Vor wenigen Wochen hatte uns Joachim Schuster (SPD), Abgeordneter Bremens im Europäischen Parlament, zu einem gemeinsamen Kochabend eingeladen. Hier sollte die aktuelle EU-Politik diskutiert werden und so kam natürlich auch der Krieg gegen die Ukraine zur Sprache. Der verteidigungspolitische Sprecher der SPD im EU-Parlament vertrat hierbei eine eindeutige Position gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und für eine Rückkehr zu diplomatischen Gesprächen. Wir baten um ein Gespräch mit ihm zu dieser kontroversen Thematik.

 

Ariane: Heute hat die europäische Kommission ihre Empfehlung ausgesprochen, die Ukraine zum Beitrittskandidaten der EU zu machen. Wie bewertest Du diese Entscheidung?

Joachim: Es ist sicherlich ein wichtiges Signal der Solidarität mit der Ukraine. Bei dem Besuch von Macron, Draghi und Scholz ist deutlich geworden, dass die Ukraine noch einen weiten Weg vor sich hat. Sie erfüllt viele der Beitrittskriterien im Moment nicht, das betrifft insbesondere Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Korruption. Vor dem Krieg war die Ukraine beim Korruptionsindex von Transparency International auf Platz 117, also deutlich hinter vielen afrikanischen Staaten. Deswegen wird es sicherlich einen längeren Prozess brauchen, der sich Jahrzehnte hinziehen wird. Es ist aber das Bekenntnis, dass die Ukraine zu Europa gehört, und jeder europäische Staat hat im Grundsatz die Möglichkeit der EU beizutreten.

Ariane: Unterstützt Du persönlich den Beitritt der Ukraine?

Joachim: Die EU muss aufpassen. Zum einen, dass sie wirklich nur Kandidaten aufnimmt, die verlässlich die Beitrittskriterien erfüllen. Wir sehen im Moment mit Blick auf Polen und vor allem Ungarn, dass es keineswegs reicht, dass ein Land einmal die Beitrittskriterien erfüllt. Man muss auch eine gewisse Verlässlichkeit bieten und dauerhaft zu den Werten stehen. Und damit meine ich die ideellen, nicht die materiellen Werte der EU, die Ungarn wahrscheinlich eher bevorzugen würde. Zum anderen zeigt die Erfahrung mit Ungarn und Polen, dass wir erst dann weitere Staaten aufnehmen können, wenn wir innere Reformen durchgeführt haben. Die Entscheidungsmechanismen und die Modalitäten zur Ratspräsidentschaft müssen vereinfacht werden, sonst droht eine wachsende EU handlungsunfähig zu werden. Grundsätzlich müssten einige Verfahren, wie beispielsweise das Einstimmigkeitsprinzip, an eine wachsende EU angepasst werden. Auch unabhängig davon wird der Beitrittsprozess der Ukraine und auch Moldawiens realistisch betrachtet viele Jahre dauern.

Ella: Stimmst Du dem Slogan „Die Ukraine gehört zu Europa“ zu?

Joachim: Die Ukraine gehört geographisch zu Europa. Bisher ist es aber nicht so, dass sie die Werte der Europäischen Union vollständig teilt. Es gibt in der Ukraine massive Korruption und Ungleichheit, alles bereits vor dem Krieg. Wir wissen von schwer mit Demokratie zu vereinbarenden Prozessen, bei denen sich zum Beispiel Oligarchen Stimmen gekauft haben. Die Ukraine ist gewillt dies zu überwinden, die Rechtsstaatlichkeit im Land zu gewährleisten. Sie gehört geographisch zu Europa und jedes Land, was sich auf diesen Weg machen will, wird im Grundsatz bei seinen Bemühungen unterstützt.

Ella: Meinst Du, dass es für die Ukraine auch ohne den Krieg möglich gewesen wäre, diesen Status zu erhalten?

Joachim: Es wäre sicherlich nicht sofort der Kandidatenstatus erteilt worden, sondern man hätte gesagt: „Jetzt zeigt uns erstmal, dass ihr es wirklich ernst meint“. Durch den Krieg hat sich das natürlich beschleunigt. Der Krieg, den Russland begonnen hat, ist ein Verbrechen. Insofern bedarf es auch politischer Unterstützung der Ukraine.

Ariane: Beim Kochabend hast Du uns deine Position zum Ukrainekrieg ausgeführt. Falls ich etwas falsch wiedergebe, kannst Du mich gerne korrigieren. Deine Vorstellung vom Ende des Krieges beinhaltet einen schnellen Waffenstillstand, um weitere Todesopfer in der Ukraine zu verhindern. In Osteuropa hat sich mittlerweile ein Begriff durchgesetzt, der „Westsplaining“ heißt. Er beschreibt, dass Menschen aus Westeuropa, die eine russische Fremdherrschaft selbst nicht erlebt haben, den Eindruck erwecken, sie wüssten besser als die osteuropäischen Länder, wie diese mit der Situation mit Russland umzugehen haben. Sollten wir nicht aktuell diesen Ländern einschließlich der Ukraine eher zuhören als umgekehrt?

Joachim: Ich halte aus verschiedenen Gründen einen schnellen Waffenstillstand für notwendig. Aber ob es tatsächlich einen Waffenstillstand geben wird, liegt an der Ukraine und an Russland. Das liegt nicht daran was wir – egal welche Staaten – wollen. Es ist allerdings notwendig als westliche Staaten eine Haltung zur Frage eines möglichen Waffenstillstandes zu entwickeln, denn es gibt für mich eine Prämisse, die ich an unsere Politik in Europa stelle und die auch die Bundesregierung und bisher die NATO teilen: Die NATO darf nicht Kriegspartei werden, weil ein dritter Weltkrieg nicht zu verantworten ist. Eine andere Frage ist die realistische Betrachtung: Wie könnte dieser Krieg beendet werden? Grundsätzlich ist es so, dass Kriege immer über Waffenstillstände und Verhandlungen beendet werden. Sie werden nicht auf dem Schlachtfeld beendet, es sei denn man will oder man riskiert es, dass ein Staat völlig zerstört wird. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Ukraine – wenn der Westen nicht in den Krieg eintritt – militärisch in der Lage ist, die besetzten Gebiete zurückzuerobern, auch wenn noch mehr schwere Waffen geliefert werden. Nicht alle Waffen, die Selenskij immer wieder gefordert hat, sollte Europa liefern. Insbesondere das, was er immer wieder als „den Luftraum freizuhalten“ beschrieben hat. Das bedeutet mit Kampfflugzeugen und Raketen von westlicher Seite in den Konflikt als Kriegspartei einzutreten – das wäre der Weg in den dritten Weltkrieg.

Ariane: Aber das sind ja unterschiedliche Sachen…

Joachim: Im Moment erleben wir es, dass zwar Waffen geliefert werden, die militärische Lage sich in der Ukraine aber immer weiter zuspitzt. Russland setzt Stück für Stück massivere Waffen ein. Russland hat noch sehr viele Waffen in der Hinterhand – bis hin zu taktischen Atomwaffen. Es ist aus meiner Sicht dringend geboten, alle Anstrengungen zu unternehmen, um eine diplomatische Lösung und damit als erstes einen Waffenstillstand zu erreichen. Denn militärisch haben beide Seiten diesen Krieg schon verloren. Und eine Situation, die man verloren hat, sollte man möglichst schnell beenden. Ich sage dies wohlwissend, dass es eine diplomatische Lösung nur geben wird, wenn die Ukraine das will und vor allem wenn auch Russland das will. Hier scheint es ja etwas Bewegung zu geben. Man muss überlegen, welche Staaten in dem Konflikt vermittelnd wirken können. Der Westen fällt bei einer Vermittlerrolle eher aus, weil Putin uns als parteiisch ansieht. Vielmehr sollten wir unsere Bemühungen verstärken China, Indien oder auch Südafrika zu einer Vermittlung zu bewegen.

Ella: Ich würde gerne auf den Punkt eines Waffenstillstandes eingehen. Wenn ich an diesen Waffenstillstand denke, dann denke ich nicht an Frieden. Von welcher Dauer soll dieser Waffenstillstand sein? Du sagst ja, ein Waffenstillstand kann zu Frieden führen. Ich denke jetzt beispielsweise an die Bilder aus Butscha, aus besetzten Gebieten, wo massiv Verbrechen an der Zivilbevölkerung verübt wurden. Ich kann mir zudem schwer vorstellen, dass ein solcher Waffenstillstand ein Ende dieses Krieges bedeuten kann. Gerade auch mit der Perspektive auf die Frage: Was möchte Putin eigentlich?

Joachim: Ein Waffenstillstand würde zunächst natürlich keinen Frieden bedeuten, es würde erstmal ein Ende des akuten Tötens bedeuten. Das, was wir vom Krieg in Butscha gesehen haben, ist nur ein relativ kleiner Ausschnitt. Krieg ist grausam. Es gibt tägliche und zahlreiche grausame Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Und gerade, weil der Krieg grausam ist, muss er schnell gestoppt werden. Am Anfang wird es natürlich so sein, dass man sich mit einem absoluten Misstrauen begegnen wird – wie soll man im Moment Russland vertrauen? Das ist schlicht undenkbar. Der Waffenstillstand muss mit entsprechenden Garantien hinterlegt werden. Man könnte Pufferzonen einrichten, die auch von anderen Staaten mitgarantiert werden. Weswegen sollte man sich nicht vorstellen können, dass eine Pufferzone von der internationalen Gemeinschaft, eben auch unter Einbeziehung von China oder Indien, garantiert wird? Mit der Zeit muss schrittweise wieder gegenseitiges Vertrauen aufgebaut werden. Auch zur Kooperation wird man zurückkehren müssen, denn auch wenn wir heute eine Zusammenarbeit mit Putin für unvorstellbar halten, Russland wird ja nicht von der Landkarte verschwinden. Hier möchte ich an die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs erinnern. Nachdem Deutschland besiegt war, war ja auch noch kein Frieden im eigentlichen Sinne hergestellt. Der größte Friedensprozess damals war die Europäische Union. Schon sechs Jahre nach dem Krieg, der ja immerhin durch den deutschen Überfall auf zahlreiche Nachbarländer begonnen und unsagbares Leid über Europa gebracht hatte, haben uns fünf andere Staaten die Hand gereicht und gesagt: Vielleicht ist es doch besser zusammenzuarbeiten und sich nicht immer auf den Schlachtfeldern zu begegnen.

Ella: Wir wollten noch auf die SPD-Politik eingehen. Du hattest dich am Kochabend kritisch gegenüber der Bundesregierung und der Position der SPD zu diesem Krieg geäußert. Wie würdest du den Bau von Nord-Stream-2 und den gesamten Umgang mit Russland vor Beginn dieses Krieges, beispielsweise zum Zeitpunkt der Krim-Annexion, rückblickend bewerten? Gibt es Fehler, die die SPD begangen hat?

Joachim: Das ist eine schwierige und weitreichende Frage. Ich glaube, man muss die Geschichte nicht erst ab der Krim-Annexion betrachten. Die Krim-Annexion war schon Folge verschiedener Ereignisse und unterschiedlicher Signale, die Putin selbst gesendet hat. Noch 2001 hat er im Bundestag eine Rede gehalten, in der es um eine umfassende Kooperation ging. Es gab verschiedene Rüstungskontrollgespräche usw. Ich würde das Verhalten später als einen Wandel in Putins Politik sehen. Ich kann natürlich nicht sagen, ob Putin das am Anfang alles nur erzählt hat, um uns hinters Licht zu führen und das alles schon immer geplant hatte. Das glaube ich aber nicht. Zumal die grundlegenden geopolitischen Veränderungen, die neue Optionen eröffneten, sich erst später im Zeitverlauf entwickelten. China war Anfang der 2000er noch kein wirklicher Konkurrent zur globalen Hegemonie der USA. Man muss sich jetzt anschauen, welche Fehler es gab. Ich glaube nicht, dass es ein Fehler war, dass man auf wirtschaftliche Kooperation gesetzt hat. Es war eher ein Fehler, dass man nicht darauf geschaut hat, dass das Minsker Abkommen umgesetzt wurde. Allerdings muss man auch sagen, es wurde von beiden Seiten nicht umgesetzt. Es wurden immer nur die zahlreichen Waffenstillstandsstörungen oder -brüche registriert, aber dies hatte keine Folgen und brachte keine Veränderungen mit sich. Gleichzeitig hat es auch auf westlicher Seite verschiedene Punkte gegeben, die aus russischer Sicht hochproblematisch sind.

Ella: Zum Beispiel?

Joachim: Zum Beispiel die Zusage zur NATO-Osterweiterung, was für Russland bedeutet hat, dass der ehemalige Feind an die Grenze heranrückte. Das war der Grund dafür, dass Deutschland und Frankreich immer sehr skeptisch gegenüber der Aufnahme der Ukraine in die NATO waren – bis zuletzt. Der Fehler lag nicht grundsätzlich in der Idee, auf Kooperation zu setzen. Wer meint über dauerhafte militärische Konfrontation Frieden sichern zu können, der sollte sich die Geschichte einmal ganz genau anschauen, um zu sehen, wo militärische Konfrontation zu welchen Risiken geführt hat und ob dies immer dazu beigetragen hat, dass ein Krieg vermieden wurde. Wir haben 2022, die Kuba-Krise ist jetzt 60 Jahre her. Damals waren wir kurz vor dem Dritten Weltkrieg, weil man meinte, man müsse sich mit militärischem Protzgehabe gegenseitig aufstacheln.

Ariane: Es gibt einen Unterschied zwischen wirtschaftlicher Zusammenarbeit und sich so abhängig zu machen, wie Deutschland es getan hat.

Joachim: Im Nachhinein erweist es sich als falsch, dass wir so abhängig von russischen Rohstoffen sind. Ob die Energien aus Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Katar so viel sauberer sind und wirklich einer werteorientierten Außenpolitik entsprechen, würde ich erstens in Frage stellen. Zweitens sind wir als rohstoffarmes Europa massiv abhängig von Rohstoffen aus anderen Ländern. Unter anderem auch bei der Solarwende. Man muss sich nur mal anschauen, wo 80% der Solarpanels in dieser Welt hergestellt werden, die wir jetzt dringend brauchen. Hier werden absehbar neue Abhängigkeiten von China entstehen. Wir werden immer austarieren müssen, denn es gibt Abhängigkeiten Europas, weil wir viele Rohstoffe nicht haben, die wir für unseren Lebensstil brauchen. Insofern muss man auch da sehr genau hinschauen und sich davor hüten zu sagen: „Das hätte man doch alles mal wissen müssen“. Hinterher ist man natürlich immer schlauer.

Ariane: Während Deutschland 2015 angefangen hat Nord-Stream-2 zu bauen, hat Litauen zum gleichen Zeitpunkt einen LNG-Terminal aufgebaut, auch als eine Reaktion auf die Krim-Annexion. Hat Deutschland nicht einfach die Zeichen der Zeit verpasst oder auch nicht sehen wollen?

Joachim: Es wäre besser gewesen, wir hätten früher diversifiziert. Wir sind in eine große Abhängigkeit geraten, weil wir einen enormen Energiehunger haben und zu wenige Rohstoffe im eigenen Land haben. Allerdings daraus die These zu machen, dass Nord-Stream-2 zum Krieg beigetragen hätte, da fehlt mir ein wenig die Logik dahinter, –

Ariane: Das habe ich nicht gemeint.

Joachim: …da ist ja noch nicht mal ein Kubikmeter Gas durchgeflossen. Man könnte auch eine andere These vertreten: Obwohl wir bereit waren so stark zu kooperieren, hat Putin das nicht daran gehindert, die Ukraine zu überfallen. In der Tat muss man zusehen, dass Abhängigkeiten reduziert werden und wir unsere Energiequellen weiter diversifizieren. Insbesondere müssen wir mit den regenerativen Energien vorankommen. Völlig unabhängig davon, wo wir unsere Energie herbekommen, ist dies klimapolitisch geboten.

Ella: Unterstützt Du grundsätzlich das auf europäischer Ebene beschlossene Ölembargo?

Joachim: Über das, was aus dem Ölembargo gemacht wurde, kann Putin sich wirklich kaputtlachen. Es zeigt überdeutlich, dass die Europäische Union in dieser Frage überhaupt nicht geeint ist. Dieses Embargo hat so viele Löcher, dass die Kommission es besser nie vorgeschlagen hätte. Ein Gasimportembargo, das ja viele fordern, würde in erster Linie einen großen Schaden bei uns verursachen und Russland nur begrenzt treffen. Es geht dann nicht nur um wirtschaftliche Lasten, man kann die Betroffenheit unterschiedlicher Einkommensklassen bei solchen Maßnahmen beobachten. Sanktionen müssen aber vor allem den treffen, der die Verbrechen begangen hat und nicht einen selbst.

Ella: Welche Möglichkeiten hat die Europäische Union denn dann zur Unterstützung der Ukraine? Du hast dich so geäußert: Waffenlieferungen ja, aber begrenzt, Sanktionen ja, aber auch in begrenztem Maße. Wie kann die Europäische Union denn dann tatsächlich reagieren?

Joachim: Indem man diplomatisch versucht, Bündnisse gegen Russland zu schmieden und Russland deutlich macht, dass die Staatengemeinschaft sich Gewalteinsatz als politisches Mittel nicht gefallen lässt. Das klingt im ersten Moment nach wenig, aber es ist, glaube ich, der wesentliche Weg. Alle anderen Wege münden in einer weiteren Eskalation oder verursachen, wie bei einigen Wirtschaftssanktionen, nicht vertretbare wirtschaftliche Schäden, während sie Russland nur bedingt zusetzen. Übrigens zur Frage nach diplomatischen Bündnissen: Man muss sich nur mal anschauen, wie unser Verhalten sonst in der Welt ankommt. Da ist es nämlich keineswegs so, dass alle der Auffassung sind, dass wir im Recht sind. Ich kann nur aus einem Gespräch mit südafrikanischen Politikern berichten: Auf die Frage, warum die UN-Resolution, die Russland verurteilt, nicht mitgetragen wurde, kam die sinngemäße Antwort: Das ist ein europäischer Krieg, damit haben wir nichts zu tun. Wir wollen neutral bleiben. Wir sind gerne bereit, unsere Kapazitäten einzubringen, um zu vermitteln. Ihr müsst euch aber auch im Übrigen klar darüber werden, dass ihr mit doppelten Standards messt. Und dann wurde Folgendes aufgezählt: Der Irakkrieg, Lybien, Westsahara, selbst die Palästinenserfrage, was aus deutscher Sicht nochmal besonders schwierig ist, Afghanistan fehlte natürlich auch nicht. Ich glaube, wir müssen uns selbst hinterfragen, wenn wir eine Weltordnung schaffen wollen, die solche Kriege nicht mehr kennt.

Ariane: Beobachtest Du im Parlament eine Spaltung bezüglich der Frage, wie man die Ukraine unterstützen kann beispielsweise durch Waffenlieferungen, zwischen den Ost- und Westmitgliedsstaaten?

Joachim: Im Moment vermisse ich eher eine ernsthafte Diskussion. Wir verabschieden Resolutionen, in denen wir den sofortigen Energieimportstopp fordern, bis hin zu Formulierungen, dass die ukrainischen Streitkräfte alle Waffen kriegen sollen, die sie haben möchten. Ich halte es für hochgradig gefährlich, solche Positionen zu beschließen. Ansonsten bemerkt man insbesondere bei der Sanktionsfrage langsam, aber sicher unterschiedliche Akzente verschiedener Staaten.

Ella: Gibt es zwischen den Fraktionen Uneinigkeit? Stellt sich hierbei irgendetwas besonderes heraus?

Joachim: Nein. Man muss auch sagen, dass meine Position in der sozialdemokratischen Fraktion in der Minderheit ist. Die beiden einzigen Fraktionen, die aus sehr unterschiedlichen Gründen geschlossen skeptisch sind, sind einmal die Rechten – wir kennen die Verbindungen, die von rechten Parteien wie dem Front National in Frankreich aber auch der AfD hier in Deutschland zu Russland bestehen – zum anderen Teile der Linke. Auch in den anderen EU-Staaten besteht die Linke aus mehreren Flügeln, wie hier bei uns in Deutschland auch. Hierunter gibt es einige, die die eigentliche Schuld für diesen Krieg bei den USA sehen, was ich für völlig absurd halte. Diese Gruppen sind dementsprechend gegen Sanktionen.

Ella: Vielen Dank, dass Du Dir die Zeit genommen hast, mit uns zu sprechen.

 

Nach unserem offiziellen Gespräch begründete Joachim Schuster seine eindeutige Position zu Waffenlieferungen und seine Angst vor einem Weltkrieg auch mit eigenen Kindheitserlebnissen: Sein Vater war als Soldat aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt und erzog seine Kinder im Bewusstsein der Schrecken eines Krieges. Dies habe ihn nachhaltig geprägt.