Im August des vergangenen Jahres feierte Estland seine vor 30 Jahren wiedererlangte Unabhängigkeit. Es lohnt sich im Rahmen des Jubiläums einen Blick auf die Ereignisse zu werfen, die diesem Moment vorausgingen. Beim Begriff Revolution werden die wenigsten Menschen an Chormusik denken. In Estland aber ermöglichte genau diese Kombination in Form der „Singenden Revolution“ in den Jahren 1987 bis 1991 den friedlichen Übergang zur lang ersehnten Unabhängigkeit. Im Folgenden soll eine außergewöhnliche Geschichte erzählt werden, aus der sich die Musik nicht wegdenken lässt.

Rund 1.3 Millionen Menschen leben heute in dem nördlichsten der drei baltischen Staaten, welcher im Osten an Russland und im Süden an Lettland grenzt. Die Geschichte Estlands ist einerseits geprägt von einer starken Verwurzelung im heutigen Gebiet Estlands andererseits durch eine schier endlose Aneinanderreihung von Besatzungen. Nach 700-jähriger Fremdherrschaft unter Dänemark, dem Deutschen Orden, Polen-Litauen, Schweden und Russland erklärte sich Estland nach Ende des Ersten Weltkriegs unabhängig. „Für ewige Zeiten“ verzichtete die russische Regierung unter Lenin in einem Friedensvertrag von 1920 auf estnisches Gebiet. Gerade mal zwanzig Jahre später besetzten sowjetische Truppen Estland erneut. In einem geheimen Zusatzprotokoll des Molotow-Ribbentrop-Paktes hatten Stalin und Hitler die Aufteilung der osteuropäischen Gebiete zwischen ihren beiden Regimen festgelegt. Unterbrochen wurde die sowjetische Okkupation bis 1991 nur noch einmal durch die drei Jahre anhaltende Besatzungszeit unter NS-Deutschland bis 1944.

„Wir waren, sind und werden sein“ (Tallinn 1988)

Mit Scheinwahlen wurde ein freiwilliger Eintritt in die UdSSR 1940 als neue Sowjetrepublik proklamiert. Zwangskollektivierungen, Deportationen und der Versuch der „Russifizierung“ – einer Umgestaltung der Kultur nach sowjetischem Maßstab verbunden mit dem Verbot der estnischen Sprache und nationaler Bräuche in vielen Bereichen – prägten den Lebensalltag. Tausende Russ*innen wurden nach Estland umgesiedelt, um diesen Prozess voranzutreiben. Abnehmende Brutalität gegen die Bevölkerung unter den Nachfolgern Stalins weckte auf estnischer Seite Hoffnungen auf größere Autonomie, die aber im weiteren Verlauf enttäuscht wurden.

Zu dem durch Gorbatschow Mitte der 1980er auf den Weg gebrachten Reformprozess der UdSSR gehörte neben „Perestroika“ (Umgestaltung) auch „Glasnost“ (Offenheit). Dies eröffnete 1987 in Estland die Möglichkeit der ersten Demonstrationen. Sie richteten sich gegen Pläne, im Nordosten des Landes Phosphat in großem Stil und mit unabsehbaren schädlichen Folgen für die Umwelt abzubauen. Moskau legte daraufhin die Pläne auf Eis, wodurch sich viele Regimekritiker*innen bestärkt fühlten. Ein Bestandteil dieser ersten Protestbewegung war das „Estnische Lied“, das eigens zu diesem Zweck geschrieben worden war und die Sorge um die estnische Natur zum Inhalt hatte. Die „Singende Revolution“ fand so ihren Ursprung in einer Umweltschutzbewegung.

Hierzu muss man wissen, dass Estland eine lange Tradition des Singens hat. So spielte sie eine entscheidende Rolle für die Ära des „nationalen Erwachens“ im 19. Jahrhundert, eine Zeit, in der sich ein nationales Bewusstsein maßgeblich formte. Von 1869 an fanden alle fünf Jahre sogenannte Sängerfeste statt. Hierbei traten unterschiedliche Chöre auf, die gemeinsam mit dem Publikum neben religiösen Liedern zunehmend estnische Volkslieder anstimmten. Auch in der sowjetischen Besatzungszeit fanden diese statt. Trotz eines offiziellen Verbots estnischer patriotischer Lieder endeten sie stets mit dem Lied „Mu isamaa on minu arm“ (Mein Vaterland ist meine Liebe), dessen Text aus einem Nationalgedicht stammt. Zum ersten Mal wurde der Text anlässlich des ersten Sängerfestes 1869 vertont. Die 1944 durch den estnischen Komponisten Ernesaks neu komponierte Version erlangte während der Besatzungszeit den Status der heimlichen Hymne Estlands.

Die estnischen Sängerfeste

Die Entstehung der estnischen Sängerfeste vor mehr als 150 Jahren stand unter dem Einfluss der deutschbaltischen geistlichen Chormusik. Zunächst war die Teilnahme nur männlichen Chören vorbehalten, welche im Rahmen des ersten Sängerfestes in Tartu überwiegend geistliche und gerade mal zwei estnische Lieder sangen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts konnten auch Frauen- und Kinderchöre teilnehmen, estnische ersetzten zunehmend russische und deutsche Lieder. Die Veranstaltung wurde 1896 in die spätere Hauptstadt Tallinn verlegt, woran heute ein Ritual zu Beginn der Sängerfeste erinnert: Eine in Tartu entzündete Fackel wird bis zum Tallinner Sängerfeld getragen, dort entfacht sie das Feuer im Hochturm. Hiermit beginnt jedes Sängerfest, das sich gemeinsam mit Tanzfesten über mehrere Tage erstreckt. Die meisten estnischen Zuhörer*innen können die Lieder – eine Mischung aus traditionellen und modernen Kompositionen – mitsingen und erscheinen in traditioneller Tracht. Das Repertoire spiegelt den estnischen Zeitgeist wider, fester Bestandteil sind bis heute die Lieder der Singenden Revolution.

Zurück im Jahr 1987 schlug die „Ökobewegung“ in grundsätzliche Kritik am bestehenden System um. Am 23. August, dem Jahrestag des deutsch-sowjetischen Nicht-Angriffspaktes, forderten Regimekritiker*innen in einer genehmigten Demonstration die Veröffentlichung des geheimen Zusatzprotokolls und damit die Offenlegung der unrechtmäßigen Annexion Estlands durch die Sowjetunion. Neben der „estnischen Gruppe zur Veröffentlichung des Molotow-Ribbentrop-Paktes“ entstanden 1988 weitere Unabhängigkeitsbewegungen wie die „Rahvarinne“ (Volksfront). Die Revolution gewann an Form und Farbe. So wurde im April 1988 im Rahmen einer Demonstration die estnische Flagge zum ersten Mal seit knapp 50 Jahren wieder gehisst. Um das eigentliche Verbot zu umgehen, wurden drei einfarbige Fahnen verwendet, die gemeinsam die estnische Flagge in blau-schwarz-weiß ergaben. Ein Jahr später zum Jahrestag der Ausrufung der freien Republik wehte sie bereits wieder über dem estnischen Parlament.

Demonstration der MRP-AEG (estnische Gruppe zur Veröffentlichung des Molotow-Ribbentrop-Paktes) in Tartu, der zweitgrößten Stadt Estlands

Rund 300.000 Est*innen beim Eestimaa laul auf dem Tallinner Sängerplatz

Veränderungen waren auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu spüren. Im Sommer des Jahres 1988 wurde Estland von einer Welle sich neu gründender junger Rock- und Popbands erfasst. Diese verbanden nationale Themen mit moderner Musik und spielten vor Tausenden von Zuschauer*innen. Überall im Land fanden zudem nun Sängerfeste statt, bei denen traditionelle estnische Lieder angestimmt wurden und die sich zum Motor der friedlichen Revolution entwickelten. Die Menschen drückten ihren Wunsch nach staatlicher Unabhängigkeit in nationalen Liedern aus. Als Höhepunkt dieser musikalischen Bewegung ereignete sich im September 1988 das größte Sängerfest „Eestimaa laul“ (Estlands Lied) in Tallinn, an dem rund 300.000 – ein

Viertel der estnischen Bevölkerung – teilnahmen. Gegen den Wunsch der Veranstalter*innen, die ein Eingreifen der Besatzungsmacht fürchteten, kam es zu hitzigen politischen Ansprachen, in denen die Forderung nach Unabhängigkeit offen formuliert wurde. Während seiner Rede sprach so der Regimekritiker Heinz Valk folgende Worte, die in das kollektive Gedächtnis Estlands eingehen sollten: „Ükskord me võidame niikuinii!“ (Eines Tages werden wir sowieso gewinnen). Im gleichen Jahr erklärte der Oberste Sowjet in Estland die Republik als souverän, was Gorbatschow als „politisches Abenteuertum“ verurteilte.

1989 begann eine Kooperation zwischen Estland und den beiden anderen baltischen Staaten Lettland und Litauen, in denen parallel vergleichbare Entwicklungen stattgefunden hatten. Diese Zusammenarbeit ist nicht so selbstverständlich, wie sie heute erscheinen mag, da die Sowjetrepubliken zu diesem Zeitpunkt stark voneinander isoliert waren. Aus den Volksfronten der drei Länder entstand ein gemeinsamer „baltischer Rat“. Am 23. August 1989 – erneut am Jahrestag des Molotow-Ribbentrop-Paktes – organisierten sie gemeinsam den „Baltischen Weg“: eine 620 km lange und aus etwa 2 Millionen Menschen bestehende Menschenkette durch alle drei baltischen Staaten. Die Teilnehmer*innen der Aktion forderten eine friedliche Wiederherstellung der drei Länder auf Basis der Offenlegung des geheimen Zusatzprotokolls des Nichtangriffspaktes. Dieses Ereignis gelangte auch in die westlichen Schlagzeilen und verschaffte dem Baltikum mit seinem Streben nach Unabhängigkeit internationale Aufmerksamkeit.

Auf der anderen Seite des bereits bröckelnden Eisernen Vorhangs begannen in Deutschland im Frühjahr 1990 die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten. Diese bedeuteten für die Unabhängigkeitsbewegungen in Estland, Lettland und Litauen eine Enttäuschung: Die erhoffte Unterstützung aus dem Westen blieb aus. Bundeskanzler Kohl empfahl den baltischen Staaten die „Politik der kleinen Schritte“, woraufhin der estnische Außenminister Meri ironisch zurückfragte, warum der Kanzler denn nicht den Ostdeutschen empfohlen habe, die Berliner Mauer „Stein für Stein“ abzubauen.

Der Baltische Weg durch alle drei baltischen Staaten am 23. August 1989

In Moskau dagegen schien nach dem Mauerfall ein neuer Wind aufzukommen. Russische Truppen wurden ins Baltikum verlegt. Im Januar 1991 kam es in Vilnius und Riga zu blutigen Auseinandersetzungen mit dem sowjetischen Militär, bei denen mehrere Demonstrierende getötet wurden. Trotz dieser offenen Bedrohung rief der neu gegründete estnische Kongress im März 1991 zu einem Unabhängigkeitsreferendum auf, bei dem 78% der registrierten Bürger*innen für den Ausstieg aus der Sowjetunion stimmten.

Noch im Sommer desselben Jahres, am 19. August 1991, ereignete sich in Moskau ein Putschversuch reaktionärer Kräfte. Er richtete sich unter anderem gegen Gorbatschows Pläne eines neuen Unionsvertrages, der den Republiken aus ihrer Sicht zu viel Macht gegeben hätte. Es sollte der letzte Versuch sein, die Sowjetunion zusammen zu halten. Bereits am darauf folgenden Tag erklärte sich der estnische Oberste Rat mitten in den Wirren des Putsches und trotz anrückender russischer Panzer an der Grenze für unabhängig. Die gegnerischen Parteien standen sich am Tallinner Fernsehturm gegenüber, der durch Demonstrant*innen umstellt worden war. Eine gewaltsame Auseinandersetzung schien unausweichlich. Dann erreichte Estland die Nachricht, dass der Staatsstreich in Moskau gescheitert war.

Dieser Moment läutete das Zerbrechen der Sowjetunion ein und bedeutete für Estland die Unabhängigkeit. Wenige Tage später wurde diese international anerkannt und diplomatische Beziehungen erneut aufgenommen. Estland gelangte gemeinsam mit Lettland und Litauen über einen Sitz in der Generalversammlung der Vereinten Nation zurück auf die internationale Landkarte. Im September 1991, fast drei Jahre nach „Eestimaa laul“, fand auf dem Tallinner Sängerfest das Sängerfest „Lied der Freiheit“ statt, bei dem 100.000 Est*innen gemeinsam sangen und ihren gewonnenen Unabhängigkeitskampf feierten.

Zum 30. Jahrestag der estnischen Unabhängigkeit fand die Premierministerin Kajas Kallas am 20. August 2021 die folgenden Worte: „Die Zeit ist kurz genug, um sich noch lebhaft an kleine Glücksfälle und unsichere Momente zu erinnern und zu antworten, ja, genau so ein Estland haben wir uns gewünscht. Sicher, friedlich, stabil, europäisch, ein bisschen nordisch und zugleich sehr einzigartig.“ Auch zu diesen Festlichkeiten fanden – wie könnte es anders sein – Sängerfeste an vielen Orten in Estland statt.

Einen bildlichen und musikalischen Eindruck der Singenden Revolution kann man hier gewinnen. Das Hintergrundlied „Isamaa ilu hoieldes“ (Zur Ehren der Schönheit des Vaterlandes) stammt aus dem musikalischen Repertoire der Revolution.

Die estnischen Sängerfeste haben eine bis heute andauernde Tradition und gehören mittlerweile (gemeinsam mit den lettische und litauischen Sängerfesten) zum immateriellen UNESCO Weltkulturerbe, hier ist „Mu isamaa on minu arm“ gesungen auf dem Sängerfest in Tallinn 2019 anzuhören.

Alle Fotographien stammen aus dem Archiv des Estonian National Museum in Tartu. Das erste Bild wurde nachträglich farblich (entsprechend der estnischen Flagge) bearbeitet.