Hier geht es zum ersten Teil des Artikels zu den serbischen Wahlen im Dezember 2023, der sich vor allem mit dem Vorfeld und den Ergebnissen der Wahlen befasst.

 

Dass sich auch in diesem Text viel um die Person Vučić dreht, wäre wohl ganz im Sinne seiner Partei. Der Wahlkampf der SNS war ganz auf ihr populärstes Gesicht zugeschnitten, dabei stand Vučić selbst gar nicht zur Wahl. Nun schon bald 10 Jahre ist er die prägende Figur der serbischen Politik und hat seitdem einen beträchtlichen Personenkult um sich selbst aufgebaut. Seit 2017 bekleidet Aleksandar Vučić das Amt des Staatspräsidenten, eine mächtige Rolle im semipräsidentiellen System des Landes. Zuvor war er bereits Ministerpräsident. Seine Partei erlangte 2016 erstmals die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung und ist seitdem die dominierende politische Kraft. Bei den Wahlen 2020 erhielt die SNS gar 60 Prozent der Stimmen, nachdem ein Großteil der Opposition diese boykottiert hatte. Zuletzt regierte sie in einer Koalition mit der sozialistischen SPS.

Vučićs innenpolitische Bilanz: Eine gewachsene Wirtschaft und gesunkene demokratische Standards. In seiner Amtszeit hat er ein zunehmend autoritäres und korruptes Machtsystem etabliert, in dem die Medien, die Justiz und die Verwaltung weitgehend unter der Kontrolle der SNS stehen und den parteieigenen Interessen dienen. Auch Verstrickungen der Partei in die organisierte Kriminalität stehen im Raum. Der Staat und die Regierungspartei seien eins geworden, berichten NGOs. Im Demokratieindex „Freedom House“ wird Serbien mittlerweile nur noch als „teilweise freier Staat“ und „Hybridregime“ eingestuft. Vučićs außenpolitischer Kurs ist eine Gratwanderung. Formal wird an dem Ziel einer „europäischen Zukunft“ festgehalten. Schon seit 2012 ist das Land Beitrittskandidat, doch seitdem hat sich nicht viel getan. Unter seiner Präsidentschaft entfernt sich das Land immer weiter von einem EU-Beitritt und orientiert sich nach ungarischem Vorbild gerne Richtung Russland und China. Anti-westliche Propaganda ist in den staatsnahen Medien an der Tagesordnung. Sinnbildlich dafür ist zum Beispiel, als der Präsident 2020 inmitten der Pandemie eine chinesische Hilfslieferung in gekonnt propagandistischer Manier persönlich am Flughafen entgegennahm, während die millionenschweren EU-Hilfen verschwiegen wurden.

Doch zurück in die Gegenwart: Anders waren diese serbischen Wahlen auch deshalb, weil sie diesmal massive Konsequenzen nach sich ziehen. Die Zahl der Menschen, die das bestehende System nicht mehr tatenlos hinnehmen wollen, scheint zu steigen. Nach dem Wahltag gingen in Belgrad täglich tausende Menschen auf die Straßen. Im Vordergrund der Proteste stand die Forderung nach Annullierung der Wahlen, doch können sie darüber hinaus als ein Kampf für die Demokratie gedeutet werden.

Im Anschluss an die Wahlen überschlugen sich die Ereignisse. Es kam zu großen Protesten vor dem Sitz der Wahlkommission in der serbischen Hauptstadt. Die Wut der Protestierenden entzündete sich insbesondere an der Belgrader Kommunalwahl, bei der die gravierenden Unregelmäßigkeiten eine Verfälschung des Ergebnisses nahelegen. Das liberale Oppositionsbündnis ist nicht bereit die „gestohlene Wahl“ anzuerkennen, die Vorsitzende Marinika Tepić sowie weitere Abgeordnete traten gar in den Hungerstreik.
Am 16. Dezember 2023 beschloss die nationale Wahlkommission eine Wiederholung in 30 Wahllokalen aufgrund bisher ausbleibender Ergebnisse. Für die Anhänger*innen der Opposition war dies keinerlei Grund zur Besänftigung. So versuchten am Abend des 24. Dezembers 2023 Protestierende das Rathaus in Belgrad gewaltsam zu stürmen. 38 von ihnen wurden festgenommen, darunter auch zwei Oppositionspolitiker. Doch auch die überwiegend friedlichen Demonstranten waren immer wieder massiver Polizeigewalt ausgesetzt. Die Proteste dauerten an und erlebten am Samstag, den 30. Dezember mit einer großen Kundgebung in Belgrad ihren Höhepunkt. Die Bilder weckten unweigerlich Erinnerungen an die letzten Massenproteste Serbiens dieses Ausmaßes. 1996 war es bei Kommunalwahlen ebenfalls zu Wahlbetrug gekommen. Dies löste eine monatelange Protestbewegung aus, auch damals insbesondere von Studierenden getragen, die letztlich die Anerkennung der Wahlsiege der Opposition erreichen konnte.

Vučić und die serbische Regierung streiten weiterhin jegliche Unrechtmäßigkeiten im Wahlprozess ab und reagierten zunächst mit erwartbaren Diskreditierungen auf die Proteste. So bemühte man ein klassisches Narrativ populistischer Regierungen, die Proteste seien aus dem Ausland gesteuert und westliche Länder würden in Serbien einen „Maidan“ initiieren wollen.

Das Verhalten der EU und der USA gegenüber Serbien böte reichlich Stoff für einen eigenen Artikel. Trotz Autokratisierung, des guten Verhältnisses zu Russland und der teils konfrontativen Haltung gegenüber dem Kosovo wird Serbien unter Vučić weiterhin als verlässlicher Partner angesehen und gilt als regionaler Stabilitätsanker. Demnach bleiben auch die Reaktionen auf die aktuellen Geschehnisse recht verhalten. Der US-Botschafter in Serbien verlangte das Wahlergebnis anzuerkennen. Auf Unterstützung aus dem Westen kann sich die serbische Opposition wohl nicht verlassen. Immerhin verabschiedete das Europäische Parlament im Februar mit deutlicher Mehrheit eine Resolution, die eine internationale Untersuchung der Wahlergebnisse fordert.

Die längerfristigen Auswirkungen dieser Wahlen und der anschließenden Proteste sind noch nicht gänzlich abzusehen. Die Demonstrationen setzten sich zwar auch noch zu Beginn dieses Jahres fort, verloren jedoch nach und nach an Zulauf. Eine breite und anhaltende Demokratisierungsbewegung, die über das urbane Milieu Belgrads hinausgeht, hat sich somit bisher nicht entwickelt und die Wirkung der Proteste bleibt bis jetzt gering. Im März beschloss die SNS allerdings für die Kommunalwahlen in Belgrad Neuwahlen anzusetzen. Formal zwar lediglich aus Gründen einer bisher gescheiterten Regierungsbildung, kann die Oppositionsbewegung dies dennoch als Erfolg verbuchen. Ein Urteil des serbischen Verfassungsgerichts zur Klage der Opposition auf Annullierung der Belgrader Wahlen aufgrund Wahlbetrugs steht derweil noch aus. Insgesamt könnte das repressive Klima in Serbien nun deutlich zunehmen. Dies lässt auch der Fall Nikola Sandulović vermuten, dem Vorsitzenden einer kleinen Oppositionspartei. Nachdem er Opfern serbischer Verbrechen im Kosovokrieg gedacht hatte, wurde er Anfang Januar 2024 mutmaßlich vom serbischen Geheimdienst verhaftet und brutal misshandelt. Die Ergebnisse der vergangenen Wahlen bergen auch die Gefahr, eine starke Desillusionierung unter oppositionell eingestellten Wähler*innen auszulösen, wirkt es unter den gegebenen Verhältnissen schließlich fast unmöglich, einen politischen Wandel herbeizuführen

Nach langen Wochen der Proteste in Serbien sitzt die Regierung weiterhin fest im Sattel. Der Plan Vučićs, durch Neuwahlen seine Macht zu festigen, scheint somit vorerst aufgegangen zu sein. Ob dies sich jedoch langfristig als Eigentor herausstellen könnte, wird sich noch zeigen.