Das offensichtlich geringe Interesse sowohl des schweizerischen Staates als auch der Europäischen Union an der historischen Aufarbeitung des Mosaiks europäischer Erinnerungsorte in Locarno wird nicht zuletzt in der offiziellen Ausstellung zu den Locarno-Verträgen erkennbar, die im städtischen Museum untergebracht ist. Dieses wurde im repräsentativen, ab dem Ende des 15. Jahrhunderts erbauten Castello Visconteo untergebracht, das man über einen arkadengeschmückten Innenhof betritt.
Hier wird die Nähe zur Lombardei spürbar: Der rustikale Renaissancestil des Castello Visconteo hat die Jahrhunderte überdauert. Umgeben ist das Castello von den mit Schnee bekränzten Tessiner Alpen.
Auch hier kann derjenige die Suche aufgeben, der nicht über eine Internetverbindung oder einen besseren Reiseführer verfügt. An keiner Stelle wird auf eine Ausstellung zu den Locarno-Verträgen verwiesen. Erst das Museumspersonal zeigt beim hauseigenen Plan auf einen Raum, der jene Ausstellung beherbergen soll. Diesen zu finden gestaltet sich jedoch schwerer als erwartet. Die Gänge des Castello müssen bis zum letzten Raum durchquert werden, wo der Besucher auf einen modernen Ausstellungsraum trifft. Im Zentrum wird eine papierne Litfaßsäule beleuchtet, deren gesamte Fläche von collageartig zusammengestellten Zeitungsausschnitten anlässlich der Locarno-Verträge eingenommen wird. An der dahinterliegenden Wand eine überlebensgroße Reproduktion einer historischen Aufnahme, die wesentliche Delegierte der Verhandlungen zeigt.
Der Ausstellungssaal zum „Patto di Locarno“ gibt sich modern. Eine gelungene didaktische Aufarbeitung für ein internationales Publikum kann er jedoch nicht versprechen.
Eine weitere Kuriosität des kleinen Ausstellungsraumes: Anlässlich des Abschlusses der Verhandlungen wurden die Unterschriften sämtlicher Delegierter in das goldene Pendel eine Wanduhr eingraviert. Ebenso wie das Gestühl wurde sie aus dem Palazzo del Pretorio genommen, um als Exponate zukünftigen Generationen erhalten zu bleiben. Ob sie im Castello Visconteo einen würdigen Platz gefunden haben, ist zweifelhaft.
Davor und an allen Seitenwänden verteilt nussbraune Stühle, deren verschlissenes Polster aus dem vorherigen Jahrhundert zu sein scheinen. Und tatsächlich handelt es sich um dasjenige Gestühl, welches 1925 von den Delegierten im Palazzo del Pretorio genutzt wurde. Abgesehen vom modernen Charakter der Ausstellung und jenen Kuriositäten spricht jedoch nichts von einem internationalen Publikumsmagneten. Auch nicht vom Willen, ein solcher zu werden. Sämtliche Ausstellungstexte sowie Erläuterungen zum Kartenmaterial sind ausschließlich in italienischer Sprache gehalten. Auch der zusammenfassenden Darstellung des städtischen Friedensweges ist das Italienische vorbehalten. Kann in einer derartigen Weise an ein historisches Datum erinnert werden, das mit der Geschichte so vieler europäischer Nationen verbunden ist?
Möglicherweise ist der „Geist von Locarno“ dem Bewusstsein der Mehrheit an Europäern entschwunden. Vielleicht ist er für einige auch nicht mehr als ein Lichtfunke, der im dunklen Zeitalter der Zerstörung des Zweiten Weltkrieges unterging. Gleichwohl könnte die gelebte Erinnerung an die Locarno-Verträge in diesen Tagen eine zusätzliche Hilfe sein. Eine Hilfe für den Glauben an Europa.