Es gibt Leben außerhalb von ZOOM – Wir schreiben bereits das Jahr 2 n. C. („nach CoViD“). Es ist das dritte Semester, das unter Pandemiebedingungen stattfindet. 17 Monate ist es her, dass die letzten regulären Vorlesungen noch im Hörsaal stattgefunden haben. Vor 15 Monaten durften die letzten Studierenden ohne spezielle Erlaubnis ein Unigebäude betreten. Seitdem haben uns Distanzunterricht, Vorlesungen und Seminare über ZOOM und ein Auf und Ab von Schließungen aller möglichen Bereiche des öffentlichen Lebens voll im Griff. Mit dem Fortschreiten der Impfkampagne ist zwar ein Licht am Horizont in Sicht, aber die Zukunft ist dennoch unsicher, denn SARS-CoV-2 ist immer wieder für eine Überraschung gut.

Vor kurzem kam eine Studie zu dem Ergebnis, dass der Distanzunterricht an den Schulen so effektiv war wie Sommerferien – also nichts gebracht hat. Dass eine entsprechende Untersuchung über die Situation an den Universitäten vermutlich zu einem ähnlichen Ergebnis käme, räumt die Universität indirekt in Form großzügiger Erleichterungen bei den Prüfungen und den Prüfungsfristen ein. Bremen hat in Reaktion auf die Pandemie sogar als letztes Bundesland die Langzeitstudiengebühren abgeschafft. Man sah sich in der Lage, die Gebühren nicht mehr rechtfertigen zu können, wenn die Studierenden aufgrund der Pandemie ihre Studienzeiten nicht mehr einhalten können.

Wenn der Distanzunterricht also schon ganz offiziell nichts bringt und sich statt des Wissens in den Köpfen eher die Pfunde auf der Waage anhäufen, was liegt dann näher als einfach mal rauszugehen? Es werden zwar wieder Teile des öffentlichen Lebens geöffnet, aber vielleicht möchte der Eine oder die Andere unter den Lesenden lieber Orte aufsuchen, an denen man ganz pandemiegerecht und auf Abstand bedacht, mal alleine sein kann. Mir geht es zumindest so.

Zum Glück bietet der Studiengang Biologie hier reichlich Abhilfe. In einer Veranstaltung über die Faunen Nordeuropas erfahre ich von einem magischen Ort, nicht weit weg von Bremen – dem Naturschutzgebiet Juliusplate. An diesem Ort soll eine ganz außergewöhnliche Pflanze blühen. Also nehme ich mein Fahrrad und mache mich auf dem Weg zu diesem Ort. Google Maps wird mich schon führen, das Programm zeigt mir 29 Kilometer Wegstrecke an.

Die Fahrradstrecke von der Universität aus über den Hauptbahnhof und Brill über Woltmershausen, Strom, Lemwerder bis zur Juliusplate.

Der Weg führt mich von der Neustadt über Woltmershausen und dann entlang weiter Etappen des Weserdeiches. Gerade zum Radfahren ist es eine schöne und gut ausgebaute Strecke, auf der ich im 14. Gang gut vorankomme.

Schon auf der ersten Fahrt bemerke ich, dass ich etwa auf der Höhe von Lemwerder nicht nur die Landesgrenze, sondern anscheinend auch eine kulturelle Grenze überschritten habe. Die Leute auf den Straßen sind so freundlich und grüßen mit „Moin“, selbst wenn ich die Menschen gar nicht kenne.

Nach etwa zwei Stunden erreiche ich schließlich die Außengrenzen von Berne. Dort, direkt gegenüber dem Campingplatz und neben dem Fähranleger liegt das Naturschutzgebiet Juliusplate. Auf drei Wiesen, nett unterteilt durch einige Feldwege, wachsen die einzigen Schachbrettblumen im Großraum Bremen. Willkommen im Reich von Fritillaria melleagris, wie die Pflanze mit vollem Namen heißt.

Eine rote Schachbrettblume in der Nahaufnahme

Ich hatte nicht erwartet, so schnell fündig zu werden. Doch schon von der Straße aus sind die dunklen Blüten deutlich zu sehen. Am Eingang vor den Feldwegen warnen Hinweisschilder ausdrücklich davor, die Wiesen zu betreten. Ich halte mich natürlich an diese Regel, denn auch vom Wegesrand aus ist genug zu sehen.

Schachbrettblumen, so weit das Auge reicht.

Die Schachbrettblume ist eigentlich eine subatlantisch-mediterrane Pflanze. Das bedeutet, dass sich ihr natürliches Verbreitungsgebiet von der Normandie über Mittel- und Südfrankreich, die Vorländer der Alpen, über Ungarn, Kroatien und Serbien bis nach Rumänien erstreckt. Sie so weit im Norden anzutreffen ist ungewöhnlich. Ich habe mir sagen lassen, dass die Schachbrettblumen der Juliusplate ursprünglich aus einem Apothekergarten entkommen seien. Es sind die nassen Böden des Naturschutzgebietes, auf denen sich die Blume so wohl fühlt. Auf den drei Wiesen dürften zusammen etwa 10-20.000 Schachbrettblumen stehen. Nachgezählt habe ich nicht, aber es sind viele.

Der Apothekergarten ist schon der nächste Hinweis. Die Schachbrettblume ist giftig. Sie enthält unter anderem Tulipalin, ein Stoff, welcher – der Name deutet es bereits an – auch in Tulpen vorkommt und über seine allergene Wirkung zu einer Kontaktdermatitis führen kann. Wer beruflich mit Tulpen zu tun hat, dürfte das Problem kennen. Daneben enthält die Pflanze Imperialin, welches zu Kreislaufbeschwerden, Erbrechen, Krämpfen und sogar zum Herzstillstand führen kann. Fritillin, das dritte Gift, wirkt ähnlich.

Traditionell haben Apotheker gerne Pflanzen aus allen Weltgegenden gesammelt und untersucht, ob sie vielleicht zu Heilzwecken nützlich sein könnten. Für die Schachbrettblume und ihre Inhaltsstoffe hat man bisher keine pharmazeutische Anwendung finden können. Dennoch ist es einfach eine schöne Blume.

Was uns gleich zum nächsten Punkt führt. Die Schachbrettblume hat ihren Namen nach dem Farbmuster ihrer Blüten erhalten. An der Juliusplate ist die häufigste Form die rot-violette Blume, die zusammen mit weißen Tönen wie ein Schachbrett gemustert ist. Daneben gibt es auch rein-weiße Blüten.

Die Schachbrettblume wird auch in Gärten gepflanzt. Jedoch geht sie auf trockenen Böden eher ein, was ihr Vorkommen begrenzt. Die wenigen Vorkommen, die es in Norddeutschland vereinzelt gibt, dürften alle aus Gärten entkommen sein.

Die Blume wächst gerne auf Feucht- und Nasswiesen, in Auwäldern und Flussauen (für die Stadtmenschen und Nicht-Biologen: Das sind Gebiete, die regelmäßig vom Fluss überflutet werden). In Deutschland gilt sie als stark gefährdet und steht unter Schutz. Dabei sind die größte Bedrohung das Verschwinden eben jener Feuchtgebiete und der übermäßige Nährstoffeintrag durch die Landwirtschaft. Trockene Sommer übersteht die Pflanze oft nicht. In ihrer eigentlichen Heimat hingegen, im mediterranen Raum, ist die Pflanze nicht selten. 1993 wurde die Schachbrettblume von der „Stiftung Naturschutz Hamburg und Stiftung zum Schutze gefährdeter Pflanzen“ zur „Blume des Jahres“ gekürt. Eine Auszeichnung, welche diese schöne Pflanze durchaus verdient hat.

Die Schachbrettblume ist eine Lichtpflanze. Das bedeutet, dass im vollen Sonnenlicht am besten gedeiht und Schatten gar nicht verträgt. Sie blüht im Frühjahr, bevor die Gräser an Höhe gewinnen und das ganze Areal überwuchern. Die Vermehrung erfolgt über Samen und Brutzwiebeln. Hummeln und Bienen sind wichtige Bestäuber. Mehrfach kann ich emsige Hummeln beim Sammeln von Nektar beobachten.

Auch für die menschliche Rast ist im Naturschutzgebiet gesorgt. Es gibt einen Tisch und zwei Bänke. Weil kaum jemand da ist und die wenigen Besucher ohnehin spazieren gehen, kann ich dort in Ruhe meinen Tee genießen.

Das Naturschutzgebiet Juliusplate macht auf mich insgesamt einen gut gepflegten Eindruck. Entlang der Wege stehen mehrere Informationstafeln, zum Beispiel zu dort vorkommenden Graureihern und zu den einzelnen Landschaftsformen und deren Nutzung. Für ein Areal, das insgesamt nur eine Seitenlänge von einigen hundert Metern umfasst, ist das schon ziemlich fortschrittlich.

Mit vielen schönen Fotos im Gepäck mache mich dann gegen Abend wieder auf die Heimreise. Bei Lemwerder überquere ich die Grenze und verlasse die „Moin“-Zone mit den freundlichen Eingeborenen und komme wieder nach Bremen, wo die Leute eher irritiert und genervt reagieren, wenn man sie auf der Straße grüßt. Ich bin wieder zu Hause.

An den folgenden Wochenenden fahre ich immer wieder zur Juliusplate und kann die Entwicklung der Vegetation gut beobachten. Nach den Schachbrettblumen zeigen sich andere Blütenpflanzen, bevor die Gräser kniehoch alles überdecken. Das Gebiet ist auf jeden Fall einen Besuch wert. Ab nächstem Frühjahr im April werden die Schachbrettblumen wieder zu sehen sein. Näheres dazu in der Fotostrecke.

Wer übrigens kein botanisches Fachbuch dabei hat, der kann auch komfortable Programme zur Pflanzenbestimmung benutzen. Für Android kann ich die kostenlosen Programme Flora Incognita der Technischen Universität Ilmenau und des Max-Planck-Instituts für Biogeochemie sowie das global verteilte Gemeinschaftsprojekt Pl@ntNet empfehlen. Einfach mit dem Smartphone die Pflanze fotografieren, das Bild in das Programm laden und die Datenbank liefert Vorschläge für den Namen. Auch iNaturalist der California Academy of Sciences und der National Geographic Society ist ein sehr mächtiges, dennoch kostenfreies Bestimmungsprogramm. Der Krautfinder von Arnulf Schultes ist für einen monatlichen Beitrag verfügbar.

Quellen:

Botanische Informationen über die Schachbrettblume:

https://botanikus.de/informatives/giftpflanzen/alle-giftpflanzen/schachblume/

Die Auszeichnung „Blume des Jahres“:

https://loki-schmidt-stiftung.de/projekte/blume-des-jahres-2021/alle-blumen-des-jahres/1993-schachblume.html

Näheres zum Naturschutzgebiet Juliusplate:

https://de.wikipedia.org/wiki/Juliusplate_(Naturschutzgebiet)

Eine aufschlussreiche Studie über die Wirksamkeit des Distanzunterrichts in Schulen:

https://www.spiegel.de/panorama/bildung/neue-studie-distanzunterricht-gerade-mal-so-effektiv-wie-sommerferien-a-fc990780-c9e2-427f-bf6b-2c59b7b5cedb?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

Fotostrecke

Die Fahrradstrecke von der Universität aus über den Hauptbahnhof und Brill über Woltmershausen, Strom, Lemwerder bis zur Juliusplate.

Eindeutige Hinweise für Besuchende.

Schachbrettblumen, so weit das Auge reicht.

Eine rote Schachbrettblume in der Nahaufnahme

Nahansicht einer weißen Schachbrettblume.

Eine bunte Gesellschaft.

Rote und weiße Schachbrettblumen.

Eine einzelne Schachbrettblume im Gras.

Schachbrettblumen im prallen Sonnenschein. Gut zu erkennen ist das namensgebende Muster der Blütenblätter.

Außerirdisches Gewächs? Oder ein gekappter Weidenbaum?

Ein mit Flechten bewachsener Stein am Weserufer. Flechten sind eine symbiotische Lebensform aus einen Pilz und Algen. Sie zählen zu den Pioniergewächsen, die eine freiliegende Fläche als erstes besiedeln. Manche Flechten wachsen auf dem Stein, während andere sogar in den Stein eindringen können. Dabei geben sie organische Säuren ab, mit deren Hilfe sie Nährstoffe aus dem Stein lösen. Mit der Zeit werden die Flechten den Stein auflösen und zerbröseln lassen. Damit bilden sie eine wichtige Grundlage für die Bildung von Boden, in welchem später höhere Pflanzen ihre Wurzeln schlagen können. Flechten wachsen langsam mit bekannter Geschwindigkeit. In der Lichenometrie misst man die Ausdehnung der einzelnen Flechtenkolonien und kann damit berechnen, wie lange eine Felsfläche schon frei an der Oberfläche liegt. Flechten sind sehr archaische Lebensformen, die aber für das Leben auf der Erde eine entscheidende Rolle übernehmen. Wir blicken hier auf den wahren Herrscher des Planeten. I bow to thee, Mylord!

Die Faultürme des Klärwerks Seehausen. Hier laufen Bremens braune Strömungen zusammen.

Hinweise auf Määäharbeiten am Weserdeich.

Erschöpfte Määäharbeiter beim Rasten.

Verbirgt der Ortsname Hinweise auf eine streitsüchtige Vergangenheit der Bewohnenden?

Schachtelhalme, die sich zwischen der Pflasterung des Weserdeiches ihre Bahn brechen. Schachtelhalme gehören zu den Farnpflanzen. Im Zeitalter des Karbon, lange vor den Dinosauriern, wuchsen riesige Schachtelhalmbäume bis zu 30 Meter in den Himmel und bedeckten große Teile der damaligen Sümpfe. Heute gibt es nur noch eine einzige Gattung (Equisetum) mit insgesamt 15 Arten. Es sind Orte wie dieser, wo diese urtümlichen Pflanzen weitgehend unbemerkt lauern und geduldig auf eine Gelegenheit warten, um erneut die Herrschaft über die Erde zu übernehmen.