Vor drei Jahren urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gegen den litauischen Staat. Laut dem Urteil hatte das Parlament in Vilnius mehrere Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt: die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie das Verbot der Diskriminierung. Kläger war die altbaltische Religionsgemeinschaft Romuva. Wie war es hierzu gekommen?

Romuva ist eine neuheidnische Bewegung in Litauen. Sie verfolgt nach eigenen Angaben das Ziel, eine vorchristliche altbaltische Religion wiederherstellen zu wollen. Es geht um Glauben, Mythen und Traditionen, welche gelebt wurden, bevor das Land im 14. Jahrhundert christianisiert wurde. Das Großfürstentum Litauen war der letzte heidnische Staat Europas. Unter der Bevölkerung regte sich Widerstand gegen die Christianisierung. Dies wird – nicht nur durch Anhänger*innen von Romuva – immer wieder mit Stolz in Litauen hervorgehoben. Für die Bewegung selbst lässt es sich als eine Art Gründungsmythos definieren. Die altbaltische Religion sei daher die ursprüngliche litauische Religion, im Gegensatz zum Christentum, das dem Land mit Gewalt aufgezwungen wurde. „Krikščionybė Lietuvoje okupacinė“ (dt: Das Christentum ist ein Besatzer in Litauen) ist ein Slogan, der während Protestaktionen auf Plakaten zu lesen ist. Eine steile These in einem Land, dessen Bevölkerung mehrheitlich katholischen Glaubens ist. Dass dies auf einen Konflikt mit der katholischen Kirche und deren Geschichtsdeutung hinausläuft, lässt sich leicht erahnen. Doch dazu später mehr.

In seiner heutigen Form entstand Romuva 1988 aus der vorherigen Ramuva Organisation. Diese hatte sich in den 60ern in der Litauischen Sowjetrepublik mit dem vorgeblichen Ziel gegründet, litauische Kultur in Form von Folklore zu bewahren. Trotz dieser offiziell nicht-religiösen Agenda wurde die Bewegung bereits in den 70er Jahren durch die sowjetischen Behörden wieder verboten. Erst das Ende der Sowjetunion 1991 ermöglichte das Entstehen (oder Sichtbarwerden) alternativer religiöser Bewegungen im postsowjetischen Raum. Zeitgleich mit Romuva gründete sich beispielsweise die Bewegung Dievturība im Nachbarland Lettland erneut, deren Anhänger*innen sich ebenfalls auf einen altbaltischen Glauben berufen.

Die aktuelle Kontroverse um die altbaltische Glaubensgemeinschaft war mir bereits während meines Auslandssemesters in Vilnius begegnet. In einem Seminar zu kulturellen Aspekten im heutigen Litauen sprachen wir über den Rechtsstreit, in welchem sich Romuva und der litauische Staat seit mehreren Jahren befinden. Gegenstand der Auseinandersetzung: 2017 hatte die Organisation einen Antrag auf staatliche Anerkennung gestellt. So erklärt sich auch der Titel des religionswissenschaftlichen Seminars, welches ich in diesem Semester an der Uni Bremen belegte: „In Wäldern und vor Gericht: Staatliche Anerkennung von Romuva im heutigen Litauen“. In Wäldern? Die Natur ist ein wichtiger Bezugspunkt der religiösen Bewegung, was sich auch an den verschiedenen Gottheiten schnell erkennen lässt. So gibt es zum Beispiel Saulė, die Sonnengöttin, oder Perkūnas, den Gott des Donners. Rituale und Feierlichkeiten sind an die Jahreszeiten gebunden und finden in der Regel in und mit der Natur statt. Meine litauische Freundin Solveiga war als Jugendliche Teil der Bewegung. Sie berichtete mir von Summercamps, an denen sie früher teilnahm. Hier lernten die Kinder und Jugendlichen in der Natur ohne Strom, fließendes Wasser oder einen Kühlschrank „zu überleben“. Für sie steht die Organisation auch deshalb vor allem für den tiefen Respekt gegenüber der Umwelt. Die Thematik erscheint brandaktuell.

Die Natur ist heilig und muss bewahrt werden. Diese Vorstellung ist eng verbunden mit dem Bild der litauischen Heimat. Romuva wird auch deshalb als (neo-)ethnische Religionsgemeinschaft bezeichnet. Inhalte beziehen sich auf die litauische vorchristliche Geschichte und deren heutige kulturelle Überbleibsel. Mitglieder sind daher oftmals Litauer*innen mit dem Wunsch, sich der litauischen Kultur spirituell zu nähern. Auch wenn andere Menschen nicht explizit ausgeschlossen sind, wäre es allein aufgrund der Sprachbarriere schwierig, vollwertiges Mitglied zu werden. Aufgrund ihrer ethnisch-nationalen Inhalte versuchten verschiedene rechtspopulistische Gruppierungen in Litauen, auf die Bewegung Bezug zu nehmen. Romuva selbst beschreibt sich als eine Organisation, die allen Menschen gleichen Wert beimisst.

Umstritten ist ferner die Frage, wie authentisch die Praktiken der heutigen religiösen Gruppierung sind. Überlieferungen aus der vorchristlichen Zeit selbst stammen allein aus der Feder christlicher Missionare, die aus einer sicherlich nicht neutralen Außenperspektive berichteten. Die Quellen, auf die sich die Gemeinschaft Romuva heute bezieht, stammen größtenteils aus dem 19. Jahrhundert. In dieser Zeit finden sich auch die ersten Vorläufer der heutigen Bewegung. Während dieser Zeit des „Nationalen Erwachens“ begannen Folkloristen die größtenteils mündlich weitergegeben Mythen und Traditionen zu verschriftlichten. Hierbei spielten besonders Volkslieder, sogenannte dainos, eine herausragende Rolle. Sie waren vor allem unter der ländlichen Bevölkerung verbreitet. Dazu gehören etwa die mehrstimmigen Sutartinės aus dem Nordosten Litauens. Mythen und Sagen dienten als Inspiration für neu entworfene Geschichten. So muss man kritisch betrachtet von einem Flickenteppich an Quellen sprechen, aus dem die heutigen Praktiken abgeleitet werden. Der Raum für Interpretationen bleibt groß.

Brisant ist die Frage nach Inhalten auch unter einem weiteren Gesichtspunkt. Heute sind viele heidnische Bräuche ein Teil dessen, was allgemein als litauische Kultur wahrgenommen wird. Dies liegt daran, dass die lokale Bevölkerung an vorchristlichen Traditionen auch nach der einsetzenden Christianisierung festhielt. Sie vermischten sich im Verlauf mit christlichen Bräuchen und wurden teils selbst von der katholischen Kirche übernommen. So finden sich auf vielen christlichen Kreuzen an Gräbern heidnische Natursymbole. Die kürzeste Nacht des Jahres vom 23. auf den 24. Juni, die sogenannte Sommersonnenwende (lit. Rasos), wird mit Johannisfeuern gefeiert, da der folgende Tag gleichzeitig in christlicher Vorstellung die Geburt Johannes des Täufers markiert. Alternativ heißen die Feierlichkeiten daher auch Johannisfest (lit. Joninės). Die mit Tanz und Musik begangenen Feuer sollen Glück und Gesundheit für das kommende Jahr bringen. Während der Nacht sollen im Wald gesammelte Farnblüten, die sich nur um Mitternacht öffnen, besondere Kräfte entfalten. (Allerdings haben tatsächliche Farne gar keine Blüten; Es wird vermutet, dass dieser Mythos auf einer Verwechslung mit ähnlichen Pflanzen, deren Blüten sich nachts öffnen, beruht.) Die Liste solcher heidnischen Bräuche und Mythen an heutigen christlichen Feiertagen ist lang. Auch Romuva scheint einen Platz in der Kulturlandschaft Litauens gefunden zu haben. So tritt beispielsweise die zur Bewegung gehörende Folklore-Gruppe Kūlgrinda beim jährlichen „dainų šventė“ (dt. Liederfest), einem tradtionellen Musik- und Tanzfestival, auf (hier 2018 in Vilnius). Diese kulturellen Aktivitäten werden in Litauen durchaus positiv gesehen. Für eine Hausarbeit befragte ich Freund*innen in Litauen zu Romuva, um Perspektiven auf die Bewegung qualitativ zu untersuchen. Fast alle Befragten zeigten sich offen, an deren Veranstaltungen teilzunehmen (oder hatten dies bereits getant). Gleichzeitig distanzierte sich ein Großteil vom religiösen Gedankengut der Bewegung.

Aus Sicht einiger Gegner*innen macht genau diese Differenzierung die aktuelle Debatte um die staatliche Anerkennung Romuvas so kompliziert. Die Sorge: Könnte eine Anerkennung dazu führen, dass viele weitverbreitende Traditionen in Zukunft nur noch als Teil der Romuva-Religion gelten? Und wären sie dann noch beispielsweise mit dem katholischen Glauben vereinbar? Aus dieser Perspektive ging es bei der Anerkennung um wesentlich mehr als um reine Formalia. Dies zeigte sich auch in der heftigen Debatte, mit welcher der Vorschlag im Seimas, dem litauischen Parlament, diskutiert wurde. Gemäß der Verfassung können religiöse Gruppierungen frühestens 25 Jahre nach einer offiziellen Registrierung staatliche Anerkennung beantragen. Hierfür müssen sie unterschiedliche Voraussetzungen erfüllen. So soll die Gruppierung Teil des historischen, geistigen und gesellschaftlichen Erbes sein, ihre Bräuche dürfen Recht und Moral nicht widersprechen. Ferner sollen sie gesellschaftliche Unterstützung erfahren. Diese recht vage formulierten Faktoren zu evaluieren, ist Aufgabe des Justizministeriums. Es sendet seine Einschätzung an das Parlament, wo die letztendliche Entscheidung getroffen wird.

In seiner Stellungnahme kam das Justizministerium zu dem Schluss, dass Romuva die vorgeschriebenen Kriterien erfüllt. Dennoch lehnte eine Mehrheit im Parlament in der folgenden Abstimmung 2019 einen entsprechenden Vorschlag zur Anerkennung ab. Allerdings konnten sich die Parlamentarier*innen auch nicht auf einen gemeinsamen Ablehnungsbeschluss einigen. Die Bewegung schwebt deshalb bis heute rechtlich gesehen im luftleeren Raum. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gab der Klage der Glaubensgemeinschaft gegen die Nicht-Anerkennung 2021 auch deshalb statt. So bestünden für Romuva aktuell keine Möglichkeiten, gegen die Entscheidung rechtlich vorgehen zu können. Im Januar dieses Jahres wendete sich Romuva erneut an den EGMR, um gegen die Nichtumsetzung des vorherigen Urteils zu klagen. Der Ausgang dieses Konflikts bleibt somit offen.

Doch wieso hat das litauische Parlament einer Anerkennung bisher nicht zugestimmt? Auf der Suche nach möglichen Ursachen kommt man nicht umhin, sich mit der Rolle der katholischen Kirche in Litauen auseinanderzusetzen. Gemäß Verfassung gibt es keine Staatsreligion, sondern eine Trennung von Staat und Religion in Litauen. Gleichzeitig zeichnet sich das Land – zumindest laut Umfragen – durch eine große religiöse Homogenität aus: 75 % der Befragten gaben im Zensus von 2021 ihre Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche an. Im Zusammenhang mit der parlamentarischen Debatte über Romuva steht der Vorwurf im Raum, die katholische Kirche habe Einfluss auf die Abgeordneten ausgeübt. Einige von ihnen argumentierten offen auf Basis ihres christlichen Glaubens. Wie sich eine solche Anerkennung auf die Beziehung Litauens zum Vatikan ausüben würde, war beispielsweise ein vorgebrachtes Contra-Argument. Überhaupt sei Romuva keine richtige Religion, sondern eine kulturelle Vereinigung, der es außerdem an gesellschaftlicher Relevanz mangele. Zumindest letzter Punkt ist mit einem Fragezeichen zu versehen: In der Vergangenheit wurden bereits andere – christliche – religiöse Vereinigungen ohne Diskussion anerkannt, die weniger Anhänger*innen besitzen als Romuva. 2021 gaben 0.17 % der litauischen Bevölkerung an, der altbaltischen Religion anzugehören, was sie zur größten nicht-christlichen religiösen Minderheit in Litauen macht. Einflussreich war zudem sehr wahrscheinlich ein Brief der katholischen Bischofskonferenz, in welcher sich diese explizit gegen die Anerkennung aussprach und der einen Großteil des Seimas wenige Tage vor der Abstimmung erreichte. Hierin beriefen sich die Bischöfe vor allem auf die Konstruiertheit einer altbaltischen Religion, deren Vorhandensein sie bestreiten und als rückwirkende Erfindung beschreiben.

Im Seminar der Religionswissenschaften diskutierten wir Teilnehmenden die Kritikpunkte der Abgeordneten und der Bischöfe. Dabei kamen spannende Fragen auf wie: Was braucht eine Bewegung eigentlich, damit man sie als Religion bezeichnen kann? Die litauische Verfassung sowie die Europäische Menschenrechtskonvention definieren den Begriff Religion nicht. Und kann eine Religion (wenn von einer altbaltischen Religion ausgegangen wird), die jahrhundertelang verschwunden war, ohne umfassende Quellen wiederbelebt werden? Inija Trinkūnienė, das geistige Oberhaupt der Romuva (Krivė), wehrt sich gegen diesen Anspruch. In einer Antwort auf den Brief der Bischofskonferenz argumentiert sie, dass die Maßgabe, eine Religion müsse über eine solche schriftliche Grundlage verfügen, auf eng gesteckten Grundannahmen über Religionen beruht. Romuva aber habe ein anderes Selbstverständnis. So stünde statt einer schriftlich ausformulierten kohärenten Lehre vor allem die Weitergabe ihres Glaubens durch Praktiken im Vordergrund. Letztendlich sei es außerdem nicht die Aufgabe des Parlaments, ein wertendes Urteil über Romuva zu fällen, das auf subjektiven religiösen Präferenzen beruht. Stattdessen sollten rechtsstaatliche demokratische Standards eingehalten werden und die Bewegung an diesen gemessen werden. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem ersten Urteil. Und so bleibt mit Spannung zu erwarten, wie die Richter*innen in Straßburg auf die erneute Klage der altbaltischen Glaubensgemeinschaft Romuva reagieren werden.