Von Deutschland aus erscheinen die Grenzen der Europäischen Union manchmal sehr weit entfernt, obwohl sie das eigentlich nicht sind. Vilnius, wo ich gerade mein Auslandssemester verbringe, liegt nordwestlich einer solchen Grenze. Von hier aus sind es nur knapp 40 km bis ins benachbarte Belarus. Nach der geplanten Krisenverodnung im Rahmen der Reform des EU-Asylrechts sollen geflüchtete Menschen an den EU-Außengrenzen bis zu 20 Wochen festgehalten werden dürfen – in haftähnlichen Bedingungen. Um zu verstehen, was dies in der Realität bedeutet, genügt ein Blick auf diese östliche Grenze der Europäischen Union.

Im Frühjahr 2021 kam es in Litauen – wie auch in Polen und Lettland – zu einem ungewohnt hohen Aufkommen geflüchteter Menschen aus dem Globalen Süden an den belarusischen Grenzen. Innerhalb weniger Monate wollten mehr als 4000 Personen im EU-Land Schutz suchen, das normalerweise einige hundert Asylanträge pro Jahr bearbeitet. Es vermehrten sich Hinweise auf eine Beteiligung des Lukaschenka-Regimes. Dieses antwortete hierdurch vermutlich auf EU-Sanktionen wegen der brutalen Niederschlagung der Proteste 2020 und nutzte die Zerstrittenheit der Europäischen Union im Punkt Migration für seine Zwecke. Die litauische Regierung sprach deshalb von hybrider Kriegsführung und reagierte mit extremer Härte. Nach Verhängung des Ausnahmezustands, wurden Asylsuchende ab Anfang August an der Grenze nach Belarus zurückgedrängt. Geflüchtete Menschen wurden innerhalb Litauens bis zu einem Jahr in menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten.

 

„You never know the reasons that pushed a person to leave his country and live here“ – im Gespräch mit Cihat

 

Ich habe mit Cihat (38) gesprochen, der als Mitarbeiter des Roten Kreuzes in den Camps übersetzte. Das Interview fand im Rahmen eines Uniprojekts statt. Gemeinsam mit drei litauischen Studierenden wollten wir herausfinden, welche Auswirkungen Menschen aus dem Globalen Süden, die seit längerem in Litauen leben, nach den Ereignissen von 2021 in der Gesellschaft erlebten. Cihat stammt aus dem türkischen Kurdistan. Er lebte für 10 Jahre in Irakisch-Kurdistan, bevor er 2014 für ein Masterstudium in Internationale Beziehungen nach Kaunas, der zweitgrößten Stadt in Litauen, kam. Vor kurzem promovierte er dort in Politikwissenschaft über die kurdische Frage im Nahen Osten.

2021 begann er zudem als interkultureller Mediator beim Roten Kreuz in Vilnius zu arbeiten. Seine Aufgaben bestehen unter anderem darin, zu übersetzen, aber auch in der Organisation kultureller Veranstaltungen. Im Team fühlt er sich überaus wohl, Kolleg*innen seien zu Freund*innen geworden. Er habe aber auch rassistische Erfahrungen in Litauen gemacht – auch auf institutioneller Ebene. So habe er erlebt, wie im Migrationsamt Ausländer*innen je nach Herkunft unterschiedliche Behandlung erfuhren. Cihat erklärt mir: “You’re also a foreigner, but because you’re Western, because you’re from Europe, you would be considered much different, in a more positive way than me because I’m from Middle East. There is an element of racism here. It is sad to see actually, this element of racism is still there. I personally experienced that in governmental institutions.”

Cihat Yilmaz übersetzte für Geflüchtete in den Aufnahmelagern

In seiner Funktion als Übersetzer – Cihat spricht unter anderem Kurdisch, Türkisch, Arabisch und Fārsi – arbeitete er in den Camps an den Grenzen zu Belarus 2021. Die Bedingungen dort seien furchtbar gewesen: Die geflüchteten Menschen hätten wild durcheinander gewürfelt zum Teil mit Fremden in Zelten schlafen müssen. Einmal am Tag hätten sie Essen, genauer gesagt Snacks, bekommen. Darauf angesprochen, wurde Cihat in der Verwaltung geantwortet, man folge nur den Anweisungen. Den Geflüchteten wurden ihre Handys weggenommen, sodass viele aufgrund der Sorge um Familienangehörige schier durchgedreht wären. Er war entsetzt: “They were living in a horrible situation. I couldn’t believe that, how could Lithuania do that? Why is Lithuania doing that? Why are you blaming these people? This is a collective punishment. You never know the reasons that pushed a person to leave his country and live here.”

Cihat erklärt, dass die Hälfte der Geflüchteten, etwa 2000 Menschen, aus dem Irak stammten. Mehrheitlich handelte es sich hierbei um Jesid*innen, die zum Teil direkte Opfer von Gewalt durch die ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien) geworden waren. Weitere Personen waren den Kriegen im Sudan, Syrien oder Jemen entflohen. Auch unbegleitete Minderjährige waren unter den Geflüchteten. Wie diese Menschen als Waffe wahrgenommen werden konnten, kann Cihat daher nicht nachvollziehen: ”So, how come these people are considered as a tool of hybrid war? First of all, it’s an individual, it’s a human being. So that’s where this government failed. Because the government first of all defined it as a crisis, but it did not define it as humanitarian crisis, it defined it as a refugee crisis or emergency situation or this kind of crisis. And then the means they used to prevent this crisis or to at least put it in a small scale would be either military or police force, not humanitarian force. So that’s what they did. I always thought that Lithuania could have done much better. But unfortunately, for me Lithuania failed to manage this crisis.”

 

Menschen als Waffen‘ oder wie Litauen der Menschlichkeit den Krieg erklärte

 

Litauische Politiker*innen verwendeten Kriegsrhetorik. So erklärte man 2021, das Land befinde sich im bewaffneten Kampf, der Übertritt der Geflüchteten über die Grenze sei als eine Aggression zu werten. Die Menschen würden wie ‚Bomben‘ über die Grenzen der EU geworfen werden. Panik über angebliche Gefahren durch die Geflüchteten wurden medial bewusst geschürt. Mithilfe von Othering und der Reproduktion von Vorurteilen zeichnete man das Bild der Geflüchteten, welche angeblich kriminell und aggressiv seien – und daher für Litauen ein Sicherheitsrisiko darstellen würden. Cihat erinnert sich: “Some people felt threatened because of the presence of those migrants and some citizens in the towns and the villages protested against setting up the camps of the people because even they were saying that they are dangerous people, they are thieves, they are rapists, they are… very unpleasant words.” In den litauischen Medien gab es kaum Stimmen Geflüchteter zu hören. Statt die Menschen und ihre Einzelschicksale zu beleuchten, wurden Geflüchtete als eine Gesamtbedrohung dargestellt.

Auch mir begegneten solche Aussagen. Als ich im Gespräch mit einer litauischen Kommilitonin meine Kritik über das grundlose Festhalten der Geflüchteten in quasi-Gefängnissen äußerte, erklärte diese: „But that was something different, it was a hybrid attack on Lithuania.“ – So als ob damit alles zu diesem Thema gesagt sei. In einer Online-Umfrage des Rundfunksenders LRT im August 2021 sprachen sich nur 3% der befragten Litauer*innen für die Aufnahme und Integration der Geflüchteten als sinnvollste Reaktion auf die Ereignisse aus – gegenüber 33%, die einen Zaun an der Grenze zu Belarus als Lösung sahen.

Cihat meint: “I never look at that one as a hybrid war, or the problem between the Belarusian authorities and the Lithuanian authorities or the European authorities, or whatever. First of everything I look at it as a humanitarian crisis because I have witnessed tragedies in those camps. I did not care for what reason the person came here. But the problem is that the person is here and he does not have the access to his or her basic rights. There was also a very interesting statement by a politician who said that Lukashenko is arming those people and using them as a weapon against Europe. And at that time, I saw a pregnant woman. So, how come that an unborn child can be a threat to you?”

Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen übten Kritik am Umgang mit den Geflüchteten. In einer gemeinsamen Erklärung wandten sich 20 litauische Organisationen an die Regierung. Zu ihnen zählte die NGO Diversity Development Group, deren Forschungsleiterin Giedrė Blažytė eine selektive Asylpolitik scharf kritisierte: “Last year a humanitarian corridor was created for Belarusians fleeing persecution, but now this country is considered safe for migrants and migrants who are at the border are pushed back into its territory”.

 

 Zäune an der Grenze und in den Köpfen – Was ist seit 2021 geschehen?

 

Die Ereignisse von 2021 hätten laut Cihat insgesamt einen großen Einschnitt in die Wahrnehmung von Migrant*innen aus dem Globalen Süden in Litauen bedeutet: “These refugee issues that started 2021 are still an ongoing problem. This somehow created a narrative in the minds of the people about the foreigners.“ Er selbst bekam Veränderungen in der Gesellschaft bereits während der Geschehnisse 2021 zu spüren. So berichtet er: “At the beginning of the crisis, I was commuting in Kaunas and Vilnius, so of course I couldn’t always wear Red Cross t-shirts or something like that. I was approached by some people: ‘Okay, you’re also a refugee, came now?’ I had to tell them: ‘No, I’m not’. But it had this bad feeling, as if okay, they are bad guys and I’m the good guy.”

Im August letzten Jahres beendete Litauen den Bau eines über 500 km langen und vier Meter hohen Stacheldrahtzauns an der Grenze zu Belarus. Das Grenzgebiet ist seit 2021 nur mit Sondergenehmigung zu betreten, offiziell besteht hier weiterhin Ausnahmezustand. Im Mai dieses Jahres verabschiedete der Seimas, das litauische Parlament, ein Gesetz, das Push-backs im Falle so genannter irregulärer Migration legalisiert. Bereits im Juni 2022 hatte der Europäische Gerichtshof vorherige Gesetzesänderungen in Litauen als völkerrechtswidrig verurteilt, durch welche den Schutzsuchenden ein grundsätzlicher Anspruch auf ein Asylverfahren verwehrt bleibt. Die rechtspolitische Sprecherin der NGO Pro Asyl Wiebke Judith zeigte sich bestürzt: „Wie bereits in Polen und Ungarn soll auch hier eine Praxis zum Gesetz werden, die erst kürzlich vom Europarat als Folter eingestuft wurde. Die Talfahrt des Flüchtlingsschutzes in der EU hält an.“

Von den ca. 4000 Geflüchteten, sind nicht einmal 200 in Litauen verblieben. Viele hätten, nachdem sie die Camps endlich verlassen durften, ihren Weg in andere EU-Länder fortgesetzt. Diejenigen, die geblieben sind, so berichtet Cihat, versuchen, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Im Rahmen seiner Arbeit beim Roten Kreuz hat er auch mit Geflüchteten zu tun, deren Asylantrag abgelehnt wurde, die aber nicht abgeschoben werden können. Diese Menschen könnten weder vor noch zurück und seien quasi rechtlos. Sie besäßen weder eine Versicherung noch könnten sie ein Konto eröffnen. Eine gerade erschienene Untersuchung der NGO Human Rights Monitoring Institute beschreibt die Erfahrungen der Geflüchteten – zunächst im Grenzgebiet und später in den Aufnahmezentren – als traumatisierend, viele Betroffene würden bis heute an psychischen Folgeerscheinungen leiden. Nach der Klage eines Irakers, der ein halbes Jahr in einem Aufnahmelager festgehalten wurde, erklärte das litauische Verfassungsgericht das unbegründete grundsätzliche Festhalten aller Geflüchteten zudem als verfassungswidrig.

Das Narrativ, das man geschaffen habe, meint Cihat, sei schwer zu durchbrechen. So würden große Teil der litauischen Bevölkerung bis heute negativ auf die damals nach Litauen geflüchteten Menschen blicken. Aktuell sei das Thema in den Medien nicht präsent. Geflüchtete aus dem Globalen Süden seien zudem kaum sichtbar und die Aufmerksamkeit auf den russischen Krieg gegen die Ukraine gerichtet. Cihat ist aber überzeugt, dass es nur einen weiteren Anlass benötigt, um die Stimmung erneut gegen die so betitelten ‚Illegalen Migrant*innen‘ aufzubringen.

Ich habe ihn gefragt, ob all dies auch seine Sichtweise auf sein eigenes Leben in Litauen verändert habe, worauf er antwortete: „Yes, absolutely. I will be frank. After what I have experienced – not my personal experiences, but what I experienced in terms of these migrants and how they were treated and how people view them, I have decided, I cannot live in this country. No, not at all. Unfortunately, but no. Because it could have been me. One of them could have been me. I saw the people; I saw the pregnant woman was detained for more than a year. Babies were born in those cages, in those closed camps. I saw people who lost their minds, I saw people who started to have psychological issues, serious psychological issues. For no reason they were kept there. And one of them could have been me.”