Am vergangenen Wochenende war ich bei meinem Freund in Litauens zweitgrößter Stadt Kaunas zu Besuch. Dort entdeckte ich in einer Kneipe ein Schild mit der Aufschrift: „Kaufe einen Shot aufs Haus und wir spenden dein Geld für Bayraktar“. Das Wort Bayraktar war in diesen Tagen in aller Munde. Es bezeichnet einen Typ Kampfdrohne des türkischen Unternehmens Baykar, welchen Kiew mehrfach selbst gekauft und seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine eingesetzt hatte. Nun sollte eine litauische Crowdfunding-Kampagne genau solch eine Drohne für das ukrainische Militär finanzieren. Hierzu hatte der Journalist Andrius Tapinas des Fernsehsenders Laisves TV (Freiheit TV) über alle Social-Media-Plattformen aufgerufen. Das gesetzte Ziel bestand darin, innerhalb weniger Tage 5 Millionen Euro zu sammeln. Laut Tapinas sollten die Bürger*innen so zum ersten Mal in der Geschichte schwere Waffen für ein anderes Land erstehen können.
Ich staunte nicht schlecht. Während in Deutschland eine Debatte quer durch die Gesellschaft entbrannt ist, ob und in welchem Maße die deutsche Regierung die Ukraine auch mit schweren Waffen unterstützen soll, kann man in Litauen mit dem Kauf eines alkoholischen Getränks indirekt Waffen für die Ukraine kaufen. Einfach so. Krasser könnte der Kontrast für mich nicht sein.
In Litauen ging die Idee auf: In nicht einmal 4 Tagen kamen knapp 6 Millionen Euro zusammen, wobei auch Menschen aus dem Ausland spendeten. Dennoch lässt sich – wenn man bedenkt, dass in Litauen nicht einmal 3 Millionen Menschen leben – eine hohe Zustimmung unter der Bevölkerung vermuten. Ich habe daraufhin mit Freund*innen in Litauen gesprochen, weil mich sowohl deren Meinung zur Aktion interessierte als auch in welcher Weise sie im Vergleich hierzu die relative Zurückhaltung anderer europäischer Länder wie Deutschland und Frankreich in Bezug auf die Lieferung schwerer Waffen beurteilen. Ich habe sie zudem gefragt, ob sie sich persönlich durch den russischen Krieg gegen die Ukraine bedroht fühlen. Die Antworten fielen sehr unterschiedlich aus:
Solveiga (26) hält die Kampagne prinzipiell für unterstützenswert. Dennoch kann sie verstehen, wenn Menschen es als kontrovers erachten, um des Friedens willen Waffen zu kaufen. Ihrer Meinung nach trägt dies aber zu einem schnelleren Ende des Krieges bei. Selbst gespendet hat sie für die Aktion nicht, weil sie sich stattdessen lieber ehrenamtlich engagieren möchte. So arbeitet sie freiwillig in einem Registrierungszentrum des Roten Kreuzes für geflüchtete Ukrainer*innen, um, wie sie sagt, „ihren Beitrag zur Situation zu leisten“. Die westeuropäische Zurückhaltung bei der Lieferung schwerer Waffen erklärt sie sich so: „Ich habe das Gefühl, dass diese Länder zögern, weil sie das Gefühl haben, eine Wahl zu haben. Der Krieg findet weit von ihnen entfernt statt und sie selbst fühlen sich nicht direkt bedroht. Angst vor Russland ist Teil unserer baltischen Identität und wie man nun sehen kann, besteht diese Angst nicht ohne Grund. Die Sowjetunion war genauso schrecklich wie Nazi-Deutschland und die Menschen hier haben an diese Zeit noch Erinnerungen. Das ist für Westeuropäer*innen etwas ganz anderes. Sie haben eine solche Grausamkeit durch Russland nicht selbst erfahren und empfinden deshalb aktuell keine so große Solidarität mit den Menschen in der Ukraine.“ Auch Litauen sieht sie direkt bedroht. Bereits mehrmals habe die Geschichte gezeigt, wie real diese Gefahr sei. Große Bedeutung hat daher für sie die litauische Mitgliedschaft in der EU und NATO.
Solveiga im Registrierungszentrum für ukrainische Geflüchtete in Kaunas
Ignas (29) hat gemischte Gefühle gegenüber dem Vorhaben des Crowdfundings: „Die Tatsache, dass eine so hohe Summe in so kurzer Zeit gesammelt werden konnte, macht mich glücklich, da es zeigt, dass die Menschen mobilisiert werden können, um anderen in Not zu helfen. Aber das Ziel, der Erwerb einer Kampfdrohne, die nur zu dem Zweck gebaut wurde zu zerstören, beunruhigt mich eher, da jede Spende potenziell zu Opfern auf russischer Seite beiträgt. Was mich noch mehr besorgt, ist die Vorstellung, dass die Menschen aus einem Wunsch heraus, Vergeltung gegenüber den russischen Besatzern zu verüben, für den Waffenerwerb gespendet haben könnten.“ Er selbst habe sich mehr oder weniger durch einen Zufall aktiv beteiligt: Nach einem Konzert seiner Band kam die Idee auf, die Einnahmen an die Laisves TV-Kampagne zu spenden. Schnell wurde eine Entscheidung getroffen und so kam es, dass Ignas erst im Nachhinein bewusst wurde, dass er Geld gespendet hatte, von dem Waffen gekauft werden sollten. Als sehr idealistischer Mensch ist er eigentlich gegen jede Form von Gewalt. So hat er beispielsweise den Wehrdienst verweigert. Sein Ideal sei immer noch Gewaltfreiheit, aber die aktuelle Situation stelle diese Position auf eine harte Probe: Im Kontext des Krieges sei es für ihn schwierig eine strikte Haltung gegenüber der Frage, wie man der Ukraine helfen solle, beizubehalten. So ist er auch bezüglich der Lieferung schwerer Waffen gespaltener Meinung: Der Idealist in ihm sage: „Gewalt erzeugt Gegengewalt“, der Realist aber glaube, dass schwere Waffen helfen könnten, die russische Besatzung zurückzudrängen. Die Zurückhaltung anderer NATO-Mitglieder verstehe er als ein Verhalten, welches eine weitere Eskalation des Konflikts verhindern soll. Auf der einen Seite wünsche er sich ein schnelles Ende des Krieges, welches aus seiner Sicht durch Waffenlieferungen herbeigeführt werden kann, auf der anderen Seite erscheint es ihm gefährlich, einen Aggressor, der sich verhalte, als ob er nichts zu verlieren hätte, weiter zu provozieren. Hierin sieht er auch eine Gefahr für das Baltikum, das gemeinsam mit Polen erneut in die Frontlinie eines größeren Konflikts geraten könnte: „Ich habe keine Angst davor, dass Russland Litauen wie die Ukraine direkt besetzen wird. Was mir Sorge bereitet, ist die Vorstellung, dass Litauen, falls sich der Konflikt an irgendeinem Punkt auf die NATO-Mitgliedsstaaten ausbreiten wird, Schlachtfeld eines viel größeren Konflikts wird.“
Dolive (28) empfindet die Crowdfunding-Kampagne als etwas Positives. So glaubt sie, dass die Aktion die Menschen in Litauen daran erinnert habe, dass die Ukrainer*innen immer noch ihre Hilfe benötigen. Zudem sei die Unterstützung der ukrainischen Soldat*innen ein Zeichen der Einheit – auch über Litauen hinaus. Sie meint: „Wir brauchen solche Kampagnen, um Russland zu zeigen, dass es uns keine Angst machen kann“. Über die mangelnde Bereitschaft einiger westeuropäischer Länder, schwere Waffen zu liefern, ist sie enttäuscht. Europa sei nicht so groß und der Krieg daher auch von diesen Ländern nicht weit entfernt. Um eine Wiederholung der Geschichte zu vermeiden, solle man schnell und entschlossen handeln. Auch Litauen könne ihrer Meinung nach möglicherweise zum Ziel Russlands werden, sie halte die russische Regierung für „unberechenbar“.
Tijana (29) stammt ursprünglich aus Montenegro, lebt aber seit mehreren Jahren in Vilnius. Sie war von der Initiative nicht überrascht, da sich die Menschen in Litauen seit Beginn des Krieges durchgehend für die Ukraine engagiert hätten und der Enthusiasmus hierfür nicht abgenommen habe. Mehrmals habe sie selbst Geld an die Ukraine gespendet, hier aber immer darauf geachtet, dass die Spende für humanitäre Zwecke verwendet wurde. Sie erklärt mir dies so: „Da ich aus dem ehemaligen Jugoslawien komme, kommt mir die Vorstellung davon, dass irgendjemand anderen Menschen Waffen schickt und Großmächte kleinere Nationen bewaffnen und so über diese als Stellvertreter in den Konflikt mit anderen Großmächten eintreten, nur zu bekannt vor. Das hat niemals dazu geführt, dass Konflikte einfacher oder schneller beendet werden und niemals zu einer Deeskalation der größeren geopolitischen Situation geführt. Ein weiterer Punkt, der mir in dieser speziellen Situation wichtig erscheint, ist die Tatsache, dass die Waffe, die hier finanziert werden soll, eine Drohne ist. Es handelt sich um eine Maschine, die uns erlaubt zu töten, indem man Hunderte Kilometer entfernt einen Knopf drückt, was zu einer vollständigen Loslösung von der Tat führt, eine gewisse Art der Unbeteiligtheit. Ich will damit nicht implizieren, dass es akzeptablere Arten zu töten gibt, ich habe nur ziemliche Angst vor dieser unaufhörlichen Industrialisierung des Tötens und würde niemals etwas tun, um solche Taten zu unterstützen.“ Sie selbst fühlt sich durch Russland bedroht: „Die russische Regierung besteht aus meiner Sicht aus einer Gruppe von Psychopathen, welche durch verdrehte Ideologien, die bereits im 20. Jahrhundert gescheitert sind, indoktriniert sind und ehrlich gesagt traue ich ihnen alles zu.“
Armandas (30) glaubt, dass die Aktion zwar aus militärischer Perspektive keine große Hilfe darstellt, sie aber als ein Symbol zu werten ist, das die Menschen in Litauen in ihrer gemeinsamen Unterstützung der Ukraine vereint und auch andere Länder inspirieren kann. Die unklare Position unter anderem Deutschlands in Bezug auf die Waffenlieferungen hält er für eine Schwäche, die wichtige Entscheidungen verzögert und so auf ukrainischer Seite Menschenleben kostet. Ihm erscheint es so, als ob Ländern wie Deutschland ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen wichtiger sind. Im Gegensatz hierzu seien kleinere Länder wie Litauen akut bedroht. „Wir sind umgeben von Russland und Belarus. Zu Beginn dachten wird, dass wir die nächsten nach der Ukraine sein würden. Drei Monate nach der Invasion hat sich alles wieder etwas beruhigt.“
Jonas (31) findet: „Die Kampagne ist ein perfektes Beispiel gesellschaftlicher Solidarität. Besonders im Hinblick auf die aktuelle Rezession, steigende Inflation und die daraus resultierende ökonomische Schieflage in Litauen ist sie bemerkenswert.“ Dass Scholz und Macron weiterhin mit Putin telefonieren, verärgert ihn. Er hält diesen Umgang mit Russland für eine Verkennung der Lage, so spräche die russische Regierung unter Putin nur die Sprache der „Macht“ und nur auf dieser Basis seien seiner Meinung nach Verhandlungen möglich, weshalb man die Ukraine durch Waffenlieferungen stärker unterstützen müsse. Eine Bedrohung für Litauen selbst sieht er aktuell nicht. Optimistisch blickt er zudem auf einen Nato-Eintritt Finnlands und Schwedens, der für die baltische Region einen weiteren Zuwachs an Sicherheit bedeuten würde: Das Baltische Meer (Ostsee) wäre dann fast vollständig in der Kontrolle verbündeter Staaten.
Der litauische Präsident Nauseda war das erste Staatsoberhaupt, das der Ukraine nach dem Angriff durch Russland Waffenlieferungen zusagte. Die Regierung zählt zu den stärksten Fürsprechern für die Ukraine innerhalb der EU, die sich gemeinsam mit anderen osteuropäischen Staaten immer wieder für deren größere auch militärische Unterstützung stark macht. Dieser politische Kurs wird durch fast alle litauischen Parteien getragen und durch eine große Mehrheit der Menschen in Litauen unterstützt. Dennoch machten mir meine Gespräche klar, dass es auch innerhalb Litauens unterschiedliche Einschätzungen zum Umgang mit dem Krieg gegen die Ukraine gibt.
Was wurde währenddessen aus der Laisves-TV-Kampagne? Nachdem das gesteckte finanzielle Ziel der Aktion erreicht worden war, sollte die Bayraktar Drohne eigentlich durch das litauische Verteidigungsministerium in der Türkei eingekauft und dann an die Ukraine geliefert werden. Die türkische Firma entschied sich aber stattdessen Litauen beziehungsweise der Ukraine die Kampfdrohne zu schenken. Von den zusammengetragenen 5.9 Millionen Euro sollen nun 1.5 Millionen in die Bewaffnung der Drohne, die in etwa drei Wochen geliefert werden soll, investiert werden. Das restliche Geld wird – laut Tapinas auf Wunsch der türkischen Seite – für humanitäre Zwecke und den Wiederaufbau an die Ukraine gespendet.