Lieber Timon,

ich als absolute Outsiderin finde deinen Einblick in die ESC-Fangemeinde äußerst spannend! Jedes Jahr aufs Neue verschlafe ich dieses für manche/n Europäer:in so bedeutende Musikevent. Erst am nächsten Morgen, wenn der Gewinnersong bereits zum fünften Mal im Radio läuft und enttäuschte Deutsche, das Telefon noch fest in der Hand, sich die letzten Tränen von der Wange wischen, merke ich – da war was! Ein Blick in die sozialen Medien und schon bin ich im Bilde, was sich am Vorabend in den europäischen Wohnzimmern abspielte. Große Emotionen, eher wenig Gesang und die Angespanntheit am Ende des Wettbewerbs, wer wohl dieses Jahr gewinnen wird.

Timon, ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber dein jährliches Lieblingsevent konnte mich bisher nicht überzeugen. Und trotzdem möchte ich mich nun ganz frech von außen einmischen, wenn du schreibst, ein grundsätzliches Politikverbot beim ESC sei aus deiner Sicht sinnvoll, da dies “die Grundidee, die verschiedensten Kulturen Europas an einem Abend im Jahr zusammenzuführen und mit allen ein unpolitisches Musikfest zu feiern”, schütze. Einspruch!

Dazu möchte ich zunächst fragen, was beim ESC überhaupt gefeiert wird. Ist es tatsächlich die Musik oder eher eine der Musik übergeordnete Form des friedlich-kompetitiven Verhältnisses zwischen den europäischen Staaten.

In deinem ersten Beitrag zum ESC (Der Eurovision Song Contest – Eine Einführung), bezeichnest du selbst den ESC als “Kulturgut Europas”. Inwiefern der ESC es bereits jetzt zum Kulturgut geschafft hat, kann ich schwer beurteilen. Mich beispielsweise hat diese Tradition noch nicht erfasst. Dennoch stimmt es, dass viele ESC-Begeisterte den Wettbewerb bereits seit Kindesjahren verfolgen, angestachelt durch Eltern, weitere Verwandte oder Freunde. So wird der ESC von Generation zu Generation, von Wohnzimmer zu Wohnzimmer weitergetragen.

Der ESC ist auch bekannt für seine politisch teils brisanten Botschaften, die diskret in Songtexten versteckt, in Kostümen verwebt oder auch abseits der Bühne geäußert werden. Wie du in deinem zweiten Beitrag der ESC-Reihe (Der Eurovision Song Contest und die Politik) erläuterst, stehen die jeweiligen Musiker:innen(-gruppen) häufig kritisch gegenüber ihrer eigenen nationalen politischen Führung. Ich finde es äußerst interessant, dass der portugiesische Sänger Paulo Cavalho mit seinem Beitrag 1974 maßgeblich das politische Geschehen beeinflussen konnte, bis es schließlich zum Putsch gegen die faschistische Regierung in Portugal kam. Und in diesem Sinne möchte ich mich für kritische Beiträge beim ESC aussprechen.

Der ESC ist ein Wettbewerb, veranstaltet von und für sämtliche Bürger:innen Europas. Wie du schreibst, gibt es sogar weltweit communities, die beim ESC mitfiebern. Das bedeutet, dass dieser Wettbewerb eine ziemlich große Reichweite hat. Diese Reichweite sollte genutzt werden! Der ESC bietet die Möglichkeit, jenen wortwörtlich eine Stimme zu verleihen, die ansonsten nicht zu Wort kämen, die vielleicht nicht der/den europäischen Mehrheitsgesellschaft(-en) angehören. Nur indem wir uns mit diesen Beiträgen auseinandersetzen, kann sich eine gesamteuropäische Solidarität einstellen. Es muss deutlich werden, dass nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleiche gesellschaftliche Aufmerksamkeit genießen, weil ihnen der offizielle Zugang fehlt. Musik bildet in diesem Fall den Zugang zur gesellschaftlichen Debatte als auch zur transnationalen Sichtbarkeit.

Musik nährt sich immer aus der Gesellschaft. Ohne gesellschaftliche Kontroverse, keine Musik. Na gut, es wird sich immer ein Mark Forster oder Wincent Weiss finden, der alltagstaugliche und unverfängliche “alles-ist-gut-wie-es-ist-Pop-Beats” produziert. Inwiefern das inspirierend sein soll, halte ich zumindest für fragwürdig. Musik wird ständig neu geformt und bedient sich hierbei zahlreicher Einflüsse, die gemeinsam einen neuen potenziellen Einfluss bilden. Insofern halte ich es für geboten, auch vermeintlich politisch motivierte Beiträge zu tolerieren. Sollten wir dies nicht tun, verdrehen wir eben jenen Grundgedanken des friedlichen, unvoreingenommenen Wettbewerbs. Denn diese Regelung kann von politischen Akteuren als Vorwand missbraucht werden, um ihnen schädliche, äußere Einflüsse zu mindern. So erging es eben jener von dir beschriebenen ukrainischen Sängerin, Jamala, im Jahr 2016. Auf Kritik russischer Seite hin wurde gefordert, ihren Auftritt zu verbieten, da das von ihr vorgetragene Lied Kritik am Stalin-Regime beinhalte. Der Antrag wurde jedoch zurückgewiesen.

Ich  halte es für wichtig hervorzuheben, dass der ESC in erster Linie von den europäischen Bürger:innen gestaltet wird – und nicht von Politiker:innen. Es zeigt sich, dass europäische Beziehungen eben nicht nur aus der politischen Komponente bestehen, sondern dass auf vielfältige Weise untereinander kommuniziert werden kann, so auch durch Musik.

Auch ich betrachte es als kritisch, wenn dieser Wettbewerb zur Zielscheibe politischer Instrumentalisierung wird. Zunächst sollen sowohl Zuschauer:innen als auch Musiker:innen einen schönen Abend genießen. Hinter diesem schönen Abend steckt jedoch wesentlich mehr. Wir entscheiden uns, wem wir an diesem Abend Aufmerksamkeit schenken, wie wir miteinander umgehen und schließlich, wie tolerant wir gegenüber neuen musikalischen wie auch gesellschaftlichen Beiträgen sind.

Letztendlich ist es schwierig zwischen Gesellschaft, Politik und Kultur zu differenzieren. Alles hängt miteinander zusammen. Was dem einen Ursache, ist dem anderen Wirkung.

Was ich aus diesem Beitrag schließe? Das ich mich nächstes Jahr pünktlich vor den Fernseher setze!

 

PS.: Ist es nicht irgendwie absurd, dass Europäer:innen, wie ich, sich teils weniger stark für eigene musikalische oder sportliche Events (siehe EM 2021) begeistern können, dafür aber Bewohner anderer, ferner gelegener Kontinente (siehe Australien oder China)?