Die Zeit nach dem Schulabschluss war für mich pure Überforderung. Gedanken nach dem Muster “Ich bin jetzt frei, jung und unschlagbar” wechselten sich ab mit einem schlichten “Und jetzt?”. Nun gibt es unterschiedliche Arten diese Frage anzugehen. Manche gehen direkt über zu Ausbildung oder Studium, andere reisen um die Welt. Und am Ende steht immer wieder ein “Und jetzt?”.

Am Ende dieses Artikels berichten Leon und Berceste, wie sie bei den Integrierten Europastudien in Bremen gelandet sind. Für alle, die nachwievor ahnungslos von Hochschulwebsite zu Hochschulwebsite scrollen, erkläre ich jedoch zunächst einmal, was IES eigentlich ist, also wie das Studium aufgebaut und inhaltlich gestaltet ist.

Der sperrige Name “Integrierte Europastudien” betitelt einen Bachelorstudiengang an der Universität Bremen. Mein Jahrgang, Start Wintersemester 2020/21, zählt ca. 35 Studierende, eine vergleichsweise kleine Truppe. Das Studium teilt sich in zwei Perspektiven bzw. Fachrichtungen – Politikwissenschaft und Kulturwissenschaft. Ab dem zweiten Semester muss ein Schwerpunkt gesetzt werden, durch die Wahl von Vertiefungsseminaren beziehungsweise -vorlesungen in einem der beiden Sachgebiete.

Innerhalb der politikwissenschaftlichen Module befassen wir uns vorrangig mit der Europäischen Union als politisches Konstrukt. Es gilt Grundlagen zu erwerben und anzuwenden. Dazu zählt die Kenntnis populärer Theorien, welche als Blickwinkel auf bestimmte Prozesse fungieren. Begleitend erhalten Studierende Einblick in das methodische Vorgehen von Politikwissenschaftler:innen. In der Vorlesung “Einführung in die Europäische Integration” wird sich vorrangig mit folgenden Fragen auseinandergesetzt: Aus welchen Institutionen besteht die EU? Wie agieren diese? Welche Interessen verbergen sich hinter sämtlichen Handlungen? Im Rahmen der Vorlesung “Methodologien, Forschungsdesigns und Forschungsmethoden” befassen wir uns mit fundamentalen Techniken politikwissenschaftlicher Forschung. Wie generieren wir Wissen? Ist es möglich eigene Erkenntnisse auf andere Sachverhalte zu übertragen? Und warum ist Erkenntnis nie endgültig? So oder ähnlich lauten maßgebliche Fragestellungen. Diese zwei Vorlesungen in Kombination konnten mich persönlich sehr begeistern, zumal mir die EU zwar immer präsent, aber wenig durchschaubar erschien. Reale Schlagzeilen ergeben mehr Sinn, wenn man weiß, welchen Entscheidungen welche Prozesse zugrunde liegen. Entgegen sämtlicher Erwartungen musste ich des Weiteren feststellen, dass methodische Fragestellungen ebenso spannend sind. Fortan mit den Attributen “ontologisch” und “epistemologisch” zu jonglieren, kann Spaß machen.

Die kulturwissenschaftlichen Module umfassen eine Vorlesung und zwei Seminare. Inhaltlich wird sich in der Vorlesung  “Europäisches Gedächtnis im 21. Jahrhundert” mit Schlüsselereignissen junger europäischer Geschichte befasst, darunter selbstverständlich der 1. und 2. Weltkrieg. Die theoretische Basis des Studiums bildet eines der beiden Seminare, in dem Studierende Grundlagen der modernen Gedächtniswissenschaft kennenlernen. Hierfür zentral  ist der Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Frage “Wie erinnern wir uns und warum ist das wichtig, auf persönlicher, wie auch auf gesellschaftlicher Ebene?” umschreibt den Ausgangspunkt weiterer Fragestellungen recht treffend. Medien beispielsweise “speichern” Erinnerungen. Dies wird in dem weiteren Seminar thematisiert. Es wird über Bücher und Filme gesprochen, welche historische Ereignisse literarisch bzw. filmisch “speichern”, um sie anderen Personen, auch Nicht-Zeitzeug:innen zugänglich zu machen. Diesem Kontext nach wird anschließend diskutiert, inwiefern es möglich ist, Geschichte neutral darzustellen, oder ob jegliche Reproduktion von Vergangenheit auf jene Weise subjektiv-selektiv ist, dass sie nicht mehr authentisch sein kann. Diese Veranstaltungen komprimieren sechs Jahre Geschichtsunterricht. Neben deutscher Geschichte wird sich auch mit französischer, spanischer, italienischer, polnischer sowie russischer/sowjetischer Vergangenheit beschäftigt, vor dem Hintergrund globaler wie auch europäischer Konflikte. Mich hat es fasziniert, wie diese vermeintlich vergangenen Konflikte nachwievor unsere aktuelle Gegenwart prägen. Hierzu gilt es auch die gesamteuropäische Vergangenheit zu betrachten sowie zu hinterfragen. Schließlich ist unsere heutige europäische Perspektive nachwievor maßgeblich geprägt durch alte Machtstrukturen. Bewegungen wie “Black Lives Matter” veranschaulichen dies nur allzu gut und fordern eine kritische Auseinandersetzung mit Europas Vergangenheit als Kontinent der Kolonialmächte .

Der Name des Seminars “Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens” umschreibt bereits treffend, welche Kompetenzen hier erlangt werden sollen. Ziel ist es, bis zum Ende des ersten Semesters eigenständig eine Hausarbeit zu verfassen. Aus eigener Erfahrung kann ich nur berichten, dass dies gar nicht so einfach ist. Die Themenfindung beansprucht Zeit, ebenso die Recherche. Das eigentliche Schreiben ist, dank guter Vorarbeit, einfacher.

Den gesamten Studienverlaufsplan, also auch, was nach dem ersten Semester folgt, findet ihr hier.

Im ersten Semester werden 24 “Credit Points” durch die studiengangspezifischen Module abgedeckt (jeweils 9 für KuWi und PoWi, 6 für TWA). Um den Bachelor innerhalb der vorgegebenen Regelstudienzeit von sechs Semestern zu absolvieren, müssen jedes Semester 30 CP erarbeitet werden. Die in diesem Fall übrigen sechs CP können als “General Studies” fächerübergreifend, frei nach Interesse erlangt werden. So habe ich beispielsweise ein Seminar zum “Anthropozän” belegt. Dieses neue Forschungsfeld ist ohnehin interdisziplinär angelegt und für so ziemlich jedes Studium, ja gar unser aller Zukunft relevant.

Später im Studium, zum 2. Semester, gilt es für drei Semester einen Fremdsprachenkurs zu belegen. Es werden die Sprachen Spanisch, Französisch, Russisch und Polnisch angeboten, wobei eventuelle Vorkenntnisse miteinbezogen werden können, je nachdem welches Sprachniveau anvisiert wird (A1/2, B1/2…). Der Sprachkurs entspricht einer Leistung von 6 CP.

Selbstverständlich sollen erworbene Kenntnisse auch erprobt und erweitert werden, im Rahmen des im Curriculum verankerten Auslandssemesters beispielsweise. Partneruniversitäten finden sich in ganz Europa, teils auch außerhalb Europas. Vor dem Auslandssemester, im 4. Semester, soll ein achtwöchiges Praktikum absolviert werden, Standort beliebig. Weitere Informationen oder auch Erfahrungsberichte finden sich auf der IES Website.

 

Doch wie studiert es sich tatsächlich? Das zu erfahren ist momentan schwer – online. Dennoch haben sich zwei meiner Kommilliton:innen bereit erklärt, mir zu erzählen, wie sie darauf gekommen sind IES zu studieren, was sie vorher gemacht haben und was ihnen am Studium gefällt beziehungsweise nicht gefällt.

Leon ist 20 Jahre alt und hat sich vor dem IES-Studium bereits anderweitig orientiert.

Nach dem Abi habe ich mich direkt für ein duales Studium beworben, im Bereich Public Health Management in Rotenburg. Nach weiterer Bedenkzeit habe ich mich dazu entschlossen, den Platz abzulehnen – zu viele Zahlen! Daraufhin habe ich mich für Jura eingeschrieben und musste nach einem Jahr Studium merken, dass auch das nichts für mich ist. Und nun studiere ich IES. Mir gefällt die interdisziplinäre Struktur des Studiums. Ich kann mich beispielsweise dazu entscheiden, einen Weg in Richtung Wirtschaft einzuschlagen oder bereits auf einen spezifischen Master hinzuarbeiten. Die General Studies bieten einem da viel Spielraum, was man bei Jura anfangs nicht hat. Bisher stört mich nichts am IES-Studium. Nur, dass ich ständig Angst habe zu vergessen mich irgendwo anzumelden… aber das ist wohl ein allgemeines Uni-Phänomen! Perspektivisch würde ich mich gerne auf Menschenrechte spezialisieren, in Richtung UN vielleicht. Aber das halte ich mir noch offen.”

Auch Berceste, 21 Jahre alt, hat sich erst einmal Zeit genommen, um ihren Interessen nachzuspüren:

„Nach dem Abi hatte ich noch keine konkrete Vorstellung, was nun folgen sollte. Kunst war eine Idee, in Richtung Grafikdesign, andererseits auch Soziale Arbeit oder Lehramtsstudium. Was Ausbildungsplätze betrifft, habe ich mich im Gesundheitswesen umgeschaut. Schließlich habe ich dann ein Praktikum im Krankenhaus gemacht. Während der Zeit im Krankenhaus habe ich gemerkt, dass ich mich gerne sozial engagiere. Dennoch hat mir die Theorie gefehlt. Es ist zwar toll, im direkten Kontakt mit in diesem Fall Patient:innen zu stehen, kognitiv aber wenig abwechslungsreich. So habe ich das zumindest wahrgenommen. Meine Neugierde hat mich dann zu IES geführt. Geschichte hatte ich bereits als Schwerpunkt in der Schule, Politikwissenschaft war für mich dafür umso neuer. Die Mischung aus Kultur, Politik, und Sprache, alles im Europakontext, klang super spannend. Ich finde es toll, diesen Alltagsbezug zu haben. Wenn irgendwo die Nachrichten laufen und die EU erwähnt wird, höre ich sofort genauer hin. Ebenso geht es mir mit Statistiken, die einem tagtäglich begegnen, und die ich so vorher nie wahrgenommen habe. Auch der Kontakt zu den Dozent:innen ist bei IES besonders. Es gibt klare Ansprechpartner:innen, bei denen man stets Gehör findet. IES hat mich auch überzeugt, weil ich meinen eigenen Schwerpunkt setzen kann und trotzdem breit aufgestellt bin. Ich halte mir noch offen, was ich mit dem Bachelor anfange, aber momentan tendiere ich dazu, danach einen Master zu machen. Ich würde mir wünschen später vielleicht als Analystin in der EU zu arbeiten oder sogar nach Möglichkeit in die Forschung zu gehen. Bloß Politikerin möchte ich keinesfalls werden! Das einzige, was mich zur Zeit stört, ist das Online-Studium. Es ist schade seine Kontakte, wenn überhaupt, über Zoom zu pflegen. Und natürlich wäre ich gerne mal an der Uni. Hoffentlich klappt das zum nächsten Semester!“