Sergej Prokopkin, der in Russland geboren und aufgewachsen ist, kam 2002 mit 17 nach Deutschland. Aktuell absolviert er sein Rechtsreferendariat in Berlin. Zudem engagiert er sich in unterschiedlichen Formen gegen Antislawismus, der Diskriminierung von Menschen mit osteuropäischer Herkunft. So hat er in Berlin einen Verein mitgegründet, setzt sich auf seinem Instagramkanal mit der Thematik auseinander und gibt als Antidiskriminierungstrainer Workshops, die Menschen für Antislawismus sensibilisieren sollen. An einer solchen Veranstaltung nahm ich am vergangenen Samstag teil. Im Interview spricht er über historische Zusammenhänge, Unsichtbarmachung und darüber, was Harry Potter mit Antislawismus zu tun hat.

Was ist deine Motivation, dich in diesem Bereich zu engagieren?

Ich habe mich mit dem Antidiskriminierungsrecht beschäftigt, als ich an der FU Berlin unterrichtet habe, und dabei auch mit dem Thema Migratismus. Einerseits aus eigener Betroffenheit, anderseits weil Migratismus als Diskriminierungsform wenig präsent ist. Sie umfasst einige Formen von rassistischer oder klassistischer Diskriminierung, mir fehlte es aber an bestimmten Aspekten in Bezug auf meine Diskriminierung. Migratismus beschreibt die Diskriminierung von Migrant*innen aufgrund ihres Migrantisch-seins oder aufgrund der Zuschreibung dessen. Mir fehlte hierbei die historische Perspektive in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und die Zeit davor, in welcher es den konstruierten „Untermenschen“ gab. Millionen von Menschen wurden im Osten von Europa ermordet, es gab Kolonialisierungs- und Vernichtungsideologien.

In meinem Lehrgang zum Antidiskriminierungstrainer wurde ich ermutigt, mich weiter mit dieser Problematik zu beschäftigen. Meine Befürchtung war, dass die Auseinandersetzung mit diesem Thema schnell von regierungstreuen Menschen instrumentalisiert werden kann, wie durch den Kreml, was jetzt zum Beispiel mit dem Begriff Russophobie passiert oder mit dem Begriff Antipolonismus. (Anm.d.Red.: Der Begriff Antipolonismus wird durch die polnische rechtspopulistische Regierungspartei PiS instrumentalisiert, indem er Kritiker*innen ihrer Politik vorgeworfen wird.) Die Verschränkung von Beruflichem mit Privaten führte dazu, dass ich angefangen habe, mich intensiver mit dem Antislawismus zu beschäftigen. Ganz pragmatisch gesehen gab es einfach nicht viel zu diesem Thema und ich halte es für wichtig und spannend, mir dieses Thema vorzunehmen.

Du wirst oftmals unter dem Label „Russland-deutsch“ eingeordnet. Was steckt für dich in dieser Fremdzuschreibung? Kannst du dich in Teilen dieses Begriffs wiederfinden?

Tatsächlich verwende ich den Begriff Russland-deutsch als Arbeitsbezeichnung im Sinne des strategischen Essenzialismus. (Anm.d.Red.: Strategischer Essenzialismus beschreibt die Strategie marginalisierter Gruppen, sich gegenüber der Dominanzgesellschaft als eine homogene Gruppierung zu präsentieren, um politische Handlungsfähigkeit zu erlangen; hierbei werden essenzialisierende Zuschreibungen strategisch angewandt.) Ich sage hierbei: Ok, es ist da was dran, meine Vorfahren sind vor 200 Jahren in das Russische Reich immigriert, daher der Begriff Russland-Deutsche. Dieser Hintergrund verfolgte meine Vorfahren, mich und meine Mutter über Jahrzehnte beziehungsweise Jahrhunderte, was zu gesellschaftlichen Ausschlüssen führte wie der Deportation von Russland-Deutschen während des Zweiten Weltkrieges oder der Behandlung von Russland-Deutschen in der Nachkriegszeit, die weiterhin Repressionen unterstanden.

Und gleichzeitig gibt es DIE Russland-Deutschen nicht, das sind unterschiedlichste Menschen mit unterschiedlichsten politischen Anschauungen und Werten. In einigen Kreisen fühle ich mich mit anderen Menschen viel wohler als mit irgendwelchen Russland-Deutschen. Ich habe aber auch Freund*innen, die Russland-Deutsche sind und mit denen ich mich gut verstehe, wir teilen diese gemeinsame historische Ebene. Um mich kritischer damit auseinanderzusetzen, habe ich für mich den Begriff „Russland-Deutscher“ angenommen, auch wenn ich ihn kritisch sehe. Ich verwende ihn meistens in Antidiskriminierungskontexten, das heißt strategisch. Wenn ich es für richtig halte, verwende ich diesen Begriff, wenn ich es strategisch für nicht richtig halte, lehne ich diesen Begriff als essentialistisch ab.

Kann er durch den neu entstandenen Begriff der Post-Ost-Identität abgelöst werden? Was ist damit gemeint?

Nein, Post-Ost ist eigentlich nicht als ein Identitätsbegriff entstanden, sondern als Gruppenbezeichnung im Rahmen der Gründung der Post-Ost-Migrantifa. Russland-Deutsche können Post-Ost-Migrant*innen sein, aber Post-Ost bezeichnet Menschen aus ganz Süd-Ost-Europa, die in bestimmten politischen Kontexten engagiert sind und sich selbst unter diesem Begriff verstehen. Es ist zu einer Ausartung dieses Begriffs gekommen, sodass er nun in sehr unterschiedlichen Kontexten genannt wird. Manche sprechen jetzt von einem Post-Ost-Raum, von Post-Ost-Migrant*innen, was eigentlich nicht immer korrekt ist. Denn für Post-Ost muss man sich entscheiden. Wenn man einfach davon spricht, dass etwas Post-Ost ist, ist das problematisch, weil es wiederum eine Fremdzuschreibung bedeutet. Post-Ost ist im Prozess der Selbstermächtigung entstanden und nicht abschließend definiert. Es gibt unterschiedliche Definitionen, was die Schwäche und die Stärke der Bezeichnung ist. Die Post-Ost-Community bezeichnet die Menschen, die sich unter diesem Begriff wiederfinden.

Das heißt, es ist eigentlich ein politischer Begriff?

Politisch-soziologisch, genau. Ziel ist es, über die Nationalgrenzen hinwegzuschauen und zu sehen, wo unsere Gemeinsamkeiten und Differenzen liegen. Ich unterscheide zwischen Außen- und Innenwirkung, einer Abgrenzung gegenüber der Dominanzgesellschaft und Aushandlungsprozessen innerhalb der Community. Das sind die politischen Seiten des Begriffs.

Wenn wir bei Begriffen bleiben: Was bedeutet Antislawismus und in welchen Formen begegnen Menschen dieser Diskriminierung?

Antislawismus ist in erster Linie eine strukturelle Diskriminierungsform, die sich gegen Menschen aus Osteuropa richtet oder gegen Menschen, denen dies zugeschrieben wird. Es besteht eine gewisse historische Kontinuität, den Zusammenhang zum Zweiten Weltkrieg habe ich schon genannt. Aber bereits seit der Aufklärung gibt es den ideologischen Antislawismus, der als Diskriminierungsform zur Rechtfertigung von bestimmten Handlungen verwendet wurde.

Beispiele sind Bezeichnung von Slaw*innen als primitiv oder rückständig. Klassisch ist auch die Dämonisierung von Menschen wie zum Beispiel in Harry Potter durch die Darstellung des Teams aus Bulgarien mit dem Leiter Igor Karkaroff oder Albaniens, wo sich Voldemort in den dunkelsten Wäldern verstecken sollte. (Anm.d.Red.: Verschiedene Autor*innen haben sich mit diesem Thema auseinandergesetzt, unter anderem Katharina Lütz in ihrem Beitrag „Von Drachen und verfilzten Pelzmänteln. Über die Konstruktion des „Ostens“ in Joanne K. Rowlings Harry-Potter-Serie“. Hierbei wendet sie Edward Saids Konzept des Orientalismus an, um aufzuzeigen, auf welche Weise ein Bild Osteuropas als ‚andersartig‘ und ‚rückständig‘ in Abgrenzung zum vermeintlich ‚überlegenen‘ Westen gezeichnet wird.) Die sogenannten Polenwitze, die vom Schulhof noch nicht verschwunden sind, gibt es auch. Insgesamt bestehen Ressentiments gegen Pol*innen. Es gibt zudem eine starke Sexualisierung von Frauen, denen eine osteuropäische Herkunft zugeschrieben wird. Einerseits wird ihnen Hypersexualität zugeschrieben, andererseits auch prüde zu sein. Für Diskriminierung ist es typisch, dass eine solche Polarisierung stattfindet – entweder oder, aber nichts dazwischen.

Auf der institutionellen Ebene kann man das Problem tiefer betrachten, was zum Beispiel die Erinnerungskultur an die zivilen Opfer des Zweiten Weltkriegs im Osten Europas angeht. Da ist in den letzten 80 Jahren einfach nichts passiert – oder sehr wenig. Es gibt Ausschlüsse auf dem Wohnungsmarkt. Letztens gab es in Bremen den Fall, bei welchem Menschen aus Bulgarien und Rumänien von einem Immobilienunternehmen als eine Kategorie erfasst wurden. (Anm.d.Red.: Der Fall machte vor knapp einem Jahr Schlagzeilen, als aus internen Dokumenten der städtischen Bremer Wohnungsbaugesellschaft Brebau bekannt wurde, dass Bewerber*innen in rassistische und antislawische Kategorien unterteilt wurden, um diesen Menschen keine Wohnung zu vermitteln. Was seitdem passiert ist, erfahrt ihr hier.)

Es kann natürlich auch im Alltag vorkommen. Ich sammle gerade Sprüche, die ich in meinem Rechtsreferendariat zu hören bekomme. Da höre ich zum Beispiel „voll wie 10 Russen“ oder „ich möchte nicht drei Armbanduhren an einem Arm tragen wie die Russen“. Ein Anwalt, der gefragt wurde, was er mit seinen Kindern macht, wenn er in den Urlaub fährt, antwortete: „Ich hole mir ein billiges russisches Mädchen für die Betreuung“. Es wird wie selbstverständlich angenommen, dass Care-Arbeit von Osteuropäer*innen geleistet wird. Man kennt 24-Stunden-Betreuungen, die vor allem von polnischen und anderen osteuropäischen Arbeiter*innen bewältigt werden. Was gabs denn da letztens noch für einen Spruch? „Ein Problem auf russische Art lösen“, das kam auch mal vor.

Was bedeutet das?

Mit Gewalt, sozusagen als eine Drohung. In dieser Aussage spiegelt sich das Bild von aggressiven Osteuropäer*innen wider. Hierbei ist alles auf „Russen“ gemünzt, was eigentlich die pauschale Sammelbezeichnung für alle Osteuropäer*innen ist. Diese fehlende Differenzierung ist auch ein wichtiger Punkt. Dadurch, dass Russland schon seit Jahrhunderten ein Feindbild ist, sind DIE Russen eher ein Ideologem, d.h. ein ideologisch aufgeladener Begriff. Er wird inflationär weiterverwendet und hiervon bleibe auch ich im Referendariat nicht verschont. Es gab weitere solcher Vorfälle in meinem Referendariat oder in meinem Studium. Dazu gehört natürlich auch der Klassiker, der mich seit meiner Jugend verfolgt, das Wodkatrinken. Wodka trinken Menschen, die aus Polen oder aus Russland kommen. Diese werden stark damit konfrontiert. Du musst aushalten, du musst trinken. Und wenn du das nicht kannst, dann bist du halt kein „echter Pole“ oder keine „echte Russin“.

Du hast gerade gesagt, dass diese Form der Diskriminierung eine lange Tradition hat. Warum wurde ihr bisher so wenig Beachtung geschenkt?

Man kann weit in die Vergangenheit zurückblicken. Bereits zwischen germanischen und slawischen Volksstämmen, die in enger Nachbarschaft lebten, gab es Konflikte und Streitigkeiten, wobei ich den Antislawismus hier noch nicht verorten würde. Zur Zeit der Aufklärung und später, als sich in Europa Nationalstaaten bildeten, geschah dies im Osten von Europa kaum. Der Einfluss des Zaristischen Russländischen Reiches wurde kritisiert. Kleinere Nationen Mittel- und Osteuropas wurden von deutschen Denkern als „ohnmächtige Nationen“ oder als „verkrüppelte Völker“ bezeichnet. Da gab es Überlegungen zu so etwas wie Aufarbeitung noch gar nicht. Ich würde sagen, dass das Ganze nach dem Zweiten Weltkrieg hätte aufgearbeitet werden sollen. Es gibt unterschiedliche Gründe, warum das nicht getan wurde. Erstens bestanden rein pragmatische Gründe, man wollte sich damit nicht beschäftigen, man wollte keine Entschädigungen oder Reparationszahlungen zahlen müssen. Zweitens war die DDR antifaschistisch und dort „gab es“ keinen Antislawismus, die BRD war antikommunistisch. Der Antibolschewismus, der eine große Rolle im Antislawismusdiskurs spielt, zumindest in Bezug auf die Geschichte, wurde durch den Antikommunismus abgelöst. Hier war „der Russe“ wiederum ein Feindbild. Die antisemitische Komponente entfiel zum größten Teil, aber nicht komplett. So betrachtet gab es also kaum Gründe, sich damit zu befassen.

Auf welche Weise kann Antislawismus Menschen in ihrer Selbstwahrnehmung verändern?

Auf diese Frage würde ich mit dem sogenannten internalisierten Antislawismus antworten. Hierzu kommt es bei vielen Antidiskriminierungsformen, wenn sie relativiert werden, zum Beispiel, indem sie durch einen Witz in den Raum gestellt werden. Werden sie angenommen und von den diskriminierten Menschen erstmal nicht abgelehnt, sondern entweder mit einem Witz zurück oder mit Annahme als Reaktion beantwortet, entsteht ein internalisierter Antislawismus, das heißt ein Mensch glaubt wirklich daran, dass er zum Beispiel ein passionierter Wodkatrinker ist.

Der andere Punkt ist die Unsichtbarmachung. Unsichtbarkeit ist ein breites Thema und beinhaltet unterschiedliche Ebenen. Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, werden sich selbst, soweit sie können, erstmal unsichtbar machen – die eigene Kultur wird zurückgeschraubt, es kommt zu Namensänderungen, die Sprache wird nicht gepflegt. Ich kenne zahlreiche Menschen in meinem Freundeskreis, denen eine slawische Sprache genau aus diesem Grund in der Kindheit nicht vermittelt wurde, damit sie sich besser anpassen können. Es besteht zudem eine Unsichtbarmachung seitens der Dominanzgesellschaft. Es wird von einer Leitkultur ausgegangen, sodass andere Kulturen entweder abgewertet werden oder nicht genug Raum erfahren. Das kann man auch sehen, wenn man sich die Politik anschaut. Wieviel Partizipation ehemaliger osteuropäischer Migrant*innen oder Menschen mit osteuropäischer Herkunft findet statt? Das sind nicht viele, wobei sich dies mit der Zeit auch ändert. Je mehr man sich anpasst oder assimiliert wird, desto mehr Möglichkeiten hat man auf dem Arbeitsmarkt, in der Politik, oder in der Kunst und Kultur. Das sind aus meiner Perspektive die zwei Baustellen: einerseits Internalisierung von Diskriminierung und andererseits Unsichtbarmachung.

Es gibt weitere Punkte, die krasser sind, wie Ausbeutung: Menschen, die Spargel stechen oder Erdbeeren sammeln, kommen meistens aus dem Osten Europas und werden schlecht bezahlt, beziehungsweise leben unter schlechten Bedingungen. Ein weiterer Punkt ist der Menschenhandel zum Beispiel in Bezug auf Frauen, die in der Prostitution landen. Da gibt es Stereotype von promiskuitiven osteuropäischen Frauen, denen bestimmte Qualitäten zugeschrieben werden, sodass sie als Ware behandelt werden und durch ökonomischen Zwang, aber auch aufgrund der patriarchalen, rassistischen Strukturen in bestimmten Milieus landen.

Wie kann ich eigene internalisierte diskriminierende Denkmuster erkennen?

Mein Aha-Moment war mein Gedanke: Okay, ich mache jetzt etwas, aber fühle mich dabei unwohl. Ich mache das nur, weil die anderen das von mir erwarten und ich dafür entweder Lob, Zuneigung oder Sympathie erfahre. Es ist notwendig, einen Schritt zurückzugehen und zu fragen: Okay, warum ist das denn so? Eigentlich fühle ich mich unwohl, aber ich werde dafür belohnt. Jemand will von mir etwas, was ich eigentlich nicht gerne mag, zum Beispiel Wodkatrinken. Ich mochte keinen Wodka trinken, habe es dann aber trotzdem gemacht, weil es in der Gruppe von Jugendlichen cool war, so richtig viel aushalten zu können. Na, der Sergej, der Russe, der kann Wodka trinken. Ich meine, das ist überspitzt dargestellt, aber etwa so war das. Ich musste diesen Schritt zurückgehen und sagen: Okay, ich profitiere davon, aber ich profitiere davon eigentlich auf meine eigenen Kosten – um zu erkennen, dass es ein Label ist und später nichts Gutes für mich heißt. Denn als Jugendlicher ist das vielleicht noch witzig, aber später kriegt man keinen Job, weil man ein „russischer Säufer“ ist.

Auf dem Arbeitsmarkt oder bei anderen Angelegenheiten wird einem Unzuverlässigkeit, Aggressivität oder ähnliches zugeschrieben. Aus meiner Perspektive ist das alles sozial konstruiert und greift auf bestimmte Stereotype zurück. Wenn man sich davon lösen möchte, ist es erstens nicht einfach, weil man die Quelle der Sympathie verliert, wovon man irgendwo auch profitiert. Andererseits ist es nicht einfach zu erkennen. In der Sendung „Dumm gefragt“ gab es das Thema: „Die Russen, dumm gefragt“. Es wurde gefragt: „Trinken die Russen Wodka wie Wasser?“ Und dann beginnen Menschen zu erklären, dass Wodka ein Getränk ist, das in Russland Tradition hat, und wer bei einer russischen Hochzeit war, weiß, dass Wodka in Massen getrunken wird. Man bemerkt diese Selbstpositionierung als Trinker*innen, die schwer zu widerlegen ist, weil es Fälle gibt, wo Menschen trinken. Aber dadurch wird natürlich auch gesagt, dass alle trinken. Diese Pauschalisierung umfasst einfach alle. In meiner Kernfamilie haben vor allem drei Männer getrunken, ein Drittel hat vielleicht wirklich Wodka getrunken, die anderen nicht, aber alle sind trotzdem im gleichen Boot.

Wie lässt sich Antislawismus als institutionelle Diskriminierung erkennen und wie kann man diesem entgegenwirken?

Die institutionelle Ebene ist nicht so einfach zu erfassen. Andererseits gibt es Anhaltspunkte, wie das Beispiel der Immobilienfirma in Bremen, die eine Kategorie schaffte und festlegte, Menschen aus Rumänien und Bulgarien dürfen nicht einziehen. Worum geht es dabei? Es kann etwas mit Rassismus gegen Rom*nja und bestimmten Zuschreibungen zu tun haben. Es kann etwas mit dem Antislawismus zu tun haben. Dagegen kann man vorgehen, unsere Antidiskriminierungsgesetze verbieten eine solche Differenzierung nach ethnischer oder nationaler Zugehörigkeit. Schwierig wird das mit dem Begriff der Zuschreibung, denn was heißt das und wie kann man das rechtlich erfassen?

Ein weiterer Punkt sind typische Polizeikontrollen oder Kontrollen beim Einlass in Diskotheken. Hierbei wurden unterschiedliche Möglichkeiten genutzt, Leute aufs Glatteis zu führen, indem man wie in einer Studie versuchte, irgendwo reinzukommen, und klagte, wenn man abgelehnt wurde. Ich durfte als Jugendlicher in bestimmte Clubs nicht, ohne meinen Ausweis an der Theke zu hinterlassen, oder gar nicht, weil wir als Gruppe von „Russen“ gekommen sind. Das kann man inzwischen überführen, aber das kostet viel Mühe und jemand muss sich damit beschäftigen. Bei Polizeikontrollen begegneten mir Schikane und Sprüche wie „Wenn‘s dir hier nicht gefällt, dann geh doch zurück nach Russland und protestiere da gegen Nazis!“ Es kam auch vor, dass Autos rausgefischt wurden. Die Polizei wusste, wo „DIE Russen“ wohnen und wenn irgendwo irgendwas passiert ist, zum Beispiel eine Schlägerei, dann konntest du schon damit rechnen, dass wenn du nach Hause kommst, die Polizei dasteht und auf dich wartet.

Die Polizei unterscheidet in ihren internen Statistiken oft nach ethnischen Merkmalen. Auch das kann man aus meiner Perspektive gut unterbinden. Die Fahndung nach „osteuropäischen“ Menschen ist auch so ein klassisches Beispiel. Was heißt denn „osteuropäisch aussehend“ oder „slawisch aussehend“? Man kann durch Schulungen verhindern, dass so etwas wieder vorkommt. Eigentlich führt das sowieso ad absurdum, weil die Menschen so durchmischt sind – da kann man wirklich kein slawisches Aussehen konstruieren!

In welchem Zusammenhang siehst du den Krieg gegen die Ukraine und die Diskriminierung von Menschen mit osteuropäischem Hintergrund in Deutschland? Kannst du hierdurch Veränderungen wahrnehmen?

Erstens leben mehr Menschen mit einem osteuropäischen Background in Deutschland, die auch in der Öffentlichkeit präsenter werden. Dadurch wurde auch das Thema Antislawismus präsenter. Es ging in unterschiedliche Richtungen: Es gibt klassische antislawische Haltungen gegenüber Menschen aus Osteuropa – eigentlich weniger Osteuropa, vor allem das Feindbild „der Russen“ wurde wiederbelebt. (Anm.d.Red.: Während des Workshops griff Sergej die Aussage der Politikwissenschaftlerin Florence Gaub als Beispiel auf. Diese hatte im April vergangen Jahres in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands geäußert: „Ich glaube, wir dürfen nicht vergessen, dass, auch wenn Russen europäisch aussehen, dass es keine Europäer sind – jetzt im kulturellen Sinne.“) Aber inzwischen gibt es nicht mehr so viele Menschen, die darauf zurückgreifen, das war zunächst ein Thema.

Das andere Thema ist die Diskriminierung von Geflüchteten. Hier gab es eine Verdoppelung der Diskriminierung. Einerseits wurden Menschen antislawisch diskriminiert, weil nicht unterschieden wurde, ob sie Russ*innen sind oder nicht – viele Menschen aus der Ukraine sprechen Russisch. Andererseits gab es politische Anfeindungen, bei denen tatsächlich Menschen als Ukrainer*innen angegriffen wurden. Dies geschah seitens bestimmter, vor allem Kreml-naher Akteur*innen, die ihnen die politische Verantwortung dafür übertragen wollten, dass die Deutschen die Energiepreise ausbaden müssen, die in die Höhe gestiegen sind. Die Aufmerksamkeit von Antidiskriminierungsstellen und Opferberatungsstellen ist gestiegen, einerseits aufgrund der medialen Aufmerksamkeit, andererseits wegen tatsächlicher Vorfälle.

Siehst du die gestiegene Aufmerksamkeit als eine Chance, Vorurteile gegenüber Menschen mit osteuropäischem Hintergrund abzubauen oder werden mehr Klischees und Stereotype bedient?

Es wurden schon einige Sachen in Gang gesetzt, sodass die Antidiskriminierungsstellen, die Akteur*innen in der Antidiskriminierungsarbeit, sich nun mehr dafür interessieren. Ich glaube nicht, dass das jetzt einfach so vorbeigeht, ohne dass wir etwas erreicht hätten. Es wird momentan Arbeit geleistet, noch viel zu wenig, aber es geht voran. Das ist auf jeden Fall erfreulich.

Alte Stereotype werden wieder lebendiger und verändern sich auch. Vieles wird subtiler in die Welt gesetzt. Ich hatte so einen krassen Fall hier im Februar 2022, direkt nach der Invasion der Ukraine durch die russländischen Streitkräfte. Der Postbote, der mich eigentlich schon vom Sehen kennt, hat mir einen Brief überreicht. „Ja ist das jetzt für Herrn Proputinkin?“ – ich heiße ja Prokopkin. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen soll. Ich war überfordert und wusste nicht, wie ich auf diesen Postboten hätte reagieren sollen. Das war nur ein kurzer Moment, aber für mich war das trotzdem ein Indikator – okay, etwas hat sich ein bisschen verändert. Ich lehne Begriffe wie den der Russophobie ab, ich stehe nicht dahinter. Ich gehe nicht davon aus, dass eine krasse Russophobie in Deutschland grassiert. Aber den Antislawismus gibt es schon, den gab es auch vor der Invasion und ich glaube, der bleibt auch noch ein bisschen. Hoffentlich nicht so lange, aber ich bezweifle, dass es morgen vorbei ist.

Anfang des Jahres gründete Sergej mit anderen Aktivist*innen das Antislawismus-Zentrum in Berlin, das ihre aktivistische Arbeit institutionalisieren soll. Das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen, Ziel ist es, die Tätigkeiten im Bereich Aufklärung und Aufarbeitung auszuweiten sowie das Zentrum als Beratungsstelle für Politik und Bildung zu etablieren. All dies soll eine fundierte Auseinandersetzung mit Antislawismus ermöglichen.

Für uns Teilnehmer*innen des Workshops endete der Tag mit einem Besuch des Theaterstücks „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ nach dem Roman von Olga Grjasnowa. Hieran angelehnt ist auch der Titel meines Artikels, der so zu verstehen ist: Eigentlich lassen sich Stereotype aufgrund ihrer Absurdität leicht dekonstruieren. Das Gespräch mit Sergej verdeutlichte mir, wie wichtig dies ist, da zwischen deren Reproduktion und erlebter Diskriminierung ein schmaler Grat verläuft.

Sergejs Instagramkanal könnt ihr unter s_prokopkin folgen

Mehr über die Post-Ost-Bewegung erfahrt ihr im Fluter-Artikel über Sergej (07/2022)