Von zwei, vielen und zu wenig Geschlechtern

von Moritz Rocho

Quelle: Pixabay.

Chromosomen, Keimdrüsen und Hormone – Welche Merkmale machen eigentlich das biologische Geschlecht aus? Und wie viele biologische Geschlechter gibt es? Welchen Weg ein Individuum zur Festlegung eines Geschlechts nimmt hängt von vielen Faktoren ab. Verschiedene Variationen auf diesem Weg zeigen ein breites Spektrum unterschiedlicher Ausprägungen auf.

Der Wissenschaftsjournalismus hat noch viel Spielraum, diverser zu werden, wie die Genderdebatte auf der „Wissenswerte 2022“ thematisiert hat. In den Medien und der Öffentlichkeit werden die Geschlechter nicht gleich repräsentiert. Wenn im Deutschen vom menschlichen Geschlecht die Rede ist, werden die Begriffe des sozialen Geschlechts (englisch gender) und des biologischen Geschlechts (englisch sex) unterschieden. Je mehr man sich mit diesem Unterschied beschäftigt, desto schneller stellen sich Fragen: Was ist denn nun eigentlich ein biologisches Geschlecht? Und wie viele gibt es?  

Auch auf der „Wissenswerte“ wurde – moderiert von Wissenschaftsjournalist Axel Bach (u.a. Quarks) – darüber diskutiert. Ob es die Definition eines biologischen Geschlechts gibt und was für welche Anzahl an Geschlechtern spricht, möchte ich in meinem Artikel beleuchten. 

Der Weg zum Geschlecht 

Die menschliche Fortpflanzung funktioniert durch Anisogamie, also durch die Vereinigung zweier Keimzellen: einem größeren Gameten, der weiblichen Eizelle, sowie der deutlich kleineren beweglichen Samenzelle (Spermium). Diese beiden Gameten lassen sich eindeutig einem der beiden biologischen Geschlechter männlich oder weiblich zuordnen. 

Der erste Schritt zur Differenzierung der Geschlechter erfolgt genetisch sofort nach der Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle durch die Chromosomenkombination XX oder XY. Besitzt der Embryo Y-Chromosomen bzw. die Kombination XY gilt dies als männlich, die Kombination XX als weiblich. Die Entwicklung bleibt jedoch zunächst indifferent, die genetisch männlichen und weiblichen Embryonen entwickeln sich vorerst gleich. Nach ca. 6 Wochen entstehen – abhängig von den Geschlechtschromosomen – die Keimdrüsen bzw. Gonaden: Hoden oder Ovarien. 

Die Entwicklung der männlichen und weiblichen Gonaden beim menschlichen Embryo (Quelle: Girsh 2021)

Neben den Gonaden entstehen während der Embryonalentwicklung auch der Müller-Gang und der Wolff-Gang. Aus dem Müller-Gang entstehen bei der typisch weiblichen Geschlechtsdifferenzierung Eileiter, Gebärmutterschleimhaut, sowie Teile der Vagina. Der Wolff-Gang verschwindet größtenteils. Die Ausschüttung des Anti-Müller-Hormons (engl. Müllerian inhibiting substance, MIS) sorgt bei der typisch männlichen Sexualdifferenzierung für die Rückbildung der Müller-Gänge [1]. Ab der 8. Woche produzieren die Leydig-Zellen in den männlichen Hoden Testosteron. Dieses ist mit dafür verantwortlich, dass sich die Veranlagung für den Wolff-Gang stabilisiert [2]. Im vierten Monat der Embryonalentwicklung ist die Geschlechtsdifferenzierung abgeschlossen, innere und äußere Geschlechtsmerkmale wie z.B. Vulva bzw. Penis lassen auf ein biologisches Geschlecht schließen. 

Während der Embryonalentwicklung sorgen u.a. die Geschlechtschromosomen und das Anti-Müller-Hormon für die Geschlechtsdifferenzierung. Quelle: Pixabay.

Chromosomen, Hormone, äußere Geschlechtsmerkmale: Lassen diese Merkmale eindeutig auf ein biologisch zweigeschlechtliches System schließen? 

Ein Spektrum an Variationen 

Während der Entwicklung eines Individuums existieren verschiedene Variationen der oben beschriebenen typischen Individualentwicklung. Diese offenbaren auf den ersten Blick einen Widerspruch: Das „genetische Geschlecht“ passt teilweise nicht zu den äußeren Geschlechtsmerkmalen. Der in Bremen promovierte Biologe und Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß (Hochschule Merseburg) sowie der Molekularbiologe Emanuel Wyler (Max-Delbrück-Center Berlin) präsentierten auf der „Wissenswerte“ verschiedene Beispiele und Studien, welche Intersexualität und Zwischenformen von biologischen Geschlechtern darstellen. Einen Teil dieser Beispiele sowie weitere Forschung zum biologischen Geschlecht möchte ich in diesem Artikel vorstellen. 

Beim Großteil der Menschen entwickelt sich das Geschlecht wie oben beschrieben, sodass ein Mensch mit XX-Chromosomen, Eierstöcken, inneren und äußeren weiblichen Geschlechtsmerkmalen sowie weiblichen Hormonen als typisch weiblich gilt. Allerdings existieren auch subtile Variationen dieser weiblichen Entwicklung wie zum Beispiel ein stark erhöhter Spiegel des männlichen Geschlechtshormons Testosteron. Bei der typisch männlichen Entwicklung hingegen können größere Veränderungen durch Mutationen des SRD5A2-Gens hervorgerufen werden. Sie führen zu einem Mangel des Enzyms Steroid-5α-Reduktase Typ 2, welches Testosteron in seine aktive Form Dihydrotestosteron umwandelt. Auswirkungen für genetisch männliche Personen können dann eine gestörte Entwicklung der Geschlechtsorgane sein. Auf dem Spektrum der Geschlechtsvariationen (s. Tabelle 1) nennt man solche Veränderungen „Differences of sexual development“ (DSD).  In der wissenschaftlichen Literatur werden sie auch oft mit „disorders of sexual development“ betitelt. Es ist jedoch stark zu bezweifeln, ob alle diese Veränderungen auch wirklich eine Krankheit oder Störung darstellen. Deshalb plädieren einige Forschende auch für den Begriff Differences statt Disorders [3]. Die Schweizerische Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin weist in einer Stellungnahme ebenso darauf hin, dass Abweichungen von der Geschlechternorm oft nicht pathologisch sind und keine medizinische Behandlung benötigen [4].

Tabelle 1: Das Geschlechterspektrum nach Ainsworth, C. (2015)

 

Frauen mit Hoden und Männer mit Müller-Gang 

Eine weitere Variation kann bei der Entwicklung der Keimdrüsen – Hoden und Ovarien – auftreten. Die Keimdrüsen entwickeln sich zunächst auf gleiche Weise im Bauchraum. Dabei ist das SRY-Gen, welches sich auf dem männlichen Y-Chromosom befindet, verantwortlich für die Geschlechtsentwicklung. Trägt ein Individuum mit XX-Chromosomen jedoch Fragmente des SRY-Gens in sich, entwickeln sich die Gonaden zu Hoden anstelle von Eierstöcken und die Person entwickelt männliche Genitalien. Das SRY-Gen spielt damit eine bedeutsame Rolle für die Entwicklungsschritte der Hoden und des männlichen Phänotyps, doch es wirken noch viele Einflussfaktoren mit, wie z.B. der Transkriptionsfaktor SOX9. Dieser ist an der Produktion des Anti-Müller-Hormons beteiligt [5]. Bis jetzt sind noch nicht alle Interaktionen und Einflussfaktoren der Geschlechtsdifferenzierung vollständig bekannt. 

Wie vielfältig Geschlechtsmerkmale bei DSD sein können, zeigt die Quigley-Skala des Endokrinologen Charmian A. Quigley. Sie stellt Phänotypen der  Androgenresistenz dar, bei welcher genetisch männliche Personen gegen männliche Geschlechtshormone (Androgene) resistent sind. Diese Hormone fördern die Entwicklung und Ausprägung männlicher Geschlechtsorgane und werden beim Mann in den Hoden sowie der Nebennierenrinde gebildet. 

Die Quigley-Skala zeigt verschiedene Formen der Androgenresistenz von der minimalen Androgenresistenz mit klar erkennbaren maskulinen Geschlechtsmerkmalen (1) bis zur kompletten Androgenresistenz mit sehr femininen Geschlechtsmerkmalen (6/7). (Quelle: Quigley et al. 1995)

Die Skala zeigt verschiedene Entwicklungen der kompletten, partiellen und minimalen Androgenresistenz [6], Quigley spricht dabei von einer Krankheit, von fehlerhafter Maskulinisierung. Eine solche Einordnung als Krankheit ist jedoch, wie bereits oben beschrieben, in vielen Fällen nicht angemessen. 

Anders als diese Veränderung lassen sich nicht alle DSDs frühzeitig erkennen. Ein Fall aus Indien beschreibt die Geschlechtsmerkmale eines 40-jährigen, gesunden Mannes mit bereits 2 Kindern. Bei einer Operation aufgrund von Schmerzen im Schambeinbereich wurden Teile eines Müller-Ganges wie Eileiterschleimhaut gefunden [7]. Fälle wie dieser zählen zum äußert seltenen Müller-Gang-Persistenzsyndrom (engl. PMDS), von dem weniger als 300 Fälle weltweit in der Literatur bekannt sind [8]. Die Individualentwicklung weicht hierbei von der typischen Entwicklung ab. Der Müller-Gang wird nicht zurückgebildet, sondern bleibt in Teilen bestehen. Ein Mangel an Anti-Müller-Hormon (AMH bzw. MIS) ist hier in vielen Fällen die Ursache. 

Die Differences of sexual Development sind sehr vielfältig und haben ein großes Spektrum. Fasst man alle Formen von DSD zusammen, kommen diese schätzungsweise bei 0,1% bis 0,05% der weltweiten Bevölkerung vor [9]. Was zunächst nach nicht viel klingt, sind weltweit bis zu 8 Millionen Menschen. 

Umgang mit sexueller Diversität 

Auch wenn verschiedene Variationen im Geschlecht erkannt werden, erfolgt die Erziehung und Sozialisation von Kindern mit DSD oft nicht geschlechtsneutral und Kinder können in die Rolle eines sozialen Geschlechts gedrängt werden, welches für viele später zur Belastung wird. So entwickeln einige der Kinder mit DSD, denen ein Geschlecht zugewiesen wurde, eine Genderdysphorie: Betroffene können sich nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Im Gegensatz zu anderen Formen der DSD handelt es sich hierbei oft um eine zu behandelnde Situation, die sich im Laufe des Lebens auch in schwerere psychische Probleme manifestieren kann. 

Quelle: Pixabay.

Eine Übersichtsstudie aus dem Jahr 2020 hat sich mit Genderdysphorien bei verschiedenen Formen von DSD beschäftigt. Auffällig war dabei die Gruppe der weiblich erzogenen Personen mit 5α-Reduktase-2-Mangel. Letzteres beschreibt die Entwicklung untypischer Geschlechtsmerkmale bei genetisch männlichen Personen durch fehlerhafte Dihydrotestosteronproduktion. Die Autor*innen der Studie fanden heraus, dass die genannte Gruppe besonders stark unter Genderdysphorie leidet und ca. die Hälfte sich mit dem männlichen Geschlecht identifiziert [10]. 

Das beste Verständnis der biologischen Entwicklung des menschlichen Geschlechts nützt nur etwas bei gleichzeitigem ausgewogenem Umgang mit sexueller Diversität. Denn nur einer Minderheit der Fälle von Genderdysphorien liegt tatsächlich eine biologisch veränderte Entwicklung der Geschlechtsorgane oder etwa eine veränderte Genetik zugrunde. 

Auch die Psychologin Cornelia Kost ist sich bei der „Wissenswerte“-Diskussion am späten Montagnachmittag mit Voß und Wyler einig, dass die Biologie die Frage nach der Anzahl an Geschlechtern nicht ausreichend beantworten kann. Vielmehr werde die Biologie in Diskussionen um Inter- und Transgeschlechtlichkeit oft fehlbenutzt. Die aktuellen Forschungsergebnisse erleichtern die Definition von biologischem Geschlecht nicht; sie zeigen lediglich, wie groß das Spektrum an sexueller Diversität ist, legen aber keine neuen Maßstäbe oder Kategorien fest. Doch genau dies ist vielleicht die Kraft der biologischen Geschlechterforschung: Vielfalt aufzuzeigen, dass sexuelle Diversität in der Natur des Menschen liegt. 

Die Geschlechterforschung hat in den letzten Jahren mediale Aufmerksamkeit bekommen. Der Konflikt um den Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht an der Berliner Humboldt-Universität über Geschlecht im biologischen Sinne zeigt, wie kontrovers dieses Thema diskutiert wird und wie viel Forschung es noch in Zukunft braucht [11]. Ein sehr informatives Video rund um das Thema des biologischen und sozialen Geschlechts ist auch auf dem YouTube-Kanal von Mai Thi Nguyen-Kim @mailab erschienen. Mai erklärt einige Punkte meines Artikels in größeren Details und zeigt vor allem eine weiterführende Sicht auf das soziale Geschlecht.

 

Literatur: 

[1] Hannema, S. E., & Hughes, I. A. (2007). Regulation of Wolffian duct development. Hormone research, 67(3): p. 142–151. 

[2] Girsh, E. (ed.) (2021) Development of Reproductive Systems at the Embryo Stage. A Textbook of Clinical Embryology. Cambridge: Cambridge University Press, p. 3–7. 

[3] Holterhus, PM. (2013) Intersexualität und Differences of Sex Development (DSD). Bundesgesundheitsbl. 56: p. 1686–1694 .  

[4] Swiss National Advisory Commission on Biomedical Ethics NEK-CNE (2012). On the management of differences of sex development. Ethical issues relating to „intersexuality“.Opinion No. 20/2012. 

[5] De Santa Barbara, P., Bonneaud, N., Boizet, B., Desclozeaux, M., Moniot, B., Sudbeck, P., Scherer, G., Poulat, F., & Berta, P. (1998). Direct interaction of SRY-related protein SOX9 and steroidogenic factor 1 regulates transcription of the human anti-Müllerian hormone gene. Molecular and cellular biology, 18(11): p. 6653–6665. 

[6] Quigley CA, De Bellis A, Marschke KB, el-Awady MK, Wilson EM, French FS (1995). „Androgen receptor defects: historical, clinical, and molecular perspectives“. Endocr. Rev. 16 (3): p. 271–321. 

[7] Prakash N., Khurana A., Narula B. (2009) Persistent Mullerian duct syndrome. Indian J Pathol Microbiol. 52: p. 546–548. 

[8] Aw L.D., Zain M.M., Esteves S.C., Humaidan P. (2016) Persistent Mullerian Duct Syndrome: a rare entity with a rare presentation in need of multidisciplinary management. Int Braz J Urol. 42: p. 1237–1243. 

[9] Mehmood KT, Rentea RM. (2022) Ambiguous Genitalia And Disorders of Sexual Differentiation. StatPearls [Internet]. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing. 

[10] Babu, R., & Shah, U. (2021). Gender identity disorder (GID) in adolescents and adults with differences of sex development (DSD): A systematic review and meta-analysis. Journal of pediatric urology, 17(1): 39–47. 

[11] https://www.spiegel.de/panorama/marie-luise-vollbrecht-gender-vortrag-an-der-humboldt-universitaet-nachgeholt-a-63f34714-f86b-4cfe-8115-a7d4f71582b6 (Zugriff: 06.02.2023) 

 

Weitere Quellen: 

Ainsworth, C. (2015): Sex redefined. in: nature. 518: 288–291. 

Arboleda, V. A., Sandberg, D. E. & Vilain, E. (2014) Nature Rev. Endocrinol. 10: 603–615. 

Voss, H-J. (2010). Making Sex Revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive (3., unveränderte Auflage 2011).  

Xu, Z. (2020) Sex Equation. OSF Preprints. 

https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/geschlechtsdifferenzierung/27686 (Zugriff 06.02.2023) 

2 Kommentare

  1. Etosha

    Was hier komplett fehlt:
    Angeborene Chromosomenanomalien wie zB XXY = zusätzliches X-Chromosom bei XY – aka Klinefelter Syndrom.
    Allein davon sind 0,1-0,2% der als „männlich“ geborenen Menschen betroffen.

  2. Edeltraud Zahn

    Hallo Moritz,
    aufgrund der aktuellen Diskussion um die Boxerin Imane Khelif bei Olympia gibt es in meinem Umfeld viele Diskussionen. Dabei wurde kürzlich argumentiert, dass sich selbst das XX und XY nicht eindeutig identifizieren lasse, da die Enden so ausgefranst sein könnten, dass schon diese Definition in XX (weiblich) und XY(männlich) fehl schlägt.
    Trifft das zu? Dann wäre zu den Differenzen auch die Basis nicht mehr eindeutig?!
    Denn auch wenn es viele soziale/psychologische Gender-Geschlechter gibt, bin ich bislang von zwei eindeutigen biologischen Geschlechtern (mit Differenzen durch DSD) ausgegangen.
    Vielen Dank, viele Grüße,
    Edeltraud

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