„Every time I see the Green Bridge in the very center of Vilnius, I think it just looks so desolate, looks so empty, as if this bridge was really ripped of its essence. And I feel such a big pity. I really couldn’t imagine this bridge without those statues. And I think that it was a very bad decision to remove them.” Inga Hilbig (44) ist Soziolinguistin an der Universität Vilnius, während meines Auslandssemesters besuchte ich ihr Seminar zu gesellschaftlich-kulturellen Aspekten Litauens. Hier erzählte sie uns Studierenden die Geschichte der Žaliasis tiltas, der Grünen Brücke, die den Norden und Süden von Vilnius über den Fluss Neris miteinander verbindet. Hier befanden sich seit 1952 vier Statuen, die im sowjetischen Stil Arbeiterschaft, Studierende, Bauern und Soldaten darstellen. 2015 wurden sie offiziell wegen ihres schlechten Zustands entfernt. Diese Entscheidung war unter den Bewohner*innen von Vilnius umstritten. Offiziell sollten die Statuen zwar nach einer Renovierung wieder an ihren Platz zurückkehren – sobald die Stadt das Geld hierfür habe –, Inga erinnert sich allerdings, dass schon damals niemand diesem Versprechen Glauben schenkte.
Tatsächlich befinden sich die vier Skulpturen mittlerweile in Besitz des Nationalmuseums in Vilnius. Dass sie so ihren Platz auf der Brücke im Zentrum der Stadt verloren haben, sieht Inga als eine vertane Chance, die sowjetische Vergangenheit im öffentlichen Raum weiter aufzuarbeiten: „Plaques would have suited there perfectly. It really could have shown our past and the Soviet identity that was constructed and forced upon us at that time and would make Vilnius distinct from many Western European places who haven’t experienced what we have experienced. I really regret this decision of our municipality. And many people did.” Gleichzeitig kann sie aber auch manche älteren Menschen verstehen, die zum Beispiel als Dissident*innen stark unter dem sowjetischen System gelitten haben und für die ein Spaziergang über die Grüne Brücke aufgrund genau dieser Statuen mit sehr negativen Gefühlen verknüpft war.
So schnell steckt man inmitten des Konflikts um die verbliebenen sowjetischen Denkmäler in Litauen und bei der Frage: Sollen diese aus der Öffentlichkeit entfernt oder als Teil der Geschichte Litauens bewahrt werden? Der Angriffskrieg Russlands 2022 hat diesem gesellschaftlichen Diskurs, der mit unterschiedlicher Intensität seit der Unabhängigkeit 1990 geführt wurde, neue Brisanz verliehen. Doch bereits die Annexion der Krim und der Beginn des Krieges im Osten der Ukraine 2014 haben die Atmosphäre in Litauen verändert. Die Bedrohung durch Russland lässt die Auseinandersetzung mit den Relikten ihrer eigenen sowjetischen Vergangenheit für viele Litauer*innen in einem existenziellen Licht erscheinen. „People are angry and afraid. I think these are the two most important emotions leading all those initiatives and actions”, glaubt Inga. Im Mai letzten Jahres trat das sogenannte De-Sowjetisierungsgesetz in Kraft. Es verbietet die Propagierung totalitärer und autoritärer Regime und ihrer Ideologien in der Öffentlichkeit und legt fest, auf welche Weise Objekte mit entsprechender Symbolik entfernt werden. Vorschläge hierfür sollen Städte und Gemeinden dem sogenannten Forschungszentrum für Genozid und Widerstand in Vilnius vorlegen. Dieses beschäftigt sich vornehmlich mit Verbrechen der sowjetischen Besatzung (und verwendet hierfür den in Mittel- und Osteuropa recht verbreiteten, aber umstrittenen Begriff des Genozids). Unter Beratung durch eine inter-institutionelle Kommission mit Mitgliedern aus Wissenschaft und Politik wird hier die letztendliche Entscheidung getroffen.
Auf diese Weise verschwinden nun viele der letzten sowjetischen Denkmäler in Litauen aus der Öffentlichkeit – Statuen wie die auf der Grünen Brücke, aber auch auf Friedhöfen. Inga berichtet: „Now they are also removing monuments of Soviet soldiers in cemeteries all over the country. There’s really a big question and I think not a very clear distinction in some cases if that’s a monument depicting and glorifying the Soviet ,liberators’ that came here and ,forgot’ to leave or a joint gravestone. The decision was to keep the gravestones out of respect for the dead, but to remove those statues who are supposed to glorify the Red Army.” Hier zeigt sich die große Krux des Gesetzes, denn so einfach lässt sich die Frage zum Teil gar nicht beantworten, was noch als Form der Erinnerung zählt und was schon als Symbol des sowjetischen Regimes und damit möglicherweise als Stoff für Propaganda des Kremls dienen könnte.
Wie kompliziert diese Frage sein kann, lässt sich auch am Umgang mit kommunistischen litauischen Schriftsteller*innen aufzeigen. Zu den wohl umstrittensten Persönlichkeiten dieser Kategorie gehört Petras Cvirka. Der junge überzeugte Kommunist hatte die Inkorporation Litauens in die UdSSR 1940 befürwortet und war ein Jahr später aufgrund der deutschen Besatzung nach Moskau emigriert. Nach seiner Rückkehr übernahm er neben politischen Ämtern in der Kommunistischen Partei den Vorsitz des sowjetischen Schriftstellerverbands, den er bis zu seinem frühen Tod 1947 innehatte. Bereits Anfang der 90er gab es heftige Diskussionen über das Schicksal seiner Statue, die durch die sowjetischen Behörden 1959 an einer zentral gelegenen Kreuzung in Vilnius errichtet worden war. Während er dem einen Lager als politisch problematische Figur gilt, ist die andere Seite der Auffassung, dass seine politischen Ansichten von seinem Wirken als Schriftsteller zu trennen sind. Zudem habe seine kommunistische Überzeugung zuletzt unter dem Eindruck der Repressionen unter Stalin Risse bekommen. Inga meint: „For me all this is not white and black. This collaboration issue is very sensitive. Some people are quick to put the other into two categories: A traitor or a patriot, this is it. But there are so many shadows of grey. For many people he is just a communist who we should forget. For some others, including me, he was a talented writer who made really bad decisions in his life and came to quite a tragic end.” Cvirkas Statue wurde im Herbst 2021 aus der Innenstadt von Vilnius entfernt.
Ich begegnete Petras Cvirka am Eingang zu Grūto Parkas wieder (siehe Titelbild), vermutlich einem der seltsamsten Orte, an denen ich bisher war. Bei Minusgraden besuchte ich den im Süden Litauens gelegen Park, der den Spitznamen „Stalin’s world“ trägt. Hier sind Statuen und Monumente sowie weitere Exponate aus der Sowjetzeit, die in Litauen nach der Unabhängigkeit demontiert und aussortiert wurden, in einer Art Freilichtmuseum ausgestellt. Gleichzeitig ist es aber auch ein Tierpark, für Kinder gibt es einen Spielplatz nach sowjetischer Bauart. Auf dem Gelände begegnet man Stalin, Lenin und litauischen Kommunist*innen in allen Formen und Größen, während nebenan Hasen durch den Schnee hüpfen, Vögel unbekümmert ihre Kreise um die Statuen ziehen und sowjetische Musik durch Lautsprecher schallt.
Wachtürme und Stacheldraht säumen den Pfad, auf dem man sich durch den Park bewegt. Ein ursprünglicher Plan, die Besucher*innen mit einem den Deportationszügen nachempfundenen Waggon durch das Gelände fahren zu lassen, wurde aufgrund öffentlicher Empörung wieder verworfen. Dafür finden Reenactments statt, bei denen man zum Beispiel Lenin „persönlich“ treffen kann. Der 2001 eröffnete Park ist eine Privatinitiative und bis heute umstritten. Einigen Litauer*innen war es nach der Unabhängigkeit ein Dorn im Auge, dass die sowjetischen Denkmäler nicht einfach vernichtet wurden. Andere finden, dass die Ausstellung in dieser Art Erlebnispark unangemessen ist und die durch das sowjetische Regime begangenen Verbrechen verharmlost.
Eindrücke aus dem Grūtas Park
Im Vergleich zum Abbau sowjetischer Denkmäler nach der Unabhängigkeit, hat die heutige Diskussion seit der Invasion der Ukraine 2022 laut Inga eine andere Qualität. So debattiert man beispielsweise selbst darüber, Gullydeckel auszutauschen, auf denen noch „Litauische Sozialistische Sowjetrepublik“ zu lesen ist: „Even such small things are supposed to disappear for us to get rid of it all for good“. Dies hält sie für den falschen Ansatz. Ihrer Meinung nach sollten sowjetische Denkmäler stattdessen mit kritischen Infotafeln versehen werden, aber an Ort und Stelle bleiben. Der aktuelle Krieg hätte die Diskussion aber in eine völlig andere Richtung verschoben: „Before the full scale Ukrainian war started, I was thinking: Now we can afford it all. We can just keep those signs in our public spaces and we are okay with that. We are independent, we are free, we are secure. We can finally have a healthier attitude and relationship with that past, some detachment. There’s nothing we can really forget because it’s there, it’s in our collective memory, all those losses and traumas. We can simply keep those things and just turn them into representations of our history. I don’t think that in Lithuania – which is firmly a part of the Western world by now – I don’t think that some people could be affected by those monuments and names of the streets and feel nostalgic for the Soviet past or turn into pro-Putin people, especially after this most brutal war in Ukraine has started. There are threats, yes, but I don’t see those material Soviet relicts as a threat for our national security.”
Im Gegenteil, meint sie, kann die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, auch im öffentlichen Raum, die Gesellschaft gegenüber der Propaganda aus Russland resilienter machen. Behauptungen aus dem Kreml, „baltische Faschisten“ würden auf den Denkmälern für sowjetische Kriegshelden herumtrampeln, werde außerdem die Grundlage entzogen. Hierbei ist aus Ingas Sicht allerdings zu berücksichtigen, dass die Diskussionen in Estland und Lettland andere sind. Litauen sei im Vergleich zu den beiden nördlicheren Länder, die einen wesentlich höheren Anteil an russischsprachiger Minderheit haben, in einer einfacheren Position. Dass Russlands Narrativ von der „Rettung ethnischer Russ*innen“ in den anderen zwei baltischen Ländern mehr Angst auslöst, kann Inga sich gut vorstellen. Nur etwa 5% der Bevölkerung Litauens sind russischsprachig. In der Debatte über die sowjetischen Denkmäler, berichtet Inga, hört man keine Stimmen aus dieser Community. Über deren Positionierung zum Krieg sagt sie: „The majority of them are pro-Ukrainian, just like the majority of the ethnic Lithuanians.” Auch von der ukrainischen Gesellschaft unterscheidet sich Litauen ihrer Meinung nach deutlich: „I can understand that Ukrainians need to do that de-Sovietization in a very radical way because they were colonized so much more than we were because they lived longer under the Soviets. But in our case, I think we are so fit, we are so nationally conscious, so anti-Soviet, anti-Putin’s Russia that we can still afford keeping those things and teach our children how to look at them and what it all represents.”
Inga erzählte mir, dass sie diese Position nicht von Anfang an vertrat. Direkt nach der Unabhängigkeit teilte sie den großen Enthusiasmus in Litauen, alles Sowjetische möglichst schnell loszuwerden, in dem Glauben, dass es nichts mehr mit der neuen litauischen Identität zu tun haben werde. Von diesem Gefühl gepackt, zerriss sie mit 12 Jahren den Teil ihrer Briefmarkensammlung, der sowjetische Symbole und Personen wie Lenin abbildete. „I think it really manifests very well how we all felt at that time, big and small: Well, we are done with that. Weg damit!”, erinnert sie sich. Heute tut es ihr um ihre Briefmarkensammlung leid. Rückblickend beschreibt sie, wie sich ihre Perspektive verändert hat: „It took a while; it took maybe two decades. I think the same happened to many other people in this country. We had to have a distance. When we look from a distance everything starts falling into place, everything is maybe less emotional and you start to come to terms or even appreciate the things that happened. Well, of course not in a sense of ‘Oh, so nice that we were occupied, it was really cool!’ But it’s a part of our story. It’s a part of our history. And we can’t escape it, we can’t run away anywhere from it. That’s what we were doing all those decades, we were just turning our backs to the East and while rushing to the West, we were trying to get rid of the Soviet mentality, of the pieces of furniture we had in our flats, renovate everything whenever we could do that financially, etc. And then as the time passed, we stopped and we looked back and then it all looked a bit different. Maybe more cooled and even as a feature that makes us distinct with our past. You know, we are not like Germans, we are not like French, we are not like British. We have this Soviet layer in us and when we get more conscious about it, it’s maybe healthier for us. It’s a healthier way to deal with the past than just run away from it and erase everything.”
Beim Überqueren der Grünen Brücke blickt man heute auf leere Sockel, auf denen bis 2015 die vier Statuen standen. Tatsächlich entsteht so der Eindruck, dass hier etwas fehlt, das in aller Eile entfernt werden musste. Wodurch die sowjetischen Skulpturen zukünftig ersetzt werden sollen, ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar. Klar erscheint allerdings, dass weitere Diskussionen über was und wie in Litauen erinnert werden soll, bevorstehen.