Aus dem kristallblauen Wasser des Lago Maggiore erheben sich die Bergmassive des Tessins. Bis heute ist die idyllische Atmosphäre Locarnos erhalten geblieben, die einst die Delegierten der Verhandlungen um ein friedliches Nachkriegseuropa umgab.
Zusammen mit den weitreichenden politischen Folgen müssten die Verträge von Locarno heute einen herausragenden Platz im transnationalen Gedächtnis Europas einnehmen. Schließlich handelt es sich um einen lieu de mémoire, ganz im Sinne des französischen Historikers Pierre Nora, „in der dreifachen Bedeutung des Worts, im materiellen, symbolischen und funktionalen Sinn“. Die symbolische Bedeutung lässt sich unmittelbar am „Geist von Locarno“ erahnen, mit welchem die paneuropäischen Ideen der 1920er Jahre zusätzlich beflügelt wurden. Seither symbolisieren die Verträge von Locarno die Vision eines im Frieden geeinten Europas. Hieraus erschließt sich seine funktionale Beschaffenheit, denn die Erinnerung an die Verträge von Locarno ist zugleich ein Appell. Ein Appell an die heutige europäische Gesellschaft, dem Geist ihrer Gründerväter zu folgen. Symbolik und Funktion dieses Gedächtnisortes manifestieren sich in der schriftlichen Fixierung der Locarno-Verträge. Doch auch das heutige Ortsbild Locarnos müsste eine materielle Dimension dieses Gedächtnisortes darstellen. Mit dem „Patto di Locarno“ im Zusammenhang stehende Gebäude, Straßen und Plätze würden sich zur visuellen Erfahrung von Erinnerung eignen – einer lebendigen Erinnerung, die schließlich zu einem festen Bestandteil der heutigen Gesellschaft werden könnte.
Bis heute wird die Stadt als „città della pace“ bezeichnet – als „Stadt des Friedens“. Vielversprechend klingt dieser symbolische Beiname Locarnos. Doch inwieweit wird ihr Ortsbild diesem für ein modernes Europa so bedeutsamen Erinnerungsort gerecht? Erst eine Erkundung Locarnos kann diese Frage zufriedenstellend beantworten.
Das offizielle Logo Locarnos für seine Initiativen einer Aufarbeitung der Locarno-Verträge. Markenzeichen der Stadt?
Mehr durch Zufall erspäht das Auge des interessierten Besuchers den städtischen „percorso della pace“. Angelegt vom Gemeindekreis Locarno, entschlüsselt dieser „Friedensweg“ bedeutsame, mit den Verträgen von Locarno verbundene Erinnerungsorte. Elf nur wenig auffallende Erläuterungstafeln verweisen auf Gebäude, Straßennamen und Parks von Locarno und den Nachbarorten Ascona, Minusio und Muralto. Ohne auf die offizielle Internetseite des Erinnerungsprojektes zurückzugreifen, ist eine Orientierung schier unmöglich: Weder Straßenkarte noch Verweise auf folgende Tafeln verschaffen dem Besucher ausreichend Orientierung, um den Friedensweg vollständig begehen zu können.
Beginn des „Friedensweges“: Die heutige „Via della Pace“ Locarnos, deren Palmen und Kamelien noch heute eine Hommage an das „Nizza der Schweiz“ darstellen
Der Friedensweg beginnt dort, wo sich vom Seeufer des Lago Maggiore bis zur Piazza Grande die von Palmen und Kamelien gesäumte Allee erstreckt. Ihre Bepflanzung ist einer von vielen Überresten der „goldenen Zeit“ Locarnos, als sich die Stadt selbst mit dem Beinamen „Nizza der Schweiz“ zu rühmen pflegte. Ursprünglich „Via delle Palme“, trägt die Prachtallee Locarnos seit Abschluss der Verhandlungen 1925 den Straßennamen „Via della Pace“. Hinter dem Straßenschild befindet sich schließlich die erste Informationstafel, die über die Gründe für die Umbenennung aufklärt: Einige hundert Meter entfernt wird das im eklektischen Stil 1908 erbaute Gerichtsgebäude erkennbar. Hier, im „Palazzo del Pretorio“, fanden die offiziellen Verhandlungen zwischen den Abgeordneten statt.
Auf der Hälfte des Weges sind die ersten Anhöhen der Gemeinde Locarnos erreicht, die sich gleich Terrassen an das bergige Umland schmiegen. Dem Wasser zugewandt, blickt man hinunter auf die Neustadt, wo stilvolle Altbauten der 1920er Jahre von modernen Hochbauten und Wohnungsblöcken umgeben sind. Dahinter die Uferpromenade mit ihren teilweise traditionsreichen Restaurants und Cafés. Vor diesem Panorama zeichnet sich die rosafarbene Fassade der „Grande Albergo Locano“ ab. Erbaut in den späten 1870er Jahren im Stil der Belle Époque, beherbergte es stets die Haute Société der nach Locarno Angereisten. Davon zeugt bis heute die Inneneinrichtung. Über mehrere Stockwerke erstreckt sich ein Kronleuchter aus Murano-Glas, dessen Licht die Halle des Grand Hotels erfüllte. In den von kostbaren Spiegeln überzogenen Wänden reflektiert das in die breiten Fensterfassaden einfallende Sonnenlicht. Sein Renommee erhielt das Grand Hotel nach dem Zweiten Weltkrieg, als es zum Veranstaltungsort des Internationalen Filmfestivals von Locarno auserkoren wurde.
Mc Donald’s trifft auf Grand Hotel: Einzig ein Zaun trennt die Außenbänke des Schnellrestaurants von der Grünanlage des heute verlassenen Grand Hotels
Die bereits vom Rost angegriffene, blätternde Informationstafel erläutert dem Besucher, dass im Grand Hotel der Stadt die Delegationen Italiens, Englands, Belgiens und Frankreichs untergebracht waren. Hier waren es Gespräche „zwischen den Türen“, die den offiziellen Verhandlungen im Palazzo del Pretorio neue Anstöße gaben. Heute lässt sich die historische Bedeutung der Grande Albergo von außen nur noch erahnen. Denn seit dem Jahr 2006 sind die Pforten des Hotels geschlossen. Einfache Holzplatten versiegeln einzelne Fenster und Türen des Erdgeschosses, Putz und Zierornamente lösen sich von der Außenfassade. Im Inneren jedoch hängt weiterhin der über allem schwebende Murano-Leuchter, stehen gestapelt die Kristallgläser und das Silberbesteck von einst. Bis heute wurde kein Investor gefunden, der bereit war, auf einen Kaufpreis von über 20 Millionen Franken einzugehen. Weder die Gemeinde Locarno noch das Kanton Tessin haben sich bisher dazu bereit erklärt, zur Erhaltung und öffentlichen Begehung dieses für Europa wichtigen Erinnerungsortes beizutragen.
Guten Tag.
Ihr Artikel ist so ein wichtiger Beitrag zu diesem Thema: Frieden in Europa und die weiteren Beteiligten Nationen. Ich meine die festgefahrene Situation in der Ukraine.
Mag es doch kleine Versuche von Verhandlungen geben, die noch nicht zu einer Veränderung führen.
Was mir ganz besonders in Ihrem Bericht auffiel sind zwei Tatsachen. Die Delegierten verschiedener Nationen treffen sich und für ihre so wichtige Aufgabe bekommen sie dieses Hotels, was ein mildes Ambiente hat. Das ist praktische Architektur. Dh. man konnte damals in persönlichen Kontakten und Gespräche die verhandlungsrelevanten Themen mit seinen dann offiziellen Partner erörtern und zum Besten ausbilden.
Den darin größten Punkt sehe ich in der so menschengerechten Architektur und das weise Aussuchen dieses Ortes.
Ich bin selber ein Baumensch und mache mir so meine Gedanken über eine zeitgemäße und schöne Architektur, die den Menschen in seinem Potenzial fördert und dies auf einer freilassenden Art und Weise.
Der gegenwärtige Umgang mit so einem historischen Gebäude ist doch sehr betrübend und es macht traurig.
Ich bin gerade im Tessin und habe nun vor mir das Hotel von außen anzusehen.
Mit freundlichen Grüßen
Carsten Munzlinger