„Oh Gott, ist es schon wieder soweit?“ – so oder so ähnlich fallen die Reaktionen meiner Freundinnen und Freunde aus, wenn ich sie nach ihren Einschätzungen frage, welches Land es dieses Jahr ins Finale, unter die Top 10, zum Sieg schafft. Was anderen als fünfte Jahreszeit wahlweise der rheinische Karneval, der Bremer Freimarkt, das Münchner Oktoberfest oder meinetwegen auch der Auftakt der Fußballbundesliga, ist für mich der ESC. 

Dass ich damit auch bei IES nicht die Einzige bin, zeigen die ebenfalls hier im Blog veröffentlichten Beiträge, z.B. zum Verhältnis von ESC und Politik.

Ich liebe die Eurovision-Vorbereitungssendungen im Mai und überbrücke den Nach-ESC-Blues zwischen Juni und April, indem ich mir die Lieder der vergangenen Jahre anhöre und ansehe. Zugegeben, darunter ist viel Schrott. Aber auch so mancher Schatz schlummert da und darf gehoben werden.
Zu diesem Behufe nun hier meine absolut geschmacksunabhängigen, subjektiven und nicht verpflichtenden TOP ESC-Beiträge ever!

1. Guildo Horn – Guildo hat euch lieb

1998, Deutschland, 7. Platz

Es gab eine Zeit, als der ESC noch Grand Prix hieß und die Frage, ob ein Musiktherapeut mit langen Haaren für Deutschland in Birmingham antreten sollte, auf der Titelseite der Bild-Zeitung diskutiert wurde. Das war die Zeit, die das zwischenzeitliche Ende einer Phase dramatischer Belanglosigkeit der deutschen Beiträge einläutete. Die Zeit, als sich Stefan Raab rotzfrech unter dem Alias „Alf Igel“ als Dirigent vor das damals noch vorhandene Studioorchester stellte, das dann gar nicht zum Einsatz kam, womit der absurden Nonsens-Auftritt noch um eine weitere groteske Note bereichert wurde.

Ich denk gern zurück an dieses Jahr, das mich für den ESC gewann. Hand aufs Herz, wer weiß ohne Blick in die Statistik ad hoc, welche Lieder Deutschland 1997, 1996, 1995 ins Rennen geschickt hat? Eben. Nun war die deutsche Schlagerwelle, die Mitte der 1990er auch Dieter Thomas Kuhn Erfolge bescherte, in voller paillettenbesetzter Selbstironie über den Grand-Prix-Altvorderen zusammengeschlagen. Guildo fegte kuhglockenläutend über die Bühne und das EBU-Europa wusste nicht, wie ihm geschah. Ein Spaß. Und für mich der Köder, mit dem ich mich angeln ließ. 1999 saß ich wieder am Fernseher. 2000 auch. Und 2001, 2002, 2003…  

Ref.: Guildo hat euch lieb
Und wenn’s auch mal Tränen gibt
Kommt er rüber und singt für euch Lieder
Guildo hat euch lieb

  

Es gab eine Zeit
Eine Zeit voller Zärtlichkeit
Da wurde „knuddeln“ und „knutschen“ und „lieben“
Immer groß geschrieben
Ich denk‘ gern zurück
An die Zeit voll Harmonie und Glück
Als ich täglich in ein Poesiealbum schrieb
„Piep, piep, piep, ich hab‘ dich lieb“

 

[Ref.]

 

In meiner kleinen Welt
In der der eine zum anderen hält
Und in der deine Tränen nicht lügen
Lernen Träume fliegen
Da wär‘ ich so gern
Wär‘ den Sternen nicht mehr all zu fern
Und von dort schick ich euch meinen Liebesbeweis
Nussecken und Himbeereis

 

Guildo hat euch lieb…

2. Koza Mostra & Agathon Iakovidis – Alcohol Is Free

2013, Griechenland, 5. Platz

Griechenland holt beim ESC gerne die Powerballade heraus, ist aber mit anderen Genres erfolgreicher. 2005 fuhr Helena Paparizou den ersten und bisher einzigen Sieg für Griechenland mit dem poppigen „My Number One“ ein. Beim ESC setzte Griechenland damit seinen Run fort, der 2004 mit der Austragung der Olympischen Sommerspiele in Athen und dem Sieg der Fußballeuropameisterschaft mit Trainer Otto „Rehakles“ Rehagel begonnen hatte. 

Nach Finanzkrise und Dauernegativnachrichten aus und über Griechenland war es 2013 umso schöner, fünf Jungs in Röcken und Turnschuhen über die Bühne wirbeln zu sehen, die dem in Würde ergrauten Volksmusiker im besten Sinne des Wortes Agathonas Iakovidis in ihrer Mitte ein verschmitztes Lächeln unter den Schnurrbart zauberten. Aus Eurovisionsicht machten sie mit dem englischsprachigen Titel und Refrain „Alcohol is free“ alles richtig und gute Laune. Der griechischsprachige Text hat es dagegen poetisch in sich. Auf allen Skalen von Dezibel über Promille bis hin zu Beaufort war das top und katapultierte Koza Mostra auf Platz fünf. Seither tourt die Band durch Europa und singt und tanzt und spielt und ist einfach nur grandios.

Μας βρήκε η τρικυμία μέσα στην Εγνατία
Μποφόρια μας τραβάνε στα ανοιχτά
Σα λάθος να ‘ναι η ρότα, ποιος παίζει με τα φώτα;
Κι η πλώρη μας τραβάει για Γρεβενά 

 

Σε μια θάλασσα ουίσκι
Ναυαγοί και ποιος μας βρίσκει
Και ζαλίζεται τρεκλίζει, όλη η γη

Με κεφάλι σουρωτήρι
Και τ’ αμάξι τρεχαντήρι
Ποιος του έβαλε πηδάλιο και πανί;

 

Alcohol, alcohol, alcohol is free

 

Κύμα και λυσσομανάει
Κι η γοργόνα να ρωτάει
Μα ο Αλέκος τα ‘χει πιει, καλή κυρά

  

Μεσοπέλαγα φανάρι
Ρε μας πήρανε χαμπάρι
Ποιος το πήγε το σπιτάκι μου μακριά, μακριά

 

[Wh. 1. Strophe]

 

Δε μας φταίγαν τα ουισκάκια

Μπόμπα ήταν τα παγάκια
Και το σκάφος έχει ρόδες, τελικά

  

Αλκοτέστ και τροχονόμος
Δεν είναι για μας τρόμος
Κατηφόρα μες στη θάλασσα, αρχινά

 

Alcohol, alcohol, alcohol is free

Der Seesturm erwischte uns mitten auf der Egnatiastraße
Der Wind trieb uns hinaus aufs weite Meer
Der Kurs ist irgendwie falsch, wer spielt mit dem Licht?
Und der Bug zieht uns Richtung Grevena

 

In einem Meer aus Whisky erleiden wir Schiffbruch, wer wird uns finden? Und die ganze Erde taumelt und schwankt

Der Kopf ein Sieb und das Auto ein Segelboot, wer hat Steuer und Segel angebracht?

 

 

Alcohol, alcohol, alcohol is free

 

Und das Meer tobt und die Nixe mag fragen
Aber Alekos ist betrunken, werte Dame

 

Inmitten des Meers ein Leuchtturm, hey, wer hat mein Haus so weit weggebracht, so weit? 

 

[Wh. 1. Strophe]

 

Es lag nicht am Whisky, die Eiswürfel waren Verschnitt
Und das Boot hat schließlich Räder

 

Alkoholtest und Verkehrspolizei schrecken uns nicht
Die Straße bergab beginnt mitten im Meer

 

Alcohol, alcohol, alcohol is free

3. Dima Bilan – Believe
2008, Russland, Siegerlied

Man kann sich Lieder schön hören. Beim ersten Mal mag ein Song nichtssagend wirken. Beim zweiten Mal kommt er einem möglicherweise angenehm vertraut vor, und beim dritten Mal singt und wippt man schon fröhlich mit.

So ähnlich erging es mir mit „Believe“. 2006 war Dima Bilan mit „Never Let You Go“ in Athen als Favorit in Athen angetreten und an den finnischen Monstern von Lordi mit ihrem „Hard Rock Hallelujah“ gescheitert. 2008 zog Russland deswegen alle Register, um sich von niemandem mehr vorführen zu lassen. Kleckern statt klotzen lautete die Devise. Auf einer künstlichen Eisbahn ließ sich Dima Bilan von Eiskunstlauf-Olympialegende Jewgenij Pljuschenko umrunden. Der Dritte im Runde, Violinist Edvin Marton, fiedelte auf einer echten Stradivari. Nur für einen Textautor mit Englischkenntnissen hat das Geld scheinbar nicht mehr gereicht. „I won’t let them put my fire out, without no!“ Was wollte uns der Dichter damit sagen? Egal, Dima Bilan riss sich das Hemd auf und lenkte mit dem Anblick seines entblößten Oberkörpers ESC-Europa vom fragwürdigen Liedtext ab. 

Beim ersten Sehen und Hören war mir die Inszenierung noch zu effekthascherisch dick aufgetragen. Zum zweiten Mal begegnete mir der Song, als ich den Auftritt mit Freunden für ein deutsch-russisches Brautpaar nachstellte. Das Ende vom Lied ist, dass ich den Text immer noch auswendig weiß und damit in Russland bei jedem Karaoke-Abend punkten kann. Russische Karaokeprogramme haben häufig eher wenige englischsprachige Angebote – aber „Believe“ ist immer dabei. 

Der Dreh mit der Geige hat übrigens im Folgejahr noch einmal geklappt, als sich Alexander Rybak mit „Fairytale“ für Norwegen den Sieg erfiedelte.  

Even when the thunder and storm begins
I’ll be standing strong like a tree in the wind
Nothing’s gonna move this mountain
Or change my direction
I’m falling off that sky and I’m all alone
The courage that’s inside gonna break my fall
Nothing’s gonna dim my light within

 

But if I keep going on
It will never be impossible, not today

 

Ref.: Cause I’ve got something to believe in
As long as I’m breathing
There is not a limit to what I can dream
Cause I’ve got something to believe in
Mission to keep climbing
Nothing else can stop me if i just believe
And I believe in me

 

Even when the world tries to pull me down
Tell me that I can’t, try to turn me around
I won’t let them put my fire out, without no!

 

But if I keep going on
It will never be impossible, not today

 

[Ref.] And I believe

I can do it all, open every door
Turn unthinkable to reality
You’ll see, I can do it all and more!

[Ref.] And I believe in me

4. Verka Serduchka – Lasha tumbai
2007, Ukraine, 2. Platz

Me English nix verstehn – alles klar? Ähnlich sinnfrei wie Stefan Raabs „Wadde hadde dudde da“ zwei Jahre zuvor kommt dieser Text daher in einem Auftritt, der ein Klischee nach dem anderen über Bord warf. Andrij Danylko quetschte sich in bester Crossdressingmanier dragqueen-like in einen silbernen Glitzerfummel und zeigte sich als Verka Serduchka als Trans von einem anderen Stern. Nicht ganz so weit waren noch 2002 die Herren von „Sestre“ im Stewardessen-Outfit mit „Samo ljubezen“ (Nur die Liebe) für Slowenien abgehoben und auf Platz 13 gelandet. 
Verka Serduchka setzte 2007 für die Ukraine ganz auf eingängigen Beat und Spaß auf der Bühne. Kein Wunder, dass ihr ikonischer Auftritt im ESC-Kosmos unvergessen blieb und Verka Serduchka als special guest und Pausen-Act immer wieder gern eingeladen wird. So geschehen etwa 2019 beim ESC in Israel, als bekannte frühere TeilnehmerInnen des ESC während der Abstimmungspause Songs switchten. Verka Serduchka sang Nettas Vorjahres-Siegertitel „I’m Not Your Toy„, Eleni Foureira (Zweite 2018 für Zypern mit „Fuego„) sang Verkas „Lasha Tumbai“.  Klang alles nach Party und Spaß und machte mir 2019 dieselbe gute Laune wie 2007. Merci vielmals.

Hello everybody, my name is Verka Serduchka
Me English, nix verstehn
Let’s speak dance

 

Sieben, sieben, ai lyu-lyu,
Sieben, sieben, eins, zwei
Sieben, sieben, ai lyu-lyu
Eins, zwei, drei [2x]
Tanzen!

 

Tantsevat horosho [Tanzen ist gut]
Gde ruki, ruki, ruki [Wo sind eure Hände?]

 

Tanzen!

I want to see: aha… [4x] I love you
I want to see Lasha tumbai [3x]

 

OK, hit the end

5. Will Ferrell, Rachel McAdams – Volcano Man

2020, Film „Eurovision Song Contest – The Story of Fire Saga“

Im Corona-Krisenjahr wurden viele Veranstaltungen abgesagt, verschoben oder nur digital angeboten: die Fußball-Europameisterschaft 2020 wird 2021 nachgeholt. Auch die Olympischen Sommerspiele finden ein Jahr später statt. Oktoberfestfreunde blieben 2020 auf dem Trockenen und müssen 2021 nach Dubai ausweichen. Der ESC 2020 fiel ebenfalls flach bzw. aus. Die Teilnehmerländer hatten vielversprechende Acts aufgestellt, allen voran Island (Daði Feyr – „Think about Things“), Litauen (The Roop – „On Fire“) und Russland (Little Big – „Uno“). Dann die Hiobsbotschaft: Der ESC in Amsterdam 2020 fällt aus. Die Ersatzshows sorgten auch nicht für Partystimmung. Der einzige Lichtblick war da Will Ferrells Netflixfilm „Eurovision Song Contest – The Story of Fire Saga“. Mit Starbesetzung (u.a. Pierce Brosnan) und unter Mitwirkung von ESC-SiegerInnen wie Conchita Wurst (Österreich 2014, „Rise like a Phoenix„) und Netta (Israel 2018, „I’m Not Your Toy„) spielt Ferrell den isländischen Träumer Lars Erickssong, der sich beim ESC lächerlich macht, aber am Ende doch das Herz seiner angebeteten Sigrit Ericksdottir gewinnt. Im Video für Lars‘ Lied „Volcano Man“ parodieren Ferrell und McAdams die typischen Moves, Textklischees und fragwürdigen Kostümentscheidungen, für die Fans den ESC lieben und Hater ihn verabscheuen. Beim Finalauftritt singen Lars und Sigrit dann mit „My Home Town“ ein anderes als das angekündigte Lied und werden für diesen Regelverstoß natürlich disqualifiziert. In ihrer isländischen Heimat werden sie dafür zu Helden. 

Im wahren Leben wurde – kein Scherz – „My Home Town“ 2021 in der Kategorie „Bestes Lied“ für den Oscar nominiert. Der ESC hat es geschafft: Hollywood – douze points.

 

 

Woke up at night
I heard floating chords
They guided me
To the highland fjords

 

Above the clouds
On a mountain peak
There he sat
And he began to speak

 

Volcano Man
He’s got my melting heart
Volcanic Protector Man
A timeless hero must love too

 

Volcano Man (Volcano Man)
Guarding the land (Such a man)
Volcanic Protector Man
A timeless hero must love too

 

And I love you