In meinem Auslandssemester in Vilnius lerne ich Jozef (20) kennen, der normalerweise Jura in Košice, der zweitgrößten Stadt der Slowakei, studiert. Ganz angestrengt versuche ich bei unserem ersten Gespräch, die Slowakei nicht mit Slowenien durcheinander zu bringen. „It happens all the time“, beruhigt mich Jozef. Mein mangelndes Wissen ist mir trotzdem unangenehm und mein Interesse, mehr über dieses Land zu erfahren, ist geweckt. Und da war doch was? Ja richtig, die Slowakei hat vor wenigen Wochen ein neues Parlament, den Národná rada (dt.: Nationalrat), gewählt.

Um an den Wahlen teilnehmen zu können, ist Jozef extra von Vilnius nach Košice gereist, da er die Deadline für die Briefwahl verpasst hatte. Die Wahl sei ihm wichtig gewesen, da es zuletzt ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der von ihm favorisierten linksliberalen Partei Progressive Slowakei (PS) und Smer (kurz für: Smer – slovenská sociálna demokracia; dt.: Richtung – Slowakische Sozialdemokratie), einer linken national-populistischen Partei, gegeben hatte. Entgegen den ersten Prognosen, die PS vorne sahen, ging Smer unter der Führung Robert Ficos als Wahlsieger hervor. Dieser gab vor wenigen Tagen eine Koalition mit der drittplatzierten Linkspartei HLAS sowie der rechten Slowakischen Nationalpartei SNS bekannt.

Insgesamt gibt es in der Slowakei laut Jozef einen starken Hang zur Personalisierung, so stünden vor allem die Parteivorsitzenden im Vordergrund. Parteichef Robert Fico ist kein neues Gesicht in der slowakischen Politik. Der 59-jährige war bereits von 2006 bis 2010 und erneut von 2012 bis 2018 Ministerpräsident. 2018 kam es nach der Ermordung Ján Kuciaks und seiner Verlobten zu den größten Massenprotesten seit der Samtenen Revolution 1989, die Fico zum Rücktritt zwangen. Der junge Journalist Kuciak hatte unter anderem Recherchen zu Verbindungen der italienischen Mafia zur Regierungspartei angestellt.

Jozef beschreibt, dass sich die meisten jüngeren Menschen aus seinem Umfeld an der Universität über die Rückkehr von Smer große Sorgen machen. Aufgewachsen mit von Smer angeführten Koalitionen und im Hinblick auf Skandale wie die Ermordung des Journalisten Ján Kuciak vor einigen Jahren, wollten sie Fico nicht zurück an der Macht sehen. Obwohl gerade die jüngere Bevölkerung der Slowakei gegenüber der Politik pessimistisch eingestellt sei, hätten einige seiner Bekannten in eine mögliche durch PS geführte Koalition große Hoffnungen gesetzt. Er selbst sei pessimistischer gewesen, denkbare Koalitionen erschienen ihm vor den Wahlen weder stabil noch stark. Zumindest habe er aber darauf gehofft, dass es Smer nicht gelingen würde, erneut eine Regierung zu bilden.

Worum aber geht es inhaltlich? Im Wahlkampf bediente sich Fico pro-russischer Narrative und kündigte an, die bisherige militärische Unterstützung der Ukraine zu beenden und Sanktionen der EU gegen Russland prüfen zu wollen. Dies und Äußerungen, auch im Punkt Migration eine härtere Linie fahren zu wollen, nähren Sorgen in Brüssel, auch vor einem Schulterschluss mit dem ungarischen Ministerpräsident Viktor Orbán.

Allerdings, betont Jozef, hat die Slowakei den größten Anteil ihrer entbehrlichen Waffen bereits der Ukraine zur Verfügung gestellt. Es sei also eine eher leere Drohung, die er genauso wie die betont skeptische Haltung gegenüber der EU als Wahlkampfstrategie einordnet. Dennoch kann er sich vorstellen, dass Fico einen „Orbán-ähnlichen Move“ vornehmen und so die EU vor große Probleme stellen könnte.

Der Krieg gegen die Ukraine ist in der Slowakei ein aufgeladenes Thema. Gemeinsam mit Jozef entdeckten wir im „Okupacijų ir laisvės kovų muziejus“ (dt.: Museum der Okkupationen und der Freiheitskämpfe) in Vilnius eine Putin-Pappfigur hinter Gittern. Er berichtete, dass eine solche Aktion in einem staatlich finanzierten Museum in der Slowakei als kontrovers erachtet werden würde. Die slowakische Gesellschaft ist bezüglich des Krieges gegen die Ukraine gespalten. Mehr als die Hälfte der Gesellschaft positioniert sich pro-russisch beziehungsweise anti-ukrainisch. Jozef sieht die Ursache hierfür auch im Narrativ, dass in Wirklichkeit die USA hinter dem Krieg stecke, dem viele Menschen Glauben schenken würden.

In einer Studie des Politinstitut GLOBSEC aus dem Frühjahr 2023, welche das Stimmungsbild zur Schuldfrage im Krieg zwischen Russland und der Ukraine in mehreren mittel- und osteuropäischen Staaten untersuchte, sahen nur 40% der befragten Slowak*innen die Verantwortung bei Russland. Im Zusammenhang mit den Wahlen berichteten GLOBSEC und die EU-Kommission von massiven Desinformationskampagnen von Seiten ultrarechter, aber auch Kreml-unterstützender Akteur*innen. Am häufigsten hätten sich diese gegen die Partei PS gewendet.

Jozef zufolge sind prorussische Einstellungen einerseits historisch bedingt. Vor allem ältere Menschen würden mit Nostalgie auf die kommunistischen Zeiten zurückblicken, in denen enge Bindungen zu Russland bestanden. So habe beispielsweise weniger Arbeitslosigkeit geherrscht. Die Gesellschaft sei weniger gespalten gewesen, sicherlich auch deshalb, weil abweichende Meinungen nicht zum Ausdruck gebracht werden konnten. Für viele sei der Übergang zur Demokratie und zum Kapitalismus erfolglos geblieben. Auf der anderen Seite glaubt er, dass es auch Menschen in der Slowakei gibt, die sich Russland auf gesellschaftlicher Ebene verbunden fühlen, was die Ablehnung von LGBTQ-Personen und eine allgemein weniger liberale Haltung angeht. Gemäß dieser Vorstellung möchte man sich gegen „den“ Westen und vor allem gegen die USA wenden, welche die Moral der jungen Menschen angeblich korrumpieren.

Hierbei bestehen deutliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den Generationen. So antwortet Jozef auf meine Frage, mit wem er über politische Themen diskutiert: “I feel that with friends it’s okay to speak about politics, but you know, – and I think it’s like this everywhere – you don’t speak about politics with your parents cause it’s gonna create tensions and conflicts. Also because there is this a generational divide. I can speak about politics with my friends, I can speak about it with some family members who are generally in the same area politically, but I won’t discuss politics with my grandpa cause I know he’s a hardline Smer voter. He has voted for Fico for the last I don’t know 15 years. And it’s just gonna create a screaming match if I were to start that conversation.”

Ficos Comeback erscheint mir unvorstellbar, betrachtet man die Umstände, unter denen er zurücktreten musste: Seine Person wurde in direkte Verbindung mit einem korrupten Netzwerk innerhalb der – vermutlich aller – Institutionen der Slowakei gebracht. Während des “Inconvenient Film Festival” in Vilnius hatte ich die Gelegenheit, den Dokumentarfilm “The Killing of a Journalist“ aus dem Jahr 2022 zu sehen, der tiefe Einblicke in die Ermittlungen nach der Ermordung Kuciaks und seiner Verlobten erlaubt und weitere Investigativjournalist*innen aus dessen Umfeld zu Wort kommen lässt. Die Enthüllungen, die Kuciak selbst nicht mehr veröffentlichen konnte, die aber nach dessen Tod große Aufmerksamkeit erlangten, führten letztendlich zu zahlreichen Rücktritten. Neben Robert Fico betraf dies auch höchste Vertreter*innen der Justiz und Polizei. Im Film beschreiben Zeitzeug*innen, wie man beinahe den Überblick verlieren konnte, wer wegen welcher Verstrickungen seinen Posten aufgeben musste. Der maßgebliche Drahtzieher der Ermordung Kuciaks, Marián Kočner, wurde bis heute für den Mord nicht verurteilt – aber das ist eine andere Geschichte.

Wie also konnte Fico nach all diesen Ereignissen das Vertrauen der Menschen in der Slowakei wiedergewinnen? Jozef glaubt, dass für Smers Wahlerfolg weniger das Vertrauen in Fico als die Enttäuschung über die Alternative zu ihm entscheidend gewesen sein könnte. Die Opposition, die die Nationalratswahlen 2020 für sich gewinnen konnten, bestand aus einer Koalition aus vier Parteien. Angeführt wurde diese durch das konservative Protestbündnis OL‘aNO (Obyčajní ľudia a nezávislé osobnosti; dt.: Gewöhnliche Leute und unabhängige Personen), welches an sich schon eine heterogene Gruppierung darstellte, die zunächst vor allem das gesteckte Ziel vereinte, Smer und Fico zu entmachten. Ihr Anführer, Igor Matovič, der folgend zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, genoss als langjährige und lautstarke Figur in der Opposition große Popularität.

Zunächst konnte Matovič deshalb viele Menschen mobilisieren. Jozef meint: “People viewed the murder of the journalist as ‘This is too much’. Young people got out in droves to vote. Matovič was a famous figure, he is a very outspoken guy. He is kind of theatrical: He would show up to parliament wearing a t-shirt that says, ‘Fico protects thiefs’ and stuff like that – I owned a t-shirt like that once. Because he is this theatrical personality he drew in a lot of people. But then Matovič couldn’t just complain anymore, he actually had to govern.”

Nach mehreren Skandalen um seine Person, unter anderem wegen des Vorwurfs des Plagiats bei seiner Diplomarbeit sowie Kritik an seiner Coronapolitik, sah er sich bereits im Frühjahr 2021 gezwungen, von seinem Posten zurückzutreten. Weitere interne Verwerfungen innerhalb der Regierungsparteien, bei denen Matovič auch weiterhin eine maßgebliche Rolle spielte, führten letztendlich zum Zerbrechen der Koalition und vorgezogenen Neuwahlen (die seit einer Verfassungsänderung im Januar 2023 möglich sind).

Die Frustration über die letzte Regierung mag Smer in die Hände gespielt haben. Im Film “The Killing of a Journalist“ schilderte eine befragte Journalistin, dass es nun wieder möglich geworden sei, etwas zu sagen, was nach 2018 unaussprechbar schien: Dass die alte Regierung unter Fico zwar korrupt gewesen sei, aber wenigstens Ordnung geherrscht habe.

Jozef berichtet zudem wie Smer die Ängste konservativer Bevölkerungsteile gegenüber der Partei Progressive Slowakei geschürt habe. Er erklärt: “PS as foreshadowed by their name are progressive. It’s the first time that there was a party majorly pushing for legislation around LGBT-issues. That’s a big part of what I care about in politics as well. Now there was a real chance that something could actually be done, maybe some small concessions. I don’t think even registered partnerships were realistically going to happen after this election cycle. It was never a real possibility, but politicians definitely fearmonger about it – ‘oh these Western people from Brussels with American influence are trying to turn your kids gay’. It became a talking point. Slovakia is very socially conservative in this way. So, it’s an upset that the second biggest party in this election is pro-LGBT.”

Diese Strategie sei zum Teil aufgegangen, so erinnert sich Jozef: “I remember talking with my dad about politics on the day of the election. I was asking him who he was gonna vote for. And he was like: ‘Oh definitely not PS because they wanna bring it into school that there are a hundred different genders’. I read that part of their program on the day of the election just to refresh myself… I fact-checked it after he said it as well, and no, it doesn’t say anything about that. PS among older and middle-aged people has this reputation: ‘Oh, they are these bunch of crazy westernized gay people’.”

Was wird sich nun in der Slowakei verändern? Jozef glaubt, dass das Ergebnis der Wahlen vielen junge Slowak*innen, die wie er selbst zum ersten Mal wählen konnten, desillusionieren könnte. So bliebe das Gefühl, dass man letztendlich doch nichts ändern kann, dass Smer „für immer“ an der Macht bleiben wird. Der Optimismus, den man zunächst verspürt hatte, nachdem es zu einer Regierung ohne Smer gekommen war, sei verflogen. Insgesamt stellt er sich vor, dass die Menschen in Bezug auf Politik apathischer werden.

Er selbst wünscht sich Veränderung, wünscht sich eine stärkere Integration der Slowakei in die Politik von EU und NATO. Pessimistisch blickt er auf die neue Regierung in Bratislava: “So, I feel like it’s more of the same: It’s hard to quantify how it affects me because the country remains going into the direction it was pretty much going for 16 or 20 years. It does affect everybody, just in a way that nothing will change instead of some much-needed changes.”