Teil 2: „So lebt man heute in Moskau: Botschaft und Konsulat“

Insgesamt umfasst Hermann Pörzgens Band „So lebt man in Moskau“ (1958) 28 Texte. Auf alle werde ich nicht eingehen. In meinem dritten, abschließenden Blogbeitrag zu Hermann Pörzgens Moskau-Erinnerungen fasse ich meine Assoziationen zu ausgewählten Beiträgen zusammen und vergleiche die Ausführungen mit meinen Erfahrungen der Jahre 2018-2020.

 

„Alle wollen Akademiker werden“

„Akademiker“ ist ein besonderer Begriff, der so manche Falle bereithält. Im Deutschen ist damit ein Mensch mit Hochschulabschluss gemeint. Im Russischen ist ein „академик“ dagegen ein Mitglied der Akademie, also Teil einer kleinen intellektuellen Spitzengruppe (von der Idee her). Wenn man dagegen in Polen von „akademik“ spricht, geht es rasch um Stockbetten und Gemeinschaftsduschen, denn hier heißt „akademik“ Studentenwohnheim. Missverständnisse sind vorprogrammiert.

„Etwa acht Millionen Menschen in der Sowjetunion sind bereits Abiturienten. Der bevorstehende Massenansturm auf die Hochschulen muß naturgemäß dem einzelnen erschweren, seiner Neigung und Begabung entsprechend zu studieren.“ (S. 50)

In Russland geht heute der Großteil jedes Schuljahrgangs zum Studium an eine Universität. Die „Erstis“ sind dabei ein gutes Stück jünger als in Deutschland, da nach 11 Jahren Schule Schluss ist. Zum Ausgleich dauert ein Bachelorstudium vier Jahre, sodass am Ende des BA-Studiums der Altersunterschied wieder aufgehoben sein könnte – käme nicht noch dazu, dass die Studierenden in Russland im Gruppenverbund studieren und es eher die Ausnahme ist, dass jemand länger als die vorgegebenen vier Jahre für sein Studium in Anspruch nimmt.

„Die Moskauer Damenfriseure klagen, daß es in ihrem Beruf absolut keinen Nachwuchs gäbe, obschon sie zu den besten Verdienern gehören.“ (S. 52)

In diesem Punkt hat sich die Situation nun aber doch grundlegend geändert. Mit Haareschneiden wird man in Moskau heute nicht reich, aber die Nachwuchssorgen der Branche gehören der Vergangenheit an. In Wohn- und Einkaufsgebieten gleichermaßen gibt es alle Nase lang einen „Salon krasoty“, also einen Schönheitssalon, wo auch alles rund um die Frisur zu den angebotenen „prozedury“ gehört. Einmal sprach mich auf offener Straße eine Passantin an, ob ich ihr nicht einen Friseursalon empfehlen könnte. Eine spezielle Empfehlung hatte ich nicht, aber auf der anderen Straßenseite gab es gleich einen. Ich habe mich nur gewundert, warum sie ausgerechnet mich angesprochen hat. Entweder fand sie, dass mein Äußeres dergestalt ist, dass ich die Dienste der Schönheitssalons regelmäßig in Anspruch nehme – oder sie meinte umgekehrt, dass ich das lieber mal tun sollte.

 

„Entproletarisierung“ 

„Schönheitspflege, kosmetische Chirurgie, der Maßanzug, … Wohnkultur […] machen niemanden mehr verdächtig. Die kollektive Führung ermuntert durch ihr Vorbild das Streben nach einem gewissen Komfort.“ (S. 55/56)

Vollkommen unbeabsichtigt und reiner Zufall, aber doch liest sich diese Stelle nach dem Nawalny-Video über Putins Palast mehr als treffend. Im August 2020 wurde der russische Oppositionelle Alexei Nawalny in Russland vergiftet. Seine Familie konnte durchsetzen, dass er in Deutschland behandelt wurde. Kaum war er genesen, kehrte er im Januar 2021 nach Russland zurück und wurde gleich bei der Einreise verhaftet. Einen Tag darauf, am 19. Januar 2021, ging sein Video „Ein Palast für Putin“ online, in dem Nawalny die laut Untertitel „Geschichte der größten Bestechung“ rund um ein Luxusanwesen am Schwarzen Meer aufdeckt.

Obwohl, reiner Zufall? Auch über die Luxussucht der sowjetischen Staatsführung ist manches bekannt, worauf Hermann Pörzgen mit seinem Zitat anspielen mag. Wo damals zwischen den Zeilen gelesen werden musste, ist man heute sehr direkt – zumindest einige sind es – zumindest derzeit noch.

„Verplantes Gesundheitssystem“

„Neuerdings werden Maßnahmen gegen die auch im Sowjetlande aufgetauchte „Asiatische Grippe“ ergriffen. Es gelang, die am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen rechtzeitig mit neuentdeckten Impfstoffen zu versorgen.“ (S. 91)

Absolut aktuell. Als Corona ausbrach, mussten wir an der RGGU (Rossijskij Gosudarstvennyj Gumanitarnyj Universitet, Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität) mitten im laufenden Semester auf Onlinelehre umstellen. Eine meiner Master-Studentinnen erzählte mir, dass sie neben einer Notaufnahme wohne und sich dort täglich die Krankenwagen stauten. Nach kurzer Zeit wich sie auf die Datscha aus und genoss dort Natur und die Gesellschaft ihres Hundes. Videos über katastrophale hygienische Zustände in Provinzkliniken gingen viral. Listen mit verstorbenen Ärzten und Pflegekräften erschienen online.

Ich wollte auf gar keinen Fall in die Verlegenheit kommen, mich in ein Krankenhaus begeben zu müssen. Kurzfristig beschloss ich deshalb, nach Deutschland abzureisen. Den Wohnungsschlüssel nahm ich mit, in der naiven Annahme, in ein paar Wochen sicher zurückkommen zu können.

Über ein Jahr später schulde ich meinem Vermieter immer noch den Schlüssel. Meine restlichen Klamotten stehen in Umzugskartons bei einem Kollegen, der sie allmählich auch gern loswürde.

Mein Abschied aus Moskau war abrupt und die unvorbereitete Ausreise beschäftigt mich noch immer.

 

„Die russische Zeit“

“Für jedes Land Europas gilt eine der geographischen Lage mehr oder minder entsprechende Einheitszeit.” (S. 131)

Deswegen hatte ich gedacht, wenn ich meine Studierenden im Deutsch-Sprachkurs frage, wie viele Zeitzonen Russland hat, bekomme ich eine klare Antwort. Falsch gedacht. Mit meiner Aufgabe löste ich eine intensive Diskussion aus, weil nach all den Zusammenlegungen und erneuten Trennungen von Zeitzonen niemand mehr sicher war, was inzwischen galt.

Kein Wunder und nur zu sinnvoll, dass man weiter die Moskauer Zeit als Referenz nimmt. Auch da gibt es noch eine internationale Stolperstelle, weil Russland den Wechsel zwischen Sommer- und Winterzeit nicht mehr vornimmt. Wenn in Deutschland Sommerzeit herrscht, gibt es deswegen aktuell eine Differenz von plus einer Stunde zu Moskau, bei Winterzeit sind es plus zwei Stunden. Alle Angaben ohne Gewähr.

 

Wie reist man in die Sowjetunion?“

“Der Flug von Schönefeld nach Moskau nimmt etwa sieben Stunden in Anspruch, eingerechnet eine Stunde Aufenthalt an der sowjetischen Grenz- und Zollstation Wilna, wo man im Flughafenrestaurant ein Gratis-Mittagessen: roten Kaviar, Huhn mit Reis usw. erhält.“ (S. 144)

Die Zeiten sind tatsächlich endgültig vorbei, durch Änderungen auf beiden Seiten. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr, Vilnius ist Hauptstadt des EU-Mitgliedstaats Litauen, Flüge von Deutschland nach Moskau gehen direkt und dauern etwa drei Stunden. Ich bin ein paarmal von und nach Berlin Tegel geflogen, auch meine endgültige Rückreise 2020 führte dorthin. Inzwischen ist auch Tegel Geschichte, dafür ist der Flughafen Berlin-Brandenburg nach gefühlt 100 Jahren Bauzeit in Betrieb genommen worden – mitten in der Hochphase der Corona-Pandemie, als Fliegen ohnehin kaum möglich war. Verrückte Zeiten.

„Nachwort“
“Der Verfasser hofft, daß er in Zukunft noch Gelegenheit findet, auch andere wichtige Eindrücke festzuhalten, die er im Augenblick dem Leser nicht vermitteln kann.” (S. 156)

Es sind eher Themen des Alltags, und auch da eher leichte, über die Hermann Pörzgen in den 1950er Jahren für seine westdeutsche Leserschaft berichtet. Es geht in seinen Reportagen nicht um Lebensmittelknappheit, nicht um Schlangestehen, Nachwirkungen des Terrors, Auswirkungen des Krieges. Stattdessen herrscht ein heiterer, unverbindlicher, leicht ironischer Ton. Weiter fehlt alles Politische.
Hermann Pörzgen beobachtete genau, was um ihn herum vor sich ging, ihm waren aber enge Grenzen gesetzt. Kein Vergleich zu meinem Aufenthalt von 2018 bis 2020 in der russischen Hauptstadt, in der ich tolle Kolleginnen und Kollegen, intelligente Studierende und auch einige Freundinnen und Freunde kennenlernte. Als DAAD-Lektorin hatte ich eine gewisse Narrenfreiheit, was die Gestaltung meiner Kurse anging, was sehr angenehm ist. Im Kampf mit der russischen Bürokratie unterstützten mich die Kolleginnen am Lehrstuhl nach Kräften. In meiner Freizeit erkundete ich Parks und Kirchen, Museen und Theater, Kinos und Kneipen, stattete auch Lenin in seinem Glassarg einen Besuch ab und fand in der Metropole Moskau meine Ecken. Mir ist die Stadt ans Herz gewachsen. Umso mehr empfinde ich einen Zwiespalt und persönliches Bedauern, wie die politische Krise zwischen Russland und der EU sich weiter verschärft. Wenn ich Menschen ohne Osteuropabezug erzähle, wie toll es für mich in Russland war, in Uljanowsk und Moskau, stempeln sie mich mental als KGB-Zuträgerin ab (und ja, ICH weiß, dass der Geheimdienst so nicht mehr heißt).
Mein Moskauer Leben war privilegiert und ich habe mich natürlich auch in einer „Bubble“ bewegt. Die Freundschaften sind dadurch nicht weniger real.
Vermisse ich Moskau?
Nein. Ich vermisse MEIN Moskau.

Lenin in Moskau nicht zu begegnen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Auch 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion blickt er von unzähligen Statuen und Tafeln weiter forsch der Zukunft entgegen und prägt damit das Stadtbild. Beim Lenin-Mausoleum gibt es allerdings Änderungen. Die Öffnungszeiten wurden deutlich verkürzt, die Ehrengarde am Tor zum Allerheiligsten der Sowjets abgezogen. Man munkelt, möglicherweise werde die knapp einhundertjährige Leichenschau beendet und Lenin beigesetzt. Die Kommunisten in Uljanowsk fordern schon länger, man solle endlich Lenins Wunsch nachkommen und ihn neben seiner Mutter in seiner Geburtsstadt Uljanowsk (bis 1924 Simbirsk, dann zu Ehren von Vladimir Ilitsch Uljanow, Deckname Lenin, umbenannt und anders als St. Petersburg-Petrograd-Leningrad-St. Petersburg weiter stolze Trägerin des sowjetischen Namens) beisetzen.
Im Mausoleum ist das Fotografieren weiter verboten. Erlaubt, wenn nicht gar erwünscht war es aber in der Ausstellung des Konzeptualisten Pawel Pepperstein (Museum „Garage„, 2019), der seiner lebensgroßen Lenin-Nachbildung zur Gesellschaft gleich noch eine ebenso große nackte Barbiepuppe mit in den Schneewittchensarg gelegt hat.