Die letzten Papyrusstauden Europas
Es ist ein Nachmittag Ende März – Über dem Wasser des Flusses Ciane schwirrt eine fast tropische Wärme. Ich befinde mich im Südosten der Insel, zwischen der Großstadt Siracusa und dem Golfo di Noto. Das hier zu entdeckende Ökosystem zeugt heute von einer herausragenden Einzigartigkeit, die bislang nur geringe Bekanntheit erlangt hat: Dies ist die einzige Stelle innerhalb Europas, wo Papyrusgras wild gedeiht.
Ursprünge einer vergessenen Kulturpflanze
Die Herkunft des sizilianischen Papyrusgrases ist bis heute umstritten. Für lange Zeit wurde im Forschungsdiskurs nahezu ungeteilt die Behauptung vertreten, Papyrus habe man zum Zweck der agrarwirtschaftlichen Nutzung als Kulturpflanze auf die süditalienische Insel gebracht. Dabei schrieben einige Historiker die erste Papyruskultivierung und -verarbeitung arabischen Völkern des neunten und zehnten Jahrhunderts zu, die in diesem Zeitraum Sizilien militärisch erobert und sich im Sinne einer Siedlungskolonie vornehmlich an den Küstenabschnitten niedergelassen hatten. Andere Historiker wiederum verorteten die Anlegung erster Papyrushaine auf Sizilien gar in der vorchristlichen Zeit. So soll der ägyptische Pharao Ptolemäus II. (285-247 v. Chr.) dem griechischen Tyrannen Hieron II. (306-215 v. Chr.), damaliger Herrscher über Siracusa und dessen Umland, die Papyruspflanze zum Geschenk gemacht haben. Einzelne Botaniker*innen glauben gegenwärtig jedoch Hinweise darauf gefunden zu haben, dass es sich bei der Papyruspflanze in früherer Zeit um ein endemisches Gewächs im südlichen Mittelmeerraum gehandelt haben könnte. Hierbei stützt sich die Naturwissenschaft vornehmlich auf die evolutive Entwicklung des sizilianischen Papyrusgrases: Im Gegensatz zum ägyptischen Papyrus weist das sizilianische nicht drei, sondern fünf bis sechs Hüllblätter auf, womit sich die Strukturen der oberen Dolden wesentlich voneinander unterscheiden. Ausprägungen von solcher Variabilität entstehen zumeist nur durch weit zurückreichende Isolationsprozesse in Ökosystemen. Prozesse, die bis in die Anfänge der Menschheitsgeschichte und darüber hinaus zurückreichen könnten.
Größer als die nordafrikanische Variante: Durch die höhere Anzahl an Hüllblättern weist sizilianisches Papyrus mehr Dolden auf und besitzt somit einen größeren Kopf.
Zwar wurde Papyrusgras wirtschaftlich erstmals ab dem 3. Jt. v. Chr. im alten Ägypten genutzt. Doch auch im antiken Griechenland begann man im fünften vorchristlichen Jahrhundert, hieraus die robusten und – im Gegensatz zu bisher verwendeten Materialien wie Ton – transportableren Schreibbögen zu produzieren. Dies könnte auf die jahrtausendealten Traditionen des Papyrus als Kulturpflanze auf Sizilien hinweisen. Denn bereits ab dem 8. Jh. v. Chr. ließen sich griechische Siedler an der sizilianischen Küste nieder und gründeten zahlreiche Stadtkolonien. In einem wesentlich größeren Ausmaß erfolgte die Papyrusproduktion jedoch wohl erst, als arabische Dynastien Sizilien im Laufe des 9. Jahrhunderts eroberten und im Zuge dessen in Nordafrika bewährte Bewirtschaftungstechniken auf der süditalienischen Insel etablierten.
DIe Eroberung Siracusas durch arabische Volksstämme 878: In den mittelalterlichen Quellen des christianisierten Europas überwiegt die Darstellung der arabischen Völker als Zerstörung und Unterdrückung bringende Heerscharen. So etwa in der Bilderhandschrift des byzantinischen Historikers Johannes Skylitzes aus den 1170er Jahren. Dass die arabische Herrschaft auf Sizilien aber auch Wohlstand und Innovation mit sich brachte, wurde nach der “Rückeroberung” der Insel durch christliche Herrscherdynastien aus dem kollektiven Gedächtnis zu verdrängen versucht.
Aus den Berichten muslimischer und jüdischer Reisender des neunten bis elften Jahrhunderts lassen sich die Ausbreitung des Papyrusgrases und damit das ökonomische Potential erahnen. Der muslimische Händler und Reisende Ibn Hauqal (gest. 988) beschreibt in seinem Werk Buch der Routen und Reiche Palermo und dessen Umland, das er 972 besuchte:
„Palermo sitzt auf vielen Quellen, vom Osten zum Westen, von denen jede in der Lage ist, zwei Mühlen zu betreiben. Von ihrer Quelle bis zu ihren Mündungen befruchten diese Gewässer viel Land. (…) Durch das ganze Land hindurch findet man (…) Flächen, auf denen Papyrus angebaut wird. Ich weiß nicht, ob ägyptisches Papyrus ein Äquivalent auf dieser Welt hat, mit der Ausnahme desjenigen auf Sizilien.“
Die von arabischen und sizilianischen Agrariern gepflegten Papyrushaine Siziliens verloren ihre Bedeutung, als in Europa ab dem 12. Jahrhundert ein neuer, aus Asien stammender Beschreibstoff seinen Siegeszug antrat: das Papier. Angehörige der byzantinischen und arabischen Welt brachten die aus Flachs, Hanf und Nessel hergestellten Schreibbögen zunächst nach Sizilien und auf das süditalienische Festland. Zusammen mit dem arabisch geprägten Teil Spaniens verbreitete es sich von hier aus in ganz Europa und setzte sich im vierzehnten Jahrhundert gegen Papyrus und Pergament durch. Als Kulturpflanze wurde das Papyrusgras auf Sizilien damit zunehmend ausgerottet. Erst im neunzehnten Jahrhundert jedoch wurde der Großteil der noch bestehenden, wild aufgelaufenen Papyrusstauden zerstört. Einerseits vermutete man im schilfähnlichen Papyrus einen Krankheitsherd für die in Italien zu diesem Zeitpunkt verbreitete Malaria. Andererseits glaubten sizilianische Unternehmer, die Binnenschifffahrt auf diese Weise erleichtern zu können.
Sizilianisches Papyrus – und heute?
Ein Hauch von Nordafrika: Kilometer um Kilometer bahnt sich das sizilianische Papyrusgras seinen Weg durch das fruchtbare Küstenland. Auf Holzbrücken kann der Besuchende die Weite des 317 Hektar großen Naturschutzgebietes auf sich wirken lassen.
Von den einst an vielen Orten Siziliens vorfindbaren Papyrushainen ist heute nurmehr jenes schmale Ufergebiet im Südosten der Insel übriggeblieben, das ich an diesem Nachmittag durchstreife. Zuvor durchquerte ich sieben Kilometer südlich vom Stadtzentrum Siracusas auf staubigen Asphalt- und Schotterstraßen das fruchtbare Ackerland Siziliens: Bestellte Gemüsefelder, Olivenplantagen, leuchtende Zitronen- und Orangenhaine zogen an mir vorbei. Inmitten dieser Üppigkeit tauchte schließlich ein Streifen dicht bewachsener Marsch- und Wiesenlandschaft auf. Hier, in der 1984 eingerichteten „Riserva Naturale Fiume Ciane“ bei Fonte Ciane, laufen die Flüsse Ciane und Anapo zusammen, bevor sie in das Ionische Meer münden. In diesem geschützten Ufergebiet kann der Besucher nun die letzten wilden Papyrusstauden Europas bestaunen: Unendlich weit scheint der Ciane durch das Land zu mäandrieren, immer weiter folgt man auf einem angelegten Pfad dem Flussverlauf bis zu seiner Mündung am Porto Grande di Siracusa, der Bucht der gleichnamigen Großstadt. Über seinem azurblauen, klaren Wasser erheben sich die festen Halme der Papyrusgräser, teilweise bis zu fünf Meter in den Himmel, empor.
An einer Bezugnahme auf die Verwobenheit dieser Naturschönheit mit der sizilianischen und damit europäisch-afrikanischen Kulturgeschichte fehlt es jedoch gänzlich: Mit Ausnahme einer das Naturschutzgebiet ausweisenden Hinweistafel werden dem Besuchenden keine weiteren Informationen gegeben. Auch ist es ohne vorherige Recherche letztendlich unmöglich, zu diesem Flecken sizilianischen Agrarlandes zu gelangen. Sporadisch verweisen einzelne verblichene und zusammenhanglos wirkende Verkehrsschilder auf „Fonte Ciane“, nicht aber auf die Papyrusstauden selbst. Auf dieser Grundlage besteht wenig Chance, dass sich die Riserva Naturale Fiume Ciane jemals zu einem etablierten Erinnerungsort im sizilianischen Gedächtnis entwickeln wird.
Nach einer Erkundung des Stadtzentrums von Siracusa erscheint es mir mit einer noch größeren Intensität, dass sizilianisches Papyrus buchstäblich in der Peripherie der Erinnerungskultur gelegen ist. Zwar existiert mit dem „Museo del Papiro“ eine Institution, mittels derer die reiche Tradition der Kulturpflanze auf der Insel aufgeschlossen wird. Jedoch hat die kommunale Einrichtung nicht nur für wenige Stunden wöchentlich geöffnet, sie ist auch am äußeren Stadtrand gelegen. Beides verringert die Möglichkeit einer breiten Repräsentation nach außen, die sich sowohl an die Bevölkerung Siziliens wie auch den internationalen Tourismus richtet.
Außerhalb von Siracusa ist eine Erinnerung an die einst kultivierte Naturressource ebenso verschwunden wie die Pflanze selbst. Lediglich einige geografische Bezeichnungen – wie der Fluss Papireto bei Palermo – weisen auf die ehemaligen Strukturen der sizilianischen Kulturlandschaft hin.
Ob bewusst oder unbewusst, gemeinsam haben Italien und die Europäische Union im Zuge ihrer kulturellen Förderungsinitiativen einen für die Gegenwart wichtigen Erinnerungsort bislang nur unzureichend berücksichtigt. Denn eine Auseinandersetzung mit den Ursprüngen sowie der Kultivierung von Papyrus führt unweigerlich zu einer Infragestellung der modernen Grenzen: Wo beginnen und enden diejenigen Räume, welche wir „Europa“ und „Afrika“ nennen? Sollten wir uns stets auf das politisch und kulturell Trennende beziehen, oder können wir uns auch auf das Verbindende einlassen? In einer Epoche der grenzüberschreitenden Kommunikation und Mobilität muss eine transnationale Erinnerungskultur diesen Fragen stellen.