Gibt es eigentlich „die Europäer“? Und wenn ja, wer und wie sind sie? Zumindest wenn es nach dem Schriftsteller Henry James (1843-1916) geht, gibt es Menschen, die als „Europäer“ zu bezeichnen sind, jedenfalls als literarische Figuren, und da mindestens zwei. Eugenia und Felix, um genau zu sein. Die 33 bzw. 27 Jahre alten Geschwister sind die Titelfiguren von James‘ Kurzroman „The European“, der 1878 erst als Fortsetzungsgeschichte in der Zeitschrift „The Atlantic Monthly“ und bald darauf auch als Buch erschien.

Mich interessiert, wie James vor knapp 150 Jahren Europäer sah und darstellte. Gab bzw. gibt es ihn denn, den „Europäer an sich“? Sobald man die gewohnte Umgebung verlässt, erkennt man bis dahin nicht bewusst wahrgenommene Prägungen. Mir ist das während meiner Auslandsaufenthalte klar geworden. Nie habe ich mich so deutsch gefühlt wie beim Auslandssemester in Warschau und meinem DAAD-Lektorat in Russland. Aber auch umgekehrt hat es funktioniert. Bei meinem Praktikum im Europarat in Strasbourg vergingen keine fünf Minuten, ohne dass die Worte Europa bzw. europäisch fielen.

Die Zuschreibungen waren so omnipräsent, dass ich bei einer Straßenumfrage, ob ich mich europäisch fühle, sofort ja gesagt habe. Hätte man mich in Bamberg oder Bremen gefragt, wäre meine Antwort anders ausgefallen. Als ich in England studierte und in Brighton auf der Post einen Brief nach „Germany“ aufgeben wollte, korrigierte mich die Schalterdame: „Ah, to Europe!“ Das war lange vor dem Brexit. Europäisch fühlte ich mich dadurch nicht, nur sehr irritiert.

Ich leite aus meinen Erfahrungen ab, dass Identität durch Kontrast deutlich wird. Nach diesem Schema geht auch James vor. Den zwei titelgebenden Europäern seines Romans stehen sieben Amerikaner gegenüber: Mr. Wentworth, der Bruder von Eugenias und Felix‘ Mutter; seine Töchter Charlotte und Gertrude sowie sein Sohn Clifford; ihre Cousins und Elizabeth (Lizzie) und Robert Acton; und der Freund der Familie Mr. Brand. Wie in jeder RomCom gibt es zahlreiche Liebesintrigen: Mr. Brand liebt Gertrude. Diese will den langweiligen Puritaner lieber mit ihrer Schwester Charlotte verkuppeln und interessiert sich für den charmanten Felix. Clifford ist zwar mit seiner Cousine Lizzie so gut wie verlobt, flirtet aber heftig mit Eugenia, die vor der Entscheidung steht, ob sie in die Scheidung einwilligt, die der Bruder ihres Mannes propagiert. Doch auch Robert Acton fühlt sich zu Eugenia hingezogen.  

Charlotte, Gertudes Schwester, kann mit Felix wenig anfangen: „Felix is very wonderful. Only he is so different.“ (109) Die Baroness ist für Gertrudes Bruder Clifford faszinierend, weil sie seinen Rollenvorstellungen nicht entspricht: „she talked to him as no lady – and indeed no gentleman – had ever talked to him before.“ (112)

Auf das amerikanische Europabild finden sich einige Hinweise, die inzwischen zum Cliché geworden sind. So heißt es ganz zu Beginn des Romans, das Haus, in dem der amerikanische Zweig der Familie wohnt, sei mit seinen 80 Jahren „ancient“, also uralt. Aber der europäische Felix findet: „it looks as if it had been built last night.“ (33) Hier geht es also um den Dauerunterschied zwischen dem „alten“ Europa und dem „jungen“ Amerika oder, ins Negative gewendet, zwischen dem historisch verwurzelten und dem ahistorischen Kontinent.

James‘ Europäer stehen stellvertretend für ihren gesamten Kontinent, was der Autor in ihrer internationalen Biographie zum Ausdruck kommen lässt. So stammt Felix‘ Vater aus Sizilien. Felix selbst wurde in Frankreich geboren, seine Schwester dagegen in Wien. Beide verwenden immer wieder französische Versatzstücke, ein Hinweis auf die europäische Vielsprachigkeit, die mit der konkurrenzlosen Dominanz des Englischen in den USA kontrastiert. Von amerikanischer Seite wird das so erwartet, es entspricht dem Bild von der adeligen Europäerin. Robert Acton fände es sogar besser, wenn die Baroness generell Französisch spräche, dies wäre konform mit „the style we heard about“ (60).

Zum „alten“ Europa gehört die Aristokratie, ein weiterer großer Unterschied zu den republikanischen USA, erst recht zu Zeiten der Publikation des Romans im Jahr 1878. Entsprechend ist Felix‘ Schwester Eugenia mit „Prince Adolf of Silberstadt-Schreckenstein“ verheiratet und führt den Titel „Baroness Münster“. Der deutsche Umlaut wirkt im englischen Schriftbild als weiteres Verfremdungsmoment.

Clichéhaft ist wiederum die potentielle Win-Win-Situation. Eugenias amerikanischer Verehrer Acton ist reich und laut Ehearrangement kann sie bei einer Scheidung vom Prinzen den Titel Baroness behalten. Der europäische Adel trifft auf die amerikanische Finanzkraft. Erfrischend, dass James dieser auch im 20. Jahrhundert oft verwendeten und abgedroschenen Konstellation widersteht. Der Overkill der potentiellen Tripelhochzeit am Romanende weicht der immer noch mit genug Kitschpotential ausgestatteten Doppelhochzeit.

Felix, nicht adelig, unterscheidet sich weniger von seinen amerikanischen Verwandten. Spoiler Alarm: Er wird eine Amerikanerin heiraten und somit die Verbindung zu Amerika halten. Eugenia geht am Ende des Romans nicht auf die Avancen ihres amerikanischen Verehrers ein, sondern kehrt zu ihrem deutschen Prinzen zurück, obwohl dieser die Scheidung von ihr angestrebt hatte. Felix wird also amerikanisiert, was seiner Grundeinstellung und Haltung zu den Kontinenten entspricht. Er habe nur in Europa Elend gesehen, in Amerika niemals: „This is a paradise.“ (69) Umgekehrt ist Gertrude fasziniert von Felix‘ Leben, dessen Beschreibung ihr eine sowohl wunderbare als auch der Phantasie entsprungene Welt („fantastic world“, 71) vor Augen führt. Felix‘ Erfahrungsbericht erscheint ihr wie ein Fortsetzungsroman.

Der unterhaltsame Roman liest sich recht einfach und locker, was er vor allem dem vorherrschenden ironischen Ton verdankt. So heißt es über Eugenia: „Nothing that the Baroness said was wholly untrue.“ (53) Gerade diese Formulierung passt aber auch wieder in die Wahrnehmung der Europäerin durch die Amerikaner als anders, nicht zu ihnen gehörig, nicht vertrauenswürdig. Mr. Wentworth kann mit seiner Nichte wenig anfangen: „He was paralyzed and bewildered by her foreignness.“ (62) Sie ist fehl am Platz, wie Felix es wörtlich formuliert, der sie als „picture out of her setting“ bezeichnet (90). Sich selbst beschreibt sie als „wicked foreign woman“ (123).

Eugenias und Felix‘ geistreiche, oft lustige, bisweilen bissige Bemerkungen und ihre Vorliebe für Wortspiele sind Kennzeichen eines wichtigen Unterschieds, der im Roman zwischen Europäern und Amerikanern gemacht wird. Gertrude sagt einmal, sie nehme alles ernst. Felix und Eugenia dagegen nehmen nichts völlig ernst. Diese Charakterisierung wird auch zu James‘ Zeiten kaum zutreffend gewesen sein. Sie dient der Verstärkung des Kontrasts.

Die Sitten der jeweils anderen werden als ungewöhnlich und fremd wahrgenommen, zum Beispiel ist Gertrude irritiert von der tiefen Verbeugung ihres europäischen Cousins: „It was very strange.“ (25) Da heute weder in Europa noch in den USA Verbeugungen mehr üblich sind, ist dieses Unterscheidungsmerkmal nicht mehr relevant. Insgesamt findet sich im Roman wenig imagologisch Typisches für die Beschreibung der Europäer (und Amerikaner), es kommt hauptsächlich auf die oppositionelle Konstellation an, sowohl bei den Personen als auch Stellungnahmen. Passend zu Gertrudes Verwunderung über die europäische Verbeugung urteilt umgekehrt Eugenia später wegen Lizzie Actons Verhalten: „American girls had no manners.“ (86)

Henry James wurde in New York geboren. Zur Schule ging er in Genf, Paris, Boulogne und Bonn. Auch in späteren Jahren überquerte er den Pazifik immer wieder bald in die eine, bald in die andere Richtung. Den Amerikanern erklärte er die Europäer und den Europäern die Amerikaner seiner Zeit. War die europäische Identität Ende des 19. Jahrhundert stärker ausgeprägt als heute? Ich möchte behaupten: nein. Über die Aussage, dass Europäer eben nicht amerikanisch sind, geht der Roman kaum hinaus, sodass ich einer Antwort auf meine Anfangsfrage, was denn nun den „Europäer an sich“ ausmacht, nur bedingt nähergekommen bin. Mein Exemplar von „The Europeans“ habe ich übrigens in der georgischen Hauptstadt Tiflis in einem englischen Buchladen gekauft. Ist der Kaukasus europäisch, gehört Georgien zu Europa? Stoff für einen weiteren Roman: Reisen zwei Georgier in die USA…

Alle Seitenangaben nach der Ausgabe: James, Henry: The Europeans. London 1995.