In Teil 1 “So lebt man in Moskau heute: Identität und Kommunikation” bin ich Hermann Pörzgens beruflichen Erfahrungen als Korrespondent im Moskau der 1950er Jahre gefolgt. Im zweiten Beitrag bewege ich mich auf der Ebene der Institutionen:
„In alten Schlössern und Kaufmannspalais“
„Die persönliche Residenz des einstigen deutschen Botschafters Graf Schulenburg beherbergt gegenwärtig den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche und seine Behörde, den Heiligen Synod. […] Es ist jedoch Tatsache, daß der bundesdeutsche Botschafter eine architektonisch bedeutend schönere Residenz erhielt, auch in günstiger Lage, nach ihrer Herrichtung und geschmackvollen Ausstattung ein wahres Schmuckkästchen, das sich mit den besten Diplomatenhäusern Moskaus messen kann. Auch mit dem Kanzleigebäude, etwas abgelegen in der Gegend des Zoologischen Gartens, hat die Botschaft keinen schlechten Griff getan.“ (S. 17)
In Moskau hatte Deutschland mit seinen Botschaften mehr Glück als zuvor in St. Petersburg. Kaum hatte man dort ein neues, imposantes Gebäude fertiggestellt, da brach der Erste Weltkrieg aus. Nach der Oktoberrevolution verlegten die Sowjets die Hauptstadt nach Moskau. Die deutsche Botschaft folgte. 1941 berief sie nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion ihr Personal ab. Nach dem Krieg wurden mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 1949 zwei Vertretungen nötig. Umgekehrt stellte sich nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 die Frage, wie man verfahren wollte. Die ab 1984 neugebaute bundesdeutsche Botschaft an der Mosfilmowskaja Uliza wurde gesamtdeutsche Botschaft. Der Botschafter residiert in einer Villa in der Powarskaja Uliza. Das DDR-Botschaftsgebäude am Leninskij Prospekt übernahm Teile des gesamtdeutschen Konsulats. Den Rest des Gebäudes stellte man Goethe-Institut und DAAD zur Verfügung. Das Gebäude erwies sich leider als asbestverseucht, es soll nun abgerissen werden. Mitten im Corona-Lockdown zog der DAAD deswegen in Räumlichkeiten im „Deutschen Dorf“ am Prospekt Wernadskogo, bestehend aus Hochhäusern, die einst für DDR-Angehörige erbaut worden waren. Das Goethe-Institut plant einen Neubau an anderer Stelle. Die Villa, die Hermann Pörzgen erwähnt, befindet sich in der Bolschaja Grusinskaja. Nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bundesrepublik Deutschland und Sowjetunion 1955 diente sie ab 1956 als Botschaftssitz. Heute befindet sich dort die Werkstadt des Bildhauers Surab Zereteli, dessen Werke in Moskaus öffentlichem Raum sehr präsent sind, weil Zereteli der Lieblingskünstler von Jurij Luschkow, von 1992 bis 2019 Moskaus Oberbürgermeister, war. Bekanntestes und umstrittenstes Beispiel ist die Skulptur von Peter dem Großen im Fluss Moskwa. Luschkow starb übrigens 2019 in einem Krankenhaus in Deutschland – was nichts mit den Botschaftsgebäuden zu tun hat.
„Deutscher Konsul – Mädchen für alles“
„Die vordringlichste konsularische Aufgabe bildet natürlich die Betreuung der eigenen Staatsbürger in der Sowjetunion. Angefangen von der Hilfe bei Erteilung der Visen oder Sorge für die Unterkunft erstreckt sie sich sogar auf die kompliziertesten Notariatsgeschäfte.“ (S. 19-20)
Daran hat sich grundsätzlich wenig geändert. Die Botschaft ist die Anlaufstelle, wenn man Unterstützung braucht. Oder Sehnsucht nach Brezeln hat. Im Gebäudekomplex der Botschaft an der Uliza Mosfilmowskaja gibt es einen Bäcker, bei dem man sonntags Laugengebäck und in der Weihnachtszeit Stollen bekommt. Über das Geschäft unter der Woche weiß ich nichts, weil ich den Laden immer nur sonntags vor und nach dem Gottesdienst offen erlebt habe. Zwei SeelsorgerInnen sind nach Moskau entsandt, eine Pastorin der evangelischen und ein Pfarrer der katholischen Kirche. Die Gemeinden wechseln sich am Sonntag für die Messe bei der Nutzung des Mehrzweckraums ab. Um 10 Uhr starten die Katholiken und müssen pünktlich um 11 Uhr fertig sein, um den Protestanten Platz zu machen. Allzu ausführlich darf die katholische Predigt also nicht ausfallen.
„Nur Entschädigungsansprüche werden aus grundsätzlichen Erwägungen von der Botschaft nicht geltend gemacht.“ (S. 21)
Dieser Satz ist eine der wenigen Stellen, an denen Hermann Pörzgen sich, und auch das nur sehr vage, auf den Zweiten Weltkrieg bezieht. Den ausformulierten Gedanken kann man unschwer weiterdenken: Es wäre schon äußerst vermessen, wenn Deutsche nach ihren Kriegsverbrechen und nachdem durch sie Millionen Menschen in der Sowjetunion gestorben sind, keine 15 Jahre später Entschädigungen verlangen würden.
Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wird inzwischen noch stärker herausgehoben als zu Sowjetzeiten. Als Hermann Pörzgen in Moskau war, war der 9. Mai, der Tag des Sieges, ein normaler Arbeitstag. Erst ab 1965 fanden alle fünf Jahre überhaupt Paraden statt, am 1. Mai dagegen jährlich. Putin knüpfte 2000 an die Paradentradition an, seither wird am 9. Mai alles aufgefahren, was das Waffenarsenal hergibt. 2020 verschob man die Parade coronabedingt auf den 23. Juni, 2021 wurde wieder wie gewohnt marschiert.
Zur Gruzinskaja 17, s, buch unter demselben Titel von Ehlert
Al s Gaststudentin an der MGU 1962/63 erinnere ich mich an die Anrede der Professoren” sovjetskise tovarisci i vse russkojazycnye..” ich war übrigens nicht gderka sondern efergeika moder “iz vaschei germanii”
Danke für den Hinweis auf Nikolaus Ehlerts “Große Grusinische 17 – Deutsche Botschaft in Moskau” (1968). Antiquarisch ist es noch zu haben, auch verschiedene Bibliotheken (in Bremen die Bibliothek der Forschungsstelle Osteuropa) verfügen darüber.
Die Erfahrungen als “efergeika” Anfang der 1960er waren sicher einprägsam!