Der Tod der 22-jährigen „Mahsa“ Amini am 16. September dieses Jahres war Auslöser der am längsten anhaltenden Protestwelle im Iran seit der Islamischen Revolution 1979. Vor mehr als 40 Jahren hatte hier der schiitische Geistliche Chomeini die Islamische Republik ausgerufen. Als Folge dessen wurden im Verlauf insbesondere Frauenrechte massiv eingeschränkt, Oppositionelle verfolgt und Proteste, zuletzt 2019, mit Gewalt niedergeschlagen.

Aminis Vorname lautete eigentlich Jina, ein kurdischer Name, der aus diesem Grund auf ihrem iranischen Pass so nicht stehen durfte. Bei einem Besuch in Teheran wurde sie durch die Gasht-e Ershad, die sogenannte Sittenpolizei, wegen ihres angeblich nicht ordnungsgemäß sitzenden Kopftuches verhaftet. Wenige Tage später verlor sie unter ungeklärten Umständen in Haft das Bewusstsein und verstarb in einer Klinik. Während die staatliche Seite von einer chronischen Erkrankung der jungen Frau spricht, dementiert Aminis Familie dies und glaubt, dass sie an Misshandlungen verstorben ist. CT-Aufnahmen sollen äußere Kopfverletzungen und eine Hirnblutung als Todesursache zeigen.

In den sozialen Medien verbreitete sich wenig später ein Video, welches Frauen bei der Beerdigung Aminis zeigte, die demonstrativ ihr Kopftuch abnahmen – ein Affront gegen die strengen Regeln der Islamischen Republik und der Beginn einer sich im ganzen Land ausbreitenden Protestbewegung. Überall im Land ziehen seitdem Frauen in der Öffentlichkeit ihr Kopftuch ab, verbrennen es und fordern eine Absetzung des Regimes. Der Slogan „Jin, Jiyan, Azadi“ (kurdisch für Frau, Freiheit, Leben) begleitet die täglich stattfindenden Demonstrationen.

Aber es sind längst nicht nur Frauen auf den Straßen. Menschen quer durch die Gesellschaft äußern ihren Unmut und fordern den Sturz des Regimes. Anders als in den vorherigen Protestbewegungen (1999, 2009, 2019) beteiligen sich auch ethnische Minderheiten wie Kurd*innen, Türk*innen und Belutsch*innen. Der Protest äußert sich in Form von Streiks bis hin zu Aktionen von Grundschulklassen. Das Regime reagiert hierauf mit äußerster Härte. Die Anzahl der bisherigen Todesopfer und Festnahmen ist unklar, immer wieder kommt es zu Abschaltungen und Drosselungen des Internets.

Die Menschen wollen dieses System nicht mehr, denn das Fass sei übergelaufen, erklärt mir meine Freundin Azadeh*. Ihre Mutter stammt aus dem Iran, gemeinsam mit ihrem Bruder floh sie Anfang der 80er Jahre über die Türkei und Italien in die USA, als dieser in den ersten Golfkrieg gegen den Irak eingezogen werden sollte. Azadeh selbst wuchs mit ihren beiden Geschwistern in den USA und in Deutschland auf, hat den Iran oft besucht und schildert mir ihre Perspektive auf die Iranische Revolution, wie sie ihrer Meinung nach betitelt werden sollte.

*Ich habe den Namen meiner Freundin auf ihren Wunsch hin geändert – Azadeh ist ein geläufiger Name im Iran und bedeutet übersetzt „Freidenker(in)“.

Azadehs Mutter, die die iranische Staatsbürgerschaft besitzt, war wenige Wochen nach Jina Aminis Tod im Iran. Sie berichtet von Protestierenden, die „Tod dem Diktator“ von den Balkonen in Teheran rufen, von Frauen, die in der iranischen Hauptstadt ohne Kopftuch durch die Straßen laufen. Azadeh ist überzeugt davon, dass es keinen Schritt zurückgeben kann. Es sind nicht nur Menschenrechtsverletzungen, die die Menschen gegen das Regime aufgebracht haben. Massive Inflation und Korruption prägen das Land. Viele Mullahs und Regierungsmitglieder entsenden ihre eigenen Kinder in den Westen, um dort eine freiheitliche Bildung zu genießen, während im Iran Frauen massive Repressionen erfahren. „Dieses Regime lebt aus nichts als Lügen“, meint sie.

Weltweit solidarisieren sich Menschen mit den Protesten im Iran, hier bei einer Demonstration in Stockholm.

Azadehs Großmutter erlebte den Übergang zur Islamischen Republik ab 1979 und bekam die Einschränkungen für Frauen, die durch die Wiedereinführung der Scharia manifestiert wurden, deutlich zu spüren: Sie wurde vom Taxi nicht mehr mitgenommen, wenn sie kein Kopftuch trug oder die alten Straßennamen verwendete. Die Sittenpolizei zog sie in einen Wagen und wischte ihr die Schminke aus dem Gesicht. Eines Tages teilte man ihr auf der Arbeit mit, dass sie dort nicht mehr unverschleiert tätig sein könne.

Mit 14 hatte sie Azadehs Großvater geheiratet, der homosexuell war und neben seiner Scheinehe eine Beziehung zu einem Mann führte. Queer sein ist im Iran brandgefährlich und kann bis zu einem Todesurteil führen. „Man redet deshalb in der Familie normalerweise hierüber gar nicht und teilt dies höchstens mit ausgewählten guten Freunden – wobei man sich genau überlegen muss mit wem.“, berichtet meine Freundin.

Ihre Oma ließ sich später scheiden. Da sie hierdurch wieder in die Obhut ihres Vaters gefallen wäre – eine Ausreise beispielsweise ist nur mit Erlaubnis des Ehemannes bzw. Vaters möglich – heiratete sie erneut, diesmal einen bereits verheirateten Mann als dessen Zweitfrau. Die Liste an weiteren Ungleichheiten erscheint endlos: Das Erbrecht schreibt einer Tochter nur halb so viel zu wie einem Sohn, vor Gericht zählt die Zeugenaussage einer Frau halb so viel wie die eines Mannes, bestimmte Berufe dürfen nicht ausgeübt werden. All dies steht im krassen Gegensatz zur Realität, in der Iranerinnen beispielweise deutlich häufiger als Männer hohe Bildungsabschlüsse erzielen – an den Universitäten wurde daher eine Männerquote eingeführt. „Frauen sind im Iran halb so viel wert wie Männer – wenn überhaupt.“, beschreibt Azadeh. Da nur Väter die iranische Staatsbürgerschaft an ihre Kinder weitergeben können, besitzt sie selbst keine. Auf Rückfrage bei einem Amt in Teheran erklärte ihr der Beamte, wie sie dennoch einen Pass erhalten könne: Er habe zwei Söhne, von denen sie einen heiraten könnte.

Sie selbst war als Kind jährlich im Iran, was sie in sehr guter Erinnerung hat. Für sie bedeutete Teheran ein großes Abenteuer und an die Gegebenheiten konnte sie sich anpassen in dem Bewusstsein, dass ihr dortiger Aufenthalt zeitlich begrenzt war. Mit 10 Jahren mussten auch sie und ihre Schwester sich dort verschleiern, wurden von Fremden auf der Straße für ihre Kleidung kritisiert. Zuletzt verbrachte sie 2017 einen Monat in Teheran für ein Praktikum in einem öffentlichen Krankenhaus. Hier spürte sie einen deutlichen Unterschied zum liberaleren Norden der Stadt, einem reicheren Stadtteil, in welchem Frauen zum Teil auch ohne Kopftuch (bei fehlender Polizeipräsenz) und mit Leggins unter dem vorgeschriebenen Mantel unterwegs sind. Bei ihrem ersten Tag in der Klinik wurde sie aufgefordert ihre Leggins mit ihrer Tasche zu verstecken. Sie musste ein Maghnaeh tragen, eine deutliche strengere Kopfbedeckung als im Allgemeinen von den Frauen in Teheran getragen.

Das Thema Kopftuch traute sie sich bis vor Beginn der Protestbewegung nicht als solches zu kritisieren, da sie nicht islamophob auftreten wollte. Seit September aber hat sie ihre Meinung hierzu deutlich geändert. Vor allem Interviews und Reden der iranischen Menschenrechtlerin Masih Alinejad, welche in New York im Exil lebt, haben dazu beigetragen. „Jetzt verstehe ich, dass die Kritik am Kopftuch nicht ausdrückt, dass dieses an sich schlecht ist, sondern dass es um die Entscheidungsgewalt geht, ob ich ein Kopftuch trage oder nicht.“, sagt sie.

Alinejad gehört zu den wichtigsten Exil-Oppositionellen und meist verteufelten Figuren durch das Regime in Teheran. Mehrmalig wurden Versuche unternommen, sie in den Iran zu entführen. Zuletzt wurde ein Anschlagversuch wenige Wochen nach dem Attentat auf Salman Rushdie auf sie vereitelt, sie lebt unter FBI-Schutz. Dennoch setzt sie sich weiterhin gegen das Regime, gegen den Zwang zum Hijab und für Frauenrechte im Iran ein, wobei sie auch nicht vor polarisierenden Aussagen zurückschreckt. Zuletzt verglich sie das Kopftuch mit der Berliner Mauer. Als feste Instanz des Mullah-Regimes müsse es fallen, um die Islamische Republik zu Fall zu bringen. Auf Instagram folgen ihr 8 Millionen Menschen, hier postet sie unter anderem seit Jahren Videos iranischer Frauen, die sich ohne Kopftuch zeigen.

Neue Medien spielen für die Protestbewegung eine entscheidende Rolle: Neben Videos sind es zunehmend Sprachnachrichten, die Menschen aus dem Iran ins Ausland senden. Viele der Protestierenden nehmen ihre Handys zu den Demonstrationen nicht mehr mit, da bestimmte Inhalte bei einer Festnahme gegen sie verwendet werden können. Pro-oppositionelle Hackergruppen reagierten auf die wiederkehrenden Unterbrechungen des Internets, in dem sie zeitweise das Fernsehen, über das staatliche Sender ihre Propaganda verbreiten, lahmlegten. Teheran versucht seit längerem, ein vom Rest der Welt unabhängiges Internet zu erschaffen. Hierin soll nach Recherchen von Correctiv, netzpolitik.org und der taz ein Unternehmen bei Düsseldorf involviert sein, dem nun vorgeworfen wird, dazu beigetragen zu haben, das Internet im Iran einzuschränken.

Neben diesem Verdacht sind es vor allem das Versäumnis einer frühen und klaren Stellungnahme der deutschen Regierung sowie die als unzureichend empfundenen Sanktionen, die Berlin vorgeworfen werden. Dass man weiter auf ein Atomabkommen baut, hält Azadeh für einen schweren Fehler: „Es ist ein Abkommen mit einer Regierung, die sehr wahrscheinlich jetzt fallen wird, aber dieses Abkommen gibt ihnen eine Legitimation zu existieren. Das wäre höllischer Wahnsinn und Betrug gegenüber allen Iraner*innen, die gerade auf die Straße gehen und sterben.“

Positiv sieht sie die zunehmende Aufmerksamkeit aus dem Ausland. So hat sie sich zunächst schwergetan, Informationen zu den Protesten zu finden. Nun aber werden die Artikel länger und der Druck auf die Regierungen größer, sich klar zu positionieren. Gerade Deutschland als größter Handelspartner des Irans innerhalb der EU, kommt ihrer Meinung nach hierbei eine Schlüsselposition zu. Baerbock, die eine feministische Außenpolitik angekündigt hat, muss diese nun umsetzen. Handlungsmöglichkeiten sollen durch wirksame Sanktionen (vergleichbar mit denen gegen Russland) genommen werden.

Eine Petition mit 11 Forderungen (u.a. Einfrieren der Vermögen von Personen und Organisationen, die an Gewalt gegen Protestierende beteiligt sind; Aussetzungen der Verhandlungen zum Atomabkommen) an die Bundesregierung kann man bis zum 22.11 hier unterschreiben.

Eine besondere Bedeutung hat Musik für die Protestbewegung. Shervin Hajipour, ein bisher relativ unbekannter iranischer Sänger, schrieb den Song „Baraye“ (Für), in welchem er die Gründe aufzählt, für die es sich lohnt im Iran auf die Straßen zu gehen. Das Lied entwickelte sich zur Protesthymne, dessen Verbreitung dem Regime nicht gelang zu verhindern. Hajipour wurde hierfür zeitweise verhaftet, nach seiner Freilassung distanzierte er sich auf Instagram von seinem Protestsong. User*innen schlugen daraufhin vor, das Lied um die Zeile „Because of forced Instagram Stories“ zu ergänzen. Anzuhören ist der Song mit englischen Untertiteln hier.

Auszug aus برای (Baraye)

برای دانش‌آموزا، برای آینده   Für die Studierenden, für die Zukunft

برای این بهشت اجباری   Für das aufgezwungene Paradies

برای نخبه‌های زندانی   Für diejenigen, die im Gefängnis sind

برای کودکان افغانی   Für die afghanischen Kinder

برای این‌همه «برای» غیرتکراری    Für das wiederholende FÜR

برای این‌همه شعارهای توخالی   Für alle leeren Paroli

برای آوار خونه‌های پوشالی   Für den Schutt der billig gebauten Häuser

برای احساس آرامش   Für den Seelenfrieden

برای خورشید پس از شبای طولانی   Für die Sonne nach langen Nächten

برای قرص‌های اعصاب و بی‌خوابی   Für Beruhigungspillen und Schlaflosigkeit

برای مرد، میهن، آبادی   Für den Mensch, das Heimatland und die Ortschaft

برای دختری که آرزو داشت پسر بود   Für das Mädchen, das sich wünschte ein Junge zu sein

برای زن، زندگی، آزادی   Für die Frau, das Leben, die Freiheit

برای آزادی   Für Freiheit

 

 

Auch andere Künstler*innen solidarisierten sich mit den Protesten. Der Rapper Toomaj Salehi sitzt wegen seiner regierungskritischen Texte weiterhin in Haft. Mitte Oktober kam es im berüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran zu einem Brand mit einer unklaren Anzahl an Todesopfern. In diesem Gefängnis wurden bereits seit den 70er Jahren unter dem Schah Menschen inhaftiert, gefoltert und zum Tode verurteilt. So auch eine Freundin von Azadehs Mutter, die sieben Jahre lang anfangs mit ihrem Sohn inhaftiert wurde für ihre Mitgliedschaft in einer kommunistischen Gruppierung Ende der 70er Jahre. „Die Menschen werden mundtot gemacht, eingesperrt und gezwungen sich öffentlich im Fernsehen zu entschuldigen oder gegenteilige Aussagen zu machen.“, erklärt Azadeh.

Zu den Opfern des Regimes zählen auch ethnische Minderheiten. Die Tatsache, dass gerade der Tod einer Kurdin (einer unter vielen!) der Funke für die Proteste darstellte, ist bemerkenswert. So hat der Iran laut Azadeh ein massives Rassismus-Problem, ethnische Minderheiten werden deutlich benachteiligt. Beispielsweise stellt die große Bevölkerungsgruppe der Afghan*innen eine fast rechtlose Gruppe dar, die nicht legal arbeiten kann und über keinerlei soziale Absicherung verfügt. Deren Kinder erhalten – ohne Aufenthaltsgenehmigung – keinen (und selbst mit dieser nur einen eingeschränkten) Zugang zum iranischen Bildungssystem und füllen die Straßen Teherans. Die Proteste, die all diese unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen vereinen, könnten auch ein Umdenken in diesem Bereich anstoßen.

Es gibt aber auch skeptische Stimmen. So berichtet mir meine Freundin, dass ihre Oma keine große Hoffnung auf die Proteste setzt. Um weitere Todesopfer zu verhindern, solle man ihrer Meinung daher lieber zuhause bleiben. Azadeh aber glaubt, dass die jungen Menschen die Lügen und Regeln des Systems nicht mehr ertragen werden. Sie bewundert diese Generation, die ja selbst nichts als die Islamische Republik kennt und dennoch so mutig für ihre Freiheit eintritt. Sie selbst, erklärt sie mir, habe noch nie eine so klare politische Meinung zu einem Thema gehabt habe wie zu den Protesten, die sie persönlich sehr berühren. Daher wünscht sie sich, dass sich mehr Menschen in Europa, insbesondere auch Feminist*innen, die bisher davor zurückschreckten das Kopftuch zu kritisieren, positionieren. Der Musiker Toomaj formulierte dies in seinem Lied Soorakhe Moosh (Mauseloch) drastisch so: „Age dast ro cheshmat gozashti dastat khoonian“ (Wenn du deine Hände auf deine Augen legst, sind deine Hände blutig).

Die Demonstrationen halten trotz aller Repressionen und der damit verbundenen Gefahren für die teilnehmenden Menschen an. Als einer der Militärführer vor wenigen Tagen drohte, es handele sich um den letzten Tag der Proteste, reagierten die Protestierenden mit dem Slogan: Es seien die letzten Tage der Islamischen Republik.