An einem eiskalten Januartag machen wir uns von Vilnius aus mit dem Zug auf den Weg nach Visaginas. Wir, das sind zwei litauische Kommilitoninnen, die ich während meines Auslandssemesters in Vilnius kennengelernt habe, und ich. Ich habe die beiden von der Idee überzeugen können, mitten im Winter einen Tagesausflug in den Nordosten des Landes zu machen, wo bisher keine von uns dreien gewesen ist. Visaginas befindet sich etwa 150 Kilometer von Vilnius entfernt, nahe des Dreiländerecks Lettland-Litauen-Belarus. Wenige Kilometer weiter östlich liegt das seit 15 Jahren nicht mehr aktive Kernkraftwerk Ignalina am See Drūkšiai direkt an der belarusischen Grenze.
Die Stadt und das Atomkraftwerk sind unweigerlich miteinander verbunden: Visaginas wurde 1975 als Sniečkus (nach dem ehemaligen Vorsitzenden der litauischen KP benannt) allein für den Bau und späteren Betrieb des Atomkraftwerkes gegründet. Ignalina sollte das leistungsstärkste Atomkraftwerk der Sowjetunion werden, wofür Menschen aus allen Teilen des damals flächenmäßig größten Landes der Erde als Arbeiter*innen angeworben wurden. Die Stadt hatte daher von Anfang an multiethnischen Charakter, was sich bis heute in der Zusammensetzung der in Visaginas lebenden Menschen widerspiegelt: Die Gemeinde bildet eine von gerade mal zwei Regionen in Litauen, in denen ethnische Litauer*innen in der Minderheit sind. Laut einer Volkszählung aus dem Jahr 2011 bildeten Russ*innen damals mit rund 54 % die Mehrheit in Visaginas (im Vergleich zu 6 % in Gesamtlitauen). Auch der Anteil an Belarus*innen (2011: 10 %) und Ukrainer*innen (2011: 6 %) ist im Vergleich zu anderen Teilen des Landes überproportional hoch.
Eine sozialistische Musterstadt mitten im Wald
Nachdem wir in Visaginas mit dem Zug angekommen sind, bemerken wir schnell einen sprachlichen Unterschied zu Vilnius. Wir hören hier auf den Straßen kein Litauisch, sondern hauptsächlich Russisch. Vom Bahnhof aus führt uns eine halbstündige Wanderung durch den verschneiten Kiefernwald ins Zentrum. Die Stadt ist von allen Seiten von Wald umschlossen, was offenbart, dass hier vor ihrem Bau nur Natur war. Heute erscheint es mir kaum vorstellbar, aber in den 80er Jahren gehörte das quasi ins Nichts gebaute Visaginas zu den modernsten Städten der litauischen Sowjetrepublik. Das Stadtbild weist Spuren dieser sowjetischen Vergangenheit auf: Visaginas mutet als sowjetische Musterstadt im sozialistischen Baustil an, an vielen Orten reihen sich identisch wirkende Plattenbauten endlos aneinander. Zudem finden wir Hinweise auf die überwiegend orthodoxe Bevölkerung. Wir erkunden eine gut besuchte orthodoxe Kirche im Stadtzentrum. Auf einem zugefrorenen See entdecken wir ein in die Eisplatte geschnittenes Loch in Form eines Kreuzes, das für das traditionelle orthodoxe Eisbaden im Januar genutzt wird – brrr, mir wird schon beim Gedanken daran kalt! Nach diesem Anblick müssen wir uns erstmal in einem Café aufwärmen und es kommt die Frage auf: Sollen wir wirklich noch zum etwa 10 Kilometer entfernten stillgelegten Kernkraftwerk Ignalina fahren? Es beginnt bereits zu dämmern (im Winter wird es in Litauen ab 15 Uhr dunkel), zudem haben wir Angst, dass wir für die Rückfahrt keine Person finden, die bereit ist, uns mit ihrem Taxi wieder mit zurück in die Stadt zu nehmen. Nach kurzer Diskussion entscheiden wir uns aber dennoch für die Fahrt, unsere Neugier überwiegt.
Weshalb ist das Atomkraftwerk so interessant? Berühmtheit erlangte es als Kulisse für die HBO-Serie „Chernobyl“ von 2019. Hintergrund der fünfteiligen US-amerikanisch-britischen Miniserie ist die Nuklearkatastrophe, die sich in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 in Tschornobyl (Transliteration aus dem Ukrainischen) im Norden der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik nahe der Grenze zum heutigen Belarus ereignete. Indirekt steht die Schließung des litauischen Kernkraftwerkes auch in Verbindung mit Tschornobyl. So handelt es sich bei den beiden Reaktoren in Ignalina, die 1983 und 1987 in Betrieb genommen wurden und damals die größte Leistungskapazität weltweit besaßen, um den gleichen Bautyp wie der des ukrainischen Atomkraftwerks. Auch in Litauen kam es immer wieder zu kleineren, aber doch ernstzunehmenden Pannen. Nach der Katastrophe 1986 wurden Modifikationen vorgenommen. Dennoch lösten die Ereignisse, wie auch in anderen Teilen der UdSSR, Proteste gegen die Kernenergie im Rahmen einer erstarkenden Umweltbewegung aus. Diese war im gesamten Baltikum (wie auch in der Ukraine) ein relevanter Bestandteil der Unabhängigkeitsbewegungen. Der Protest bewirkte, dass der Bau eines dritten Reaktors Ende der 80er Jahre gestoppt wurde. Die Unabhängigkeit Litauens 1990 durchkreuzte die weiteren sowjetischen Pläne für das Werk, sodass ein vierter geplanter Block nie Realität wurde.
Kernkraftwerk Ignalina - vom Fortschrittsprojekt zum Problemfall
Das Atomkraftwerk blieb nach der Unabhängigkeit ein Sorgenkind. So warnte der Regierungsberater für das Kernkraftwerk Ignalina 1992 vor einem „zweiten Tschernobyl“. Nicht nur wies das Atomkraftwerk Sicherheitsmängel auf. Geolog*innen hatten festgestellt, dass unter dem Kraftwerk tektonische Bruchlinien verlaufen, was bei der Standortauswahl wohl nicht berücksichtigt worden war. Gleichzeitig war das nun unabhängige Litauen energietechnisch stark auf die Atomkraft angewiesen, die auch Unabhängigkeit von russischem Erdgas bedeutete. Der Atomstromanteil Litauens betrug 1993 noch 88%, der höchste Wert weltweit. Die Vereinbarung, das Atomkraftwerk Ignalina vom Netz zu nehmen, war Voraussetzung für die Aufnahme Litauens in die Europäische Union, die sich im Gegenzug dazu verpflichtete, die dafür entstehenden Kosten zu übernehmen. Gemäß dieser Vereinbarung wurde 2009 der zweite und letzte sich noch im Betrieb befindliche Reaktor abgeschaltet.
Bei unserer späteren Erkundungstour werden wir erstaunt sein, dass in einigen Gebäuden dennoch Lichter brennen und Autos vor dem Gebäude stehen. Bis 2038 sollen die Abbauarbeiten dauern, noch knapp 2000 der ehemals 5000 Mitarbeitenden sind hierfür angestellt. Dass hierdurch also mehr als die Hälfte der Beschäftigten ihren Job verlor, machte die Entscheidung der litauischen Regierung in Visaginas äußerst unpopulär. Zudem war das Atomkraftwerk für vielen Bewohner*innen stark mit ihrem Selbstverständnis verbunden, weshalb das Abschalten des Kraftwerkes auch einen gesellschaftlichen Bruch für die Region bedeutete. Der Taxifahrer, der uns nach Ignalina bringt, berichtet uns eindrücklich davon, wie er selbst seinen Job im Atomkraftwerk verlor und er dies bis heute sehr bedauert. Zur initial durch die Regierung angekündigten Errichtung eines neuen Atomkraftwerks in der Region kam es bisher nicht. Seit einer Volksbefragung 2012, in der sich knapp 65% der teilnehmenden Litauer*innen gegen den Bau eines Kernkraftwerkes und damit den Wiedereinstieg Litauens in die Atomkraft aussprachen, liegt das Projekt auf Eis.
Ein Unterschied wie Tag und Nacht: Das Atomkraftwerk 2005 noch in Betrieb (Bild: Petr Štefek) vs. heutige Aufnahme
Da auf diese Weise viele traditionelle Arbeitsplätze in der Region weggebrochen sind, wird der „Atomtourismus“ nach Visaginas seit der Serie „Chernobyl“ von vielen als wirtschaftliche Chance wahrgenommen, die mit touristischen Angeboten beantwortet wird: Eine App bietet eine interaktive Karte der Stadt, Führungen im Atomkraftwerk werden für etwa 60 Euro angeboten. Das war uns definitiv zu teuer, zudem hatten wir mehr Lust, die Gegend auf eigene Faust zu erkunden. Als wir schlussendlich beim Kernkraftwerk ankommen, ist es schon früher Abend. Im Halbdunkeln wirkt der Gebäudekomplex gespenstisch, auch weil kaum Menschen außer uns zu sehen und nur wenige Fenster erleuchtet sind. Zahlreiche angrenzende größtenteils unbewohnte Gebäude und die verlassenen Straßen und Wege zwischen ihnen machen allerdings klar, dass hier vor nicht allzu langer Zeit einmal der Lebensmittelpunkt vieler Menschen lag. Es erscheint mir wie eine Geisterstadt. Dass die Silhouette der Reaktoren im Hintergrund zudem eins zu eins aussieht wie in der Serie „Chernobyl“ und deshalb bei mir Assoziationen an das Unglück weckt, macht den Anblick nicht weniger gruselig. Am Ende bin ich deshalb auch froh, Ignalina voller spannender Eindrücke wieder verlassen zu dürfen. Ein Taxi finden wir zum Glück auch noch, sodass wir nicht im Nirgendwo übernachten müssen, sondern uns auf der Zugrückfahrt nach Vilnius aufwärmen und unsere Gedanken über diesen besonderen Ausflug miteinander teilen können.