Von den Gefahren und Potenzialen der Solidarität

Janna Weseloh

Ohne von der nahenden Pandemie wissen zu können, entschied das Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft (IfEK) mit seinen Kooperationspartner:innen, dass das Stichwort des Themensemesters 2020 „Solidarität“ heißen soll. Damit reiht das IfEK sich neben Romanautor:innen und Filmemacher:innen ein, die ein ähnliches Geschick dafür haben müssen, den aktuellen Zeitgeist wahrzunehmen, da sie schon vor dem weltweiten Ausbruch des Corona-Virus Szenarien entwarfen, die nun der Pandemie gleichen. Spätestens mit dem Aufkommen von Corona-Maßnahmen wurde „Solidarität“ zum geflügelten Wort.  Die im Kulturzentrum Kukoon stattfindende Abschlussveranstaltung des Themensemesters „Solidarität neu befragen – Widersprüche und Möglichkeiten“ stellt die leitenden Fragen aus der Auseinandersetzung mit dem Begriff, der Lektüre von Albert Camus‘ „Die Pest“ und aktivistischer Arbeit zusammen.

Nach einführenden Worten der Projektverantwortlichen Martina Grimmig und Michi Knecht ließen die beiden Studentinnen Franzina Braje und Gina Franke die Besucher:innen der Veranstaltung in Camus‘ Welt eintauchen, indem sie Passagen aus „Die Pest“, gespickt mit eigenen kritischen Fragen, die den Roman in die Pandemiegegenwart holen, vorlasen.

Die Studentinnen Franzina Braje und Gina Franke (von links) geben einen Eindruck aus Camus‘ „Die Pest“.

Der gekonnt gelesene Beitrag verbreitete die dem Thema innewohnende Düsternis und griff zugleich auf die eigenen Wissensbestände der Besucher:innen zurück, die sie in den noch aktuellen Pandemiezeiten erlangen mussten. So herrscht nach den letzten Fragen von Gina Franke zunächst bedächtige Stille, dann Klatschen für den mächtigen Beitrag. Die beiden Studentinnen gliedern daraufhin Vorgetragenes im Zusammenhang des Seminars ein, das sie im Rahmen des Themensemesters besuchten. Gemeinsam mit ihrer Dozentin, Svantje Guinebert, entwarfen die Seminarteilnehmenden eine Vielzahl an Aktionen, die von der Lektüre von „Die Pest“ inspiriert waren. Teil davon waren viele kreative Auseinandersetzungen mit dem öffentlichen Raum, in die die beiden Studentinnen visuelle Eindrücke über die große Leinwand hinter sich gaben: Plakatieraktionen, Streetart oder eine Intervention in der social-media-Welt durch das Hashtag #campus4solidarity. Damit gaben die Studentinnen an diesem Abend ein erstes Beispiel dafür, wie Solidarität weitergedacht und in kritisch in die Öffentlichkeit getragen werden kann.

Die Bühnenbesetzung wechselte und nun säumten die beiden Moderator:innen Anja Binkofski und Götz Bachmann drei, der zur Podiumsdiskussion eingeladenen, Gäst:innen: den Gründer des Bremen Solidarity Centre (BreSoC) e.V. Sunny Omwenyeke, den Ethnologen und Medienwissenschaftler Ehler Voss und die Jugendbildungsreferentin der Falken Bremen Miriam Bähr. Auf der großen Leinwand über ihnen wurde eine vierte Teilnehmerin übertragen, die Sozialanthropologin Julia Eckert.

Götz Bachmann, Sunny Omwenyeke, Ehler Voss, Miriam Bähr, Anja Binkofski und Julia Eckert (nicht im Bild; von links) während der Podiumsdiskussion.

Solidarität spielt für die Arbeit aller Gäst:innen eine Rolle, wie sie in einer Vorstellungsrunde anhand einzelner Fragmente und Anekdoten daraus erläuterten. Fließend und geleitet durch zielgesetzte Moderation ging die Vorstellungsrunde in die Diskussion über. Schnell schälte sich heraus, dass Solidarität vielschichtig ist und dadurch zumal ambivalent oder gefährlich. Sunny Omwenyeke eröffnete dem Publikum beispielsweise die Perspektive eines Fluchterfahrenen, der sich mehr Solidarität in Deutschland wünscht und gleichzeitig vor aktivistischer Arbeit warnt die eine scheinbare Solidarität zur Selbstinszenierung nutzt. Widersprüchlichkeit scheint ständige Begleiterin von Solidarität zu sein. In Hinblick auf die Pandemie taucht diese Kombination gehäuft auf und generiert Fragen, die den Umgang jedes einzelnen Menschen mit dem Thema betreffen.

Auch wenn alle Diskutierenden für mehr und vor allem eine kritische Solidarität plädieren, unterscheiden sich ihre Herangehensweisen an das Konzept durch die interdisziplinäre Vielfalt, die sie auf der Bühne zusammenbringen. Die von Erfahrungsaustausch gespickte Diskussion hätte an diesem Abend noch viel länger gehen können, wenn das Ende der Veranstaltung nicht langsam genaht hätte. An den einzelnen Tischen im Saal des Kukoons hörte man jedoch Satzfetzen, die vermuten ließen, dass ebenfalls das Publikum gefangen von der spannenden Diskussion war.