like nepotism and corruption through family connections were deeply rooted in the Soviet system. After the independence the system was legally different, but everything else was still the same.

What was your job situation like?

One of my colleagues proposed to go to Germany, because the work we had was just a part-time-job and we needed money. We went there as a group of four co-workers in hope of finding just any job to earn some money. My expectations were very different from reality. I remember a lot of propaganda on the news, where they were telling us that Western Europe was full of crimes and Nazis and Fascists. In general they made it sound like a very bad place to be. But when I got there everything was so different. I was so impressed by everything I saw: Cars, buildings, people. The sense of community was very strong. People were so generous and helpful, they always turned to you if you needed help or support. You could feel that a human being was getting respect and was valued there – unlike in our Soviet world, where everyone was forced to believe, that we had the strongest community bound, but in truth everybody was just fighting to survive and I think the dignity of the human being was destroyed.

What role did alcohol play in society at that time?

A big role. Uncertainty about your pension, insurance or your work situation – everything was very fragile, so alcohol was one of those things, that helped to forget about things. I was also involved in drinking, but when I went to Germany, I realized that drinking can also be understood differently. I believe that drinking was a way to escape the depression and false hopes and it gave you this feeling of pretending to be somebody that you´re actually not.

What was your opinion on independence before and after it actually happened?

If you would have asked me back then, when I was in my 20s, I would have said, that we didn’t need independence. I´m speaking about that shock I got after coming back from army and finding myself in a completely different system. But if you ask me now, when I’m 30 years older, I tell you I’m very happy, that it happened. I remember I always wanted to come back to Lithuania to live here, I didn’t want to move anywhere else (Anm. d. Red.: Arunas pendelte 10 Jahre bis Anfang der 2000er zwischen Litauen und Deutschland, wo er für ein Bauunternehmen tätig war). In the 2000s things started getting better and you could personally feel the change. When I look at my country now I´m thinking: “Wow, I cannot believe how much we achieved in just 20 years”. The gap between Western and Eastern Europe is getting smaller and smaller every year. Our institutions are very effective now: police, military, special forces. We have systems, that can compete with other countries and be rated as equal. We were left without a thing: no money, no infrastructure, no working institutions, but just chaos and uncertainty. And slowly you see that things are changing for the better. And look at Lithuania today: The crime rate is the smallest in history, corruption is suppressed.