„Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“ – In goldenen Lettern prangt die Inschrift über dem Eingangstor der Wiener Sezession, die als Ausstellungsgebäude der gleichnamigen künstlerischen Vereinigung 1898 erbaut wurde. Das Motto der Künstlergruppe, in deren Mitte unter anderem Gustav Klimt und Josef Maria Olbrich tätig waren, ist nicht nur für die österreichische Variante der Kunstepoche um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert richtungsweisend. Ob im deutschen Jugendstil, im französischen Art Nouveau, im italienischen Stile Floreale oder eben im Wiener Sezessionsstil: Eines hatten die Strömungen der „neuen Kunst“ in Europa trotz großer stilistischer Unterschiede gemeinsam. Sie forderten eine Kunst, die ihrer Zeit und damit einhergehenden modernisierenden und emanzipatorischen Elementen gerecht wurde. Im Konkreten bedeutete dies eine Abkehr vom Historismus, also vom Rückgriff auf alte, bewährte, aber nach Auffassung der jungen Künstler*innen fernab vom realen Leben stattfindende Gestaltungsregeln. Während im Zeitalter der Industrialisierung Gegenstände und insbesondere Möbel nach immer gleichem und billigem Schema protzig verziert wurden, forderten die Vertreter*innen der „neuen Kunst“ eine Schaffenskultur, in der die Kunst an höchster Stelle stünde. Unter dem Motto „ver sacrum“ (heiliger Frühling) erhob man das eigene Zeitalter zum Beginn einer neuen kreativen Schaffensperiode, in deren Zentrum beinahe gottesgleich die Kunst als höchster Wert stand. Ihr gebührte die Freiheit, in verschiedene Bereiche des Lebens einzufließen und mit ihnen zu verschmelzen, denn eine vom Leben losgelöste Kunst ergab in den Augen der jungen Künstler*innen wenig Sinn. Weniger abstrakt bedeutete dies eine Funktionalität der Architektur in dem Sinne, dass einem Gebäude oder seinem Mobiliar anhand seiner künstlerischen Gestaltung sein Nutzen anzusehen sollte. Auf die Spitze trieb dies die Idee des Gesamtkunstwerks, bei dem das gesamte Innere und Äußere eines Gebäudes einer künstlerischen Idee unterworfen sein sollte.

Wiener Sezessionsgebäude

Das Wiener Sezessionsgebäude ist dafür das perfekte Beispiel: Als weißer, fensterloser Tempel erhebt es mit goldenem Blätter-Kuppeldach und den beiden goldenen Inschriften „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Zeit“ und „ver sacrum“ die Kunst zur Religion. Im Inneren ziert Klimts bekanntes Beethovenfries die Wände, welches zusammen mit Max Klingers Beethoven-Statue eine programmatische Überschneidung mit ebenso revolutionärer auditiver Kunst herstellt und beides zu einem Gesamtwerk verschmelzen lässt.

Beethovenfries, 1902

  • Neue Kunst, neues Frauenbild?

Wer die Formelemente der Jugendstilmalerei betrachtet, kommt nicht umher, neben floralen Ornamenten und Formkontrasten von geschwungenen Linien und breiten monochromen Flächen dem wiederkehrenden Motiv der jungen und hübschen, sehr häufig nackten Frau zu begegnen. Gemäß dem Motto „Der Zeit ihre Kunst“ flossen hier die Tendenzen zur zunehmenden Unabhängigkeit der Frau und zum Tabubruch in die Kunst. Auf provozierende und erotisierende Weise wandten sich die jungen Künstler*innen so vom biederen Verständnis der traditionellen Kunst ab. Wer in der erotischen Frauendarstellung nun einen Gewinn für die Unabhängigkeit der damaligen Frauen à la „Sexual Liberation“ sieht, muss allerdings vorsichtig sein. Denn obwohl die Freigeister der „neuen Kunst“ wohl unfraglich mit Progressivität verknüpft sind, erfüllen die idealisierten, verführerischen Frauengestalten doch meist entweder das Klischee der unschuldigen Jungfrau oder der „Femme fatale“, die mit halb geschlossenen Lidern nicht viel mehr ist als ein Symbol männlicher Fantasien. „Sex Sells“ schien auch im späten 19. Jahrhundert bereits zuzutreffen und besonders die zu dieser Zeit entstehende Plakatgestaltung zu Werbezwecken machte vor dem Gebrauch erotischer Frauengestalten keinen Halt. Nicht zuletzt zeigt sich hier der Konflikt zwischen uneingeschränkter Freiheit der Kunst und dem moralischen Empfinden einer Gesellschaft: Egon Schiele, ein Schüler Klimts, der als Expressionist der Wiener Moderne das Freigeistertum der Sezession fortführte, ist für seine erotische Frauendarstellung bekannt. Dass seine Modelle häufig minderjährig, teilweise nur 13 Jahre alt waren, ist bekannt und brachte ihn zu Lebzeiten vor Gericht. Er selbst wies den Vorwurf sexuellen Fehlverhaltens mit der Begründung zurück, es handele sich bei den erotischen Werken um Kunst und die dürfe nun mal alles. Als bekannter und gefeierter Künstler genießt er heute mit dieser Einstellung breiten Rückhalt. Zwar ist der Diskurs um Schiele durchaus von der Kritik an seiner Motivwahl geprägt, doch wird seine Kunst häufig davon losgelöst betrachtet und für ihren Ausdruck und ihre stilistischen Besonderheiten gelobt.

Judith und Holofernes, Gustav Klimt, 1901

Judith, die Holofernes enthauptet hat und – seinen Kopf noch in ihren Händen haltend – den*die Betrachter*in anblickt, ist der Inbegriff der „Femme fatale“.

Werbeplakat für eine Zigarettenfirma, Alfons Mucha

Zwei sich umarmende Frauen, Egon Schiele, 1911

 

Internationalität, Diversität und Dialog

Der Jugendstil hat die Kunst und Architektur in ganz Europa nachhaltig geprägt. So hebt sich zum Beispiel das Stadtbild Budapests noch heute durch die bunten Dächer des Architekten Ödön Lechners hervor und auch Wien ziert an jeder Ecke die Architektur der Sezession. In Spanien ist mit den Bauwerken Antonio Gaudís ein wiederum einzigartiger Stil aus dem Modernisierungsbestreben der neuen Kunst hervorgegangen.

In der Abwendung vom Historismus und der Forderung nach Kunstfreiheit geeint, wird der Jugendstil der verschiedenen europäischen Länder um die Jahrhundertwende als letzter internationaler Stil verstanden. Apropos international: In einem Europa, in dem nationalistische Gruppierungen die Kunst ihres Landes zu nationalem, identitätsstiftendem Kulturgut erhöhen, bleibt auch die Jugendstilkunst nicht verschont. Nachdem das Motto der Sezession „Der Zeit ihre Kunst / Der Kunst ihre Freiheit“ 2017 Eingang in das österreichische Regierungsprogramm gefunden hatte, betonte die Vereinigung bildender KünstlerInnen Wiener Sezession den internationalistischen Charakter der Kunstfreiheit im Sinne des Jugendstils.

 

,,Mit der Freiheit der Kunst ist unabdingbar Internationalität, Diversität und Dialog verbunden. Die Idee, dass Kunst einer kollektiven nationalen Identitätsstiftung dient, ist eine Form der Instrumentalisierung, die im Widerspruch zur Vielfalt künstlerischer Inhalte steht. Künstlerisches Schaffen kann in unseren Augen nur vor diesem Horizont Relevanz und Qualität entwickeln. (…) Wenn eine Regierung nicht für eine freie Gesellschaft eintritt, hat ihr Versprechen einer Freiheit der Kunst nur rhetorischen Charakter.“

 

Sicher ist nicht jedes Werk aus der Epoche des Jugendstils als politisches Statement oder gar als Versuch zum Umsturz jeglicher Konventionen zu verstehen. Diesen Facettenreichtum finde ich allerdings gerade spannend: In der Kunst des Jugendstils stehen sich soziokulturelle Beweggründe und das reine Verlangen nach Ästhetik gegenüber. Tabubruch in der Frauendarstellung wird durch Objektifizierung der Frau als Ornament konterkariert. Die Forderung nach Kunstfreiheit durch Vertreter*innen einer internationalen Kunstrichtung wird zur nationalen Kulturerrungenschaft umgedichtet. In meinen Augen spiegelt dieser letzte Punkt eines deutlich wider: Europäische Kultur lässt sich nicht unabhängig vom eigenen Europaverständnis auffassen und konsumieren. Während der Jugendstil mir die kulturellen Anknüpfungspunkte und das gemeinsame Streben nach künstlerischem Fortschritt innerhalb der europäischen Staaten vor Augen führt, mag so manche*r Budapester*in den Jugendstil ausschließlich mit dem Stadtbild und der Kultur der eigenen Heimat verbinden. Aus meiner west-europäischen, den Internationalismus bejahenden Perspektive komme ich allerdings zu dem Schluss, dass die Denkimpulse, die der Jugendstil uns vor rund 120 Jahren gegeben hat, es wert sind, noch heute verinnerlicht und weitergeführt zu werden. An erster Stelle steht für mich aber die ästhetische Kunst, die mich -und das ganz im Sinne der Sezession- schon lange vor meiner Recherche zum politischen Hintergrund des Jugendstils begeistert hat.