Bewerbung zur Ausschreibung Eine Uni Ein Buch 2020_Universität Bremen (PDF)

 

 

Projektidee für die Ausschreibung des Stifterverbands für die deutsche Wissenschaft und

der Klaus Tschira Stiftung in Kooperation mit dem ZEIT Verlag

„Eine Uni Ein Buch“: Vorschlag der Universität Bremen

 

Solidarität neu befragen.

Die Universität Bremen liest Albert Camus: Die Pest (1947)

Ein philosophischer Roman über Solidarität in schwierigen Zeiten

 

Die Universität Bremen beteiligt sich an der Ausschreibung „Eine Uni Ein Buch“ 2020 mit dem Vorhaben, den Roman Die Pest von Albert Camus zu lesen. Wir wollen sowohl universitätsintern als auch in Diskussionen mit der Bremer Öffentlichkeit die reichhaltigen Denkanstöße Camus‘ aufnehmen, um Solidarität neu zu denken.

Zusammenfassung der Projektidee

In seinem Roman Die Pest stellt sich Camus die Frage, was Solidarität, Freundschaft und Menschenliebe bedeuten können in einer Zeit, in der die Menschen mit einem großen Übel umgehen müssen. Welche Möglichkeiten und Wege gibt es, menschlich zu bleiben angesichts von Übeln und sich sowohl gegen die Katastrophe selbst als auch gegen eine damit oftmals einhergehende Verrohung zu wehren? Wie kann es uns gelingen, angesichts von Ungerechtigkeit und schleichender Verschlechterung gesellschaftlicher oder klimatischer Zustände realistisch und klar zu sehen – und dabei hoffnungsvoll, tatkräftig und solidarisch zu sein? Welches sind Katastrophen unserer Zeit, die wir versucht sein könnten, unter den Begriff der Pest zu fassen? Im Rahmen der Auseinandersetzung mit Camus‘ Roman wird es darum gehen, aus verschiedenen Blickwinkeln und aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen Zusammenhänge zwischen dem Werk und aktuellen Fragen rund um Solidarität und andere Themen, die Camus uns in diesem Werk anbietet, zu beleuchten und zu diskutieren. In Podiumsdiskussionen, Lehrveranstaltungen, Fachvorträgen, Workshops, einer Ausstellung und in weiteren Formaten wird das Werk in seinem Facettenreichtum diskutiert. Manches wird aus einer fachspezifischen Perspektive heraus vorgestellt und zur Diskussion gestellt werden, andere Fragen zu aktuellen Forschungen und Feldern von Solidarität werden interdisziplinär diskutiert – beispielsweise zwischen Biologie und Kulturwissenschaft, Wirtschaftswissenschaften und Philosophie, Geographie und Rechtswissenschaft. Was bedeutet digitale Solidarität in der Gegenwart?  Lässt sich die solidarische Stadt wissenschaftlich planen oder begleiten? Wie funktioniert Solidarität inter species? Und wie hängen Umweltgerechtigkeit und Solidarität zusammen? Spezifisch lokale Brücken lassen sich von Camus’ Roman zur Bremer Landesverfassung schlagen, in welcher der Idee der Solidarität ungewöhnlich breit Raum gegeben wird.

Im Jahr 1957 erhielt Albert Camus den Literaturnobelpreis. Das Nobelpreiskomitee begründete seine Auszeichnung damit, dass Camus mit scharfsichtigem Ernst menschliche Gewissensprobleme seiner Zeit beleuchte. In seinem 1947 veröffentlichten Roman, der bis heute als ein Klassiker der Weltliteratur gilt, beschreibt Camus, wie eine kleine, gewöhnliche Stadt von der Pestseuche heimgesucht wird. Unterschiedliche Protagonisten leben und reflektieren Solidarität, Freundschaft und Revolte gegen das Übel. So werden Möglichkeiten der Nächstenliebe und Zivilcourage gegen physische und moralische Zerstörung gesetzt, literarisch illustriert und reflektiert. Dabei begegnen wir an keiner Stelle einem erhobenen Zeigefinger, sondern vielmehr einer Einladung, respektvoll, realistisch und konkret Möglichkeiten und Wege menschlichen Umgangs mit Übeln zu suchen. Camus verarbeitet in seinem Buch Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs, Faschismus und Totalitarismus, persönliche Erfahrungen der Belagerung; doch die Pest kann für Vieles stehen. Angesichts der politischen und gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart hat Camus‘ Werk neue Aktualität und Bedeutung gewonnen. Vor dem Hintergrund der gegenwärtig verstärkt geführten Auseinandersetzungen über gesellschaftliche, klimatische und globale Herausforderungen kann Die Pest von Albert Camus als berührendes und mitreißendes Instrument dienen, um gemeinsam neu zu denken, auf welche Weise heute Solidarität erforscht, gelehrt und gelernt werden kann. Camus‘ Werk hat das Potential, dabei zugleich herauszufordern und zu ermutigen:

«Welch ein Stil! Welche Präzision und Eleganz, Sparsamkeit und visionäre Plastizität! Dass es auch in unserem Jahrhundert noch möglich ist, Wahrheit und Schönheit, Maß und Vision, Eleganz und Unbestechlichkeit zu vereinigen, schenkt uns Vertrauen zum Gewesenen, tröstet uns in der Dunkelheit des Tages und lässt uns hoffen für morgen.» (Walter Jens)

 

Warum „Die Pest“? Ein Roman der Verbindungen schafft

Man könnte meinen, mit diesem Werk werde ein pessimistisches, negatives Bild in den Vordergrund einer Auseinandersetzung gerückt. Doch Camus gelingt ein Kunststück: Sein Roman zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er Klarsicht und Realismus mit Hoffnung, Menschenliebe und Solidarität verbindet. Denn letztlich ist Solidarität gerade dann relevant und wichtig, wenn eine Situation aussichtslos erscheint.

Ein Klassiker mit starkem Aktualitäts- und Ortsbezug

Vielerorts sehen wir die Menschenrechte und die Umwelt in Gefahr. Wann gilt es, Position zu beziehen für Freiheit, Gerechtigkeit, Würde und Respekt? Wie können Positionierungen im universitären Raum und im Wissenschaftskontext aussehen? Camus gibt uns in Form unterschiedlicher Romanfiguren Beispiele für ein Wirken gegen Schranken, Mauern und Ausgrenzungen, trotz und gegen Erschöpfung und Resignation, und für das Menschen-Mögliche. Eine klarsichtige, unaufgeregte Auseinandersetzung mit Grundlagen und Möglichkeiten von Solidarität ist insbesondere in einer Zeit wichtig, in der Dinge, die gesichert erschienen, ins Wanken geraten, und gemeinsame Errungenschaften, die lange für selbstverständlich gehalten wurden, Anfechtungen erfahren. Deshalb und da dieser literarische Klassiker nichts von seiner Aktualität verloren hat, eignet er sich besonders gut für das Vorhaben. Die Pest steht für drohende Übel, die grundsätzlich in jeder Gesellschaft zu jeder Zeit verhängnisvoll werden und den Menschen mit der Frage nach seiner Menschlichkeit konfrontieren können. „[E]r wusste […], dass nämlich der Pestbazillus nie stirbt und nie verschwindet, dass er jahrzehntelang […] geduldig wartet und dass vielleicht der Tag kommen würde, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und zum Sterben in eine glückliche Stadt schicken würde“ (Camus 19471: 350).

Der Blick auf eine Verbindung zwischen der Stadt Bremen und der Auseinandersetzung mit Solidarität offenbart Bemerkenswertes. So stellt der Bremer Jura-Professor Andreas Fischer-Lescano fest, dass das Prinzip der Solidarität, das sich übrigens an sehr prominenter Stelle in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland wiederfindet, in der Bremer Landesverfassung besonders pointiert ausbuchstabiert sei. In ihrer Präambel beinhalte diese ein antiautoritäres Credo, welches auf Solidarität, Menschlichkeit und Frieden ausgerichtet ist und in hohem Maße auf einem gemeinschaftlichen Miteinander aufbaue (vgl. Fischer-Lescano et al. 2016: 148 und 213). So werde dem konstitutionellen Solidaritätsprinzip als Regulierungsinstrument hinsichtlich verschiedenster verfassungsrechtlicher Kontexte in besonderer Weise Beachtung geschenkt. Darüber hinaus wird seit 1988 alle zwei Jahre der Bremer Solidaritätspreis vom Senat der Freien Hansestadt Bremen verliehen. Mit dem Preis will die Stadt ein Zeichen setzen für die Hochhaltung von Menschenrechten und Demokratie und insbesondere das Engagement für die Aufarbeitung und Überwindung Postkolonialer Strukturen und Rassismus (vgl. Freie Hansestadt Bremen 2017: 3). Und wer hat noch nicht von den Bremer Stadtmusikanten gehört? Als Wahrzeichen der Stadt erinnert die Statue an das Märchen der Gebrüder Grimm, in dem sich vier Tiere aus individuellen Notsituationen heraus zusammentun und durch Solidarität im wahrsten Sinne des Wortes über sich hinauswachsen.

Gegenwärtige gesellschaftliche Problematiken wie Radikalisierung und Verrohung im gesamtgesellschaftlichen Miteinander ebenso wie in den sozialen Netzwerken, der Klimawandel im Zusammenhang mit dem Aufbegehren junger Menschen und der Forderung nach Solidarität über Generationen hinweg sowie das Auseinanderdriften zwischen gesellschaftlichen Gruppen (und damit auch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft) stellen uns vor Herausforderungen, die ein Neu-Denken von Solidarität nahelegen. Über die Initiative „Eine Uni – ein Buch“ in Verbindung mit einem Themensemester zu Solidarität will die Universität Bremen die gesamtgesellschaftliche Relevanz des Diskurses um Solidarität aufgreifen und in Auseinandersetzung mit Camus weiterführen.

 

Verbindungen schaffen…

Die gemeinsame Lektüre kann als Ausgangspunkt für sowohl wissenschaftliche als auch lebensnahe Auseinandersetzung mit dem Thema Solidarität dienen. Sie eignet sich als Ansatz zu akademisch theoretischen Auseinandersetzungen innerhalb verschiedener Kontexte und bietet Material für sowohl literarisches als auch lebensweltliches Reflektieren von Gemeinschaftlichkeit. So eignet sich Die Pest von Albert Camus hervorragend als Verbindungsstelle innerhalb der Universität, aber auch zwischen Theorie und Praxis, zwischen Gesellschaft und Wissenschaft, sowie zwischen Institutionen, Statusgruppen und Einzelpersonen.

… innerhalb der Universität

Geplant sind sowohl fachbereichsübergreifende Veranstaltungen, als auch solche innerhalb einzelner Disziplinen. So wird es in der Philosophie innerhalb des universitären Kontextes und auch in der Bremer Öffentlichkeit um eine vertiefte Begriffsklärung und Auseinandersetzung mit Camus‘ Ideen zu Revolte und Solidarität gehen. In Zusammenarbeit mit der Linguistik sind Diskussionen über sprachliche Gebräuche und Konnotationen bei der Benennung von Übeln, insbesondere über den Begriff der Pest, interessant. Wofür könnte die Pest heute stehen – und was bedeutet es, eine solche Terminologie zu gebrauchen? Inwiefern sind Marginalisierung und Ausgrenzung hier schon im Begriff impliziert? Bezüglich einer Bestimmung von Katastrophen und deren Ausweitung werden in einer Podiumsdiskussion statistische, epidemiologische und philosophische Überlegungen zusammengebracht. Für die Kultur- und Sozialwissenschaften gilt es u.a. das Schreiben nicht mehr nur als propädeutische Angelegenheit im Sinne des herkömmlichen knowledge-telling-Modells zu begreifen, sondern als writing-in-the-disciplines in der Lehre zu adressieren. Das Schreiben soll in seiner wissenstransformierenden Funktion (M. Scardamalia, C. Bereiter 2006) in das Projekt integriert werden, indem wir uns auch schreibend mit dem Buch und dem Thema Solidarität auseinandersetzen, z.B. in Form von Schreibworkshops, Schreibspaziergängen, etc. Der Blick über den eigenen Tellerrand hinaus ist des Weiteren auch dort interessant, wo untersucht wird, wie sich Akte der Solidarität außerhalb unserer eigenen Kulturen zeigen. Ein historischer Blick in die Vergangenheit gibt Aufschluss über die Entwicklung des Begriffes und der Praxis von Solidarität, z.B. als wiederkehrendes Motiv in Literatur und Kunst (Hoffmann 2007; dazu die von Prof. Febel angebotene Lehrveranstaltung „Solidarisches Handeln oder Strategien des Überlebens? Eine kleine Literaturgeschichte der Pest in Europa“ sowie eine der Podiumsdiskussionen). Für die Sozial- und Politikwissenschaften ist Solidarität eine soziale Praxis und ein vieldiskutiertes theoretisches Konzept (zu dem in Bremen am 5. Mai 2020 eine „Kontrapunkte – Wissenschaft im Widerspruch“-Veranstaltung mit Heinz Bude zu seinem neuen Buch „Solidarität – Die Zukunft einer großen Idee“ (2019) stattfinden wird). Zu einer religionswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Werk lädt Camus ein, nicht zuletzt indem er über die Figur des Pater Paneloux Fragen nach dem religiösen Glauben und seiner Erklärungspotentiale stellt. Zahlreiche weitere Zugänge zum Buch ergeben sich aus der Lektüre, denn Camus fordert zu einer konkreten, lebensnahen Auseinandersetzung auf. Wie beispielsweise könnte man aus der Perspektive der Informatik „digitale Solidarität in der Gegenwart“ denken, wie im Kontext von Nachhaltigkeits- und Klimaforschung Formen der Umwelt-Solidarität konkretisieren? Was bedeutet solidarisches Wirtschaften in der Gegenwart? Welche Überlegungen und Aspekte sind von Relevanz, wenn es aus statistischer oder auch epidemiologischer Sicht darum geht zu bestimmen, ob ein tragischer Einzelfall, ein grundsätzliches Problem oder eine alarmierende Ausbreitung vorliegt? Welche Rolle spielt Solidarität in Kindergärten und Schulen und welchen Beitrag können hier die Erziehungswissenschaften leisten? Wie kann sie vermittelt und weitergetragen werden? Und was genau hat es mit der Rolle der Solidarität in der Verfassung und speziell im Bremer Landesrecht auf sich? Wichtig ist, dass sich die Auseinandersetzung mit dem Werk nicht allein an die Studierenden und wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Universität richtet, sondern dass möglichst viele Angehörige der Universität und auch die Bremer Öffentlichkeit angesprochen werden. So wird eine Ausstellung illustrieren, wie engagiert und verschiedenartig Solidarität an der Universität und in der Stadt Bremen bereits gelebt wird, mit dem Ziel, auf diese Weise einen vielseitigen und offenen Ort für weitere Diskussionen zu schaffen, ganz im Einklang mit der Wertschätzung und Vielstimmigkeit in Camus‘ Werk. Eine szenische Umsetzung auf der Bühne sowie ein Filmnachmittag (mit der Verfilmung von Luis Puenzo(GB/F/ARG 1992), eingeführt und umrahmt von Frau Dr. Urania Milevski) sind ebenfalls Teil des Projekts.

… zwischen Theorie und Praxis

Wenn der Begriff der Solidarität nicht nur wohltönend, aber leer, wenn er nicht nur suggestive Rhetorik, sondern ein inhaltlich bestimmter Begriff sein soll, ist eine theoretische Erörterung unerlässlich. Neben einer Klärung des Begriffs, in Abgrenzung zu solchen wie Loyalität, Nächstenliebe, Brüderlichkeit, aber auch zu Paternalismus, Vetternwirtschaft und Bevormundung, gilt es, die relevanten Zusammenhänge auch wissenschaftlich zu reflektieren. Wir müssen uns fragen: Worin zeigt sie sich, was unterscheidet hilfreiche Solidarität von Paternalismus, wie lässt sie sich abgrenzen von Loyalität, auf welcher Grundlage lässt sie sich begründen? Was ist von Camus‘ Position zu halten, Solidarität gründe in dem Wert eines jeden Einzelnen, der sich als Individuum gemeinsam mit anderen in einer absurden, manchmal erschreckenden Welt wiederfindet? In der Auseinandersetzung kann und muss sich der Begriff an der Lebenswirklichkeit messen lassen: Der Roman als Schnittstelle zwischen Forschung und Lebenswelt eröffnet Chancen, einen Übergang zu schaffen und Verknüpfungen zwischen praktischem und theoretischem Denken und Wirken auszuloten.

… zwischen Wissenschaft und Gesellschaft

Im Gegensatz zu einem fachwissenschaftlichen Werk hat dieser literarische Roman das Potential, unterschiedliche Menschen aus verschiedenen Kontexten auf vielfältige Weise anzusprechen. Sowohl die Textgattung des vorgeschlagenen Werks als auch seine inhaltliche Ausrichtung eröffnen besondere Chancen. So zeigt sich z.B., dass die Studierenden, die bislang bei der Mitarbeit an dem Projekt mit Camus‘ Werk in Berührung gekommen sind, u.a. deshalb mit besonderer Motivation und Einsatzbereitschaft arbeiten, weil es ein Roman ist, der ein sehr grundlegendes, dieser Tage wichtiges Thema auf eine mitreißende, zugängliche und lebensnahe Weise aufarbeitet, ohne zu vereinfachen. Die Formate der Auseinandersetzung mit dem Werk sind so konzipiert, dass auch Interessierte außerhalb der Universität eingeladen und einbezogen werden. Einige Veranstaltungen werden an der Universität, andere an verschiedenen Orten in der Innenstadt stattfinden, wie etwa dem Bremer Presse-Club, dem Haus der Wissenschaft, dem Institut Français. Es geht darum, Hemmschwellen abzubauen und auch Menschen anzusprechen, die keine direkte Verbindung (mehr) zur Universität haben. In diesem Geiste geplant ist beispielsweise eine von Studierenden organisierte „solidarische Stadtführung“ durch die Innenstadt Bremens, in der unter anderem Denkmäler, Symbole und Wohnprojekte in Bezug auf Solidarität vorgestellt werden. Auch Institutionen außerhalb der Universität werden in die Ausrichtung des Projekts einbezogen, wie etwa die „Suppenengel“ in Bremen, die „Zeitschrift der Straße“ sowie Bremer Schulen. Camus‘ Verzicht auf Moralisierung und eine den Zeigefinger hebende Hauptfigur, die ihren Weg als den einzig richtigen darstellt, ist einer offenen, produktiven Auseinandersetzung mit der Problematik förderlich. Es wird nicht darum gehen, einen allgemeingültigen oder gar den einzig wahren Weg hin zu solidarischem Handeln aufzuzeigen, sondern eine Plattform des Reflektierens zu schaffen und Camus‘ Denkanstöße zu durchdenken und vielstimmig zu ergänzen.

… zwischen Institutionen, Gruppen und Individuen

Solidarität wird gemeinhin vornehmlich im Kontext von Gruppen gedacht. Im Kollektiv können Zusammenhalt und Unterstützung gelebt und nach außen getragen werden. Doch ist sie immer an Personengruppen gebunden? Der Keim jedes solidarischen Handelns kann, wie auch von Camus angenommen, im Individuum selbst vermutet werden. Denn der bzw. dem Einzelnen stellen sich auf persönlicher Ebene Fragen danach, ob, wie und in welchem Maße solidarisch gehandelt werden soll. Mit unserem geplanten Themensemester und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit Camus‘ Die Pest wollen wir bei jedem selbst, d.h. beim Individuum, ansetzen und zum Nachdenken und Reflektieren der eigenen Ansichten und Vorstellungen von Solidarität anregen. Durch ein buntes Programm an unterschiedlichen Veranstaltungen wollen wir erreichen, dass möglichst viele angesprochen sind und einen Bezug zu Camus‘ Werk und dem Thema „Solidarität“ finden. Camus gelingt es in seinem stark philosophisch unterlegten literarischen Roman, die Leserinnen und Leser mitzunehmen auf eine Reise, in der emotionale und persönliche Zugänge geschaffen werden, aus denen jede und jeder für die eigene Reflexion schöpfen kann.

 

Veranstaltungen und Formate

Die aus Studierenden und Lehrenden bestehende Vorbereitungsgruppe des Wettbewerbsbeitrages hat in Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Fachbereiche bereits ein Spektrum von Veranstaltungen geplant, weitere sind in der Entwicklung. Im Mittelpunkt stehen die multiperspektivische Lektüre und Diskussion des Werks. Es wird einen regelmäßig tagenden Lesekreis und Leseperformances geben sowie Schreibworkshops, Lehrveranstaltungen, eine Vortragsreihe, Podiumsdiskussionen, eine Filmvorführung, eine Diskussion in der WoC-Reihe „Kontrapunkte: Wissenschaft im Widerspruch“ sowie weitere Veranstaltungen an der Universität und in der Stadt. Die folgende Auswahl geplanter Veranstaltungen mag einen Einblick vermitteln.

Veranstaltungen in der regulären Lehre:

  • Solidarisches Handeln oder Strategien des Überlebens? Eine kleine Literaturgeschichte der Pest in Europa. Wöchentliche VA. Lehrende: Prof. Dr. Gisela Febel (Romanistik).
  • Über die Anthropologie der Unsolidarität. Wöchentliche VA. Lehrender: Prof. Dr. Ehler Voss (Ethnologie).
  • Lesekreis zu Albert Camus: Über Solidarität, Revolte und Hoffnung. Ausgewählte Textauszüge, gelesen und kommentiert von Dr. Svantje Guinebert (Philosophie). Wöchentliche VA.

Unsere Vortragsreihe:

  • WoC: Kontrapunkte – Wissenschaft im Widerspruch, 5. Mai 2020: Prof. Dr. Heinz Bude (Universität Kassel) über sein Buch (2019): Solidarität – die Zukunft einer großen Idee.
  • Dr. Rudolf Lüthe: „Solidarität mit Augenmaß. Eine pragmatische Sicht auf Camus‘ Lehre vom ‚mittelmeerischen Denken'“, 14.5.2020.
  • Dr. Heith Cabot (University of Pittsburgh): „Contagious Solidarity:’ Reconfiguring Care and Citizenship in Greece’s Social Clinics“.
  • Christoph Lubberich: Über die Frage nach der Ursache des Übels (Streitgespräch zwischen Pater Paneloux und Rieux). Oder: Warum es nicht der Religion bedarf, um solidarisch zu sein. (Arbeitstitel).
  • In Zusammenarbeit mit der Camus-Gesellschaft: Ein Vortrag von Sebastian Ybbs.

Öffentliche Podiumsdiskussionen und Lesungen in der Innenstadt:

  • Dr. Dr. Norman Sieroka (Philosophie), Prof. Dr. Werner Brannath (Angewandte Statistik und Biometrie) und Prof. Dr. Vanessa Didelez (Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie PIBS): Von Daten zu Ursachen. Statistische und philosophische Überlegungen zu Gesundheit und Solidarität.
  • „Die Pest lesen“. Björn Haferkamp und Dr. Svantje Guinebert diskutieren Camus‘ Die Pest. 18. Juni 2020, Kulturzentrum Lagerhaus.
  • Veranstaltung in Kooperation mit dem Institut Français: Prof. Dr. Gisela Febel (Romanistik), Dr. Svantje Guinebert (Philosophie), Prof. Dr. Frank Nullmeier (Politikwissenschaften) und Prof. Dr. Cornelius Torp (Geschichtswissenschaften) im Publikumsgespräch über Aktualitätsbezüge und politisches Engagement in Deutschland und Frankreich.
  • Dr. Lars Hornuf (Wirtschaftswissenschaft) sowie drei weitere GesprächspartnerInnen (angefragt werden WissenschaftlerInnen aus den Bereichen Öffentliches Recht und Politikwissenschaften sowie ein Akteur aus der Finanzpolitik) zum Thema „Solidarität in Europa? Die Haltung von Regierungen, internationaler Organisationen (EZB, IWF) und der Zivilgesellschaft während der Finanzkrise in Griechenland.“ (Arbeitstitel).
  • Deutsch-Französische Lesung von Camus‘ Roman „Die Pest“. Eine Veranstaltung des Fremdsprachenzentrums (FZH) und des Institut Français Bremen.

Workshops:

  • Schreibworkshop von Dr. Silke Betscher: „Solidarität drüberschreiben“. VA für Studierende an der Universität Bremen.
  • Workshop und Vortrag: Über Solidarität im Zusammenhang mit Kinder- und Jugendbildung – von der Praxis zur Theorie und wieder zurück. Von Nele Fuchs. Anfang Juli 2020. Vortrag: „Was ist Solidarität? Ein Blick aus der außerschulischen pädagogischen Praxis auf die Theorie eines Begriffs.“ Workshop: „Was ist Solidarität? Grundlagen eines diffusen Begriffs“.
  • In Planung: Veranstaltung in Kooperation mit dem Gymnasium Horn: Prof. Dr. Georg Mohr, Anna Driver und Alina Schwennen: Die Pest im Schulunterricht.

Theater, Film und Ausstellung:

  • Filmvorstellung und anschließende Diskussion, geleitet und wissenschaftlich umrahmt durch Dr. Urania Milevski: Die Pest von Luis Puenzo(GB/F/ARG 1992). Im Kino City 46.
  • Theateraufführung und anschließendes Expertengespräch in Kooperation mit dem Theater InCognito (TiC), dem Zentrum für Performance Studies der Universität Bremen (ZPS) und dem Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst (TdV)
  • Solidarität an der Uni und in Bremen sichtbar machen: Präsentation und Ausstellung zu bereits bestehenden Projekten und Möglichkeiten solidarischen Handelns.

 

Universitäre Einbettung

Regelmäßig im Sommersemester werden im Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft seit einigen Jahren sogenannte „Semesterthemenschwerpunkte“ entwickelt, durch die nicht nur das Institut innerhalb der Universität sichtbarer gemacht werden soll, sondern auch in der ganzen Stadt. Nach „Gegen Grenzen denken“ (2015), „Public Anthropology“ (2016), „Dekolonisierung der Stadt- Dekolonisierung des Wissens“ (2017) und „Global Cotton“ (2018), wird sich das nächste Themensemester rund um die Thematik der Solidarität drehen. Wie auch schon im Jahr 2018 zum Themenschwerpunkt „Global Cotton“ und dem damit verbundenen Lesen von Sven Beckerts „King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus“ wird das Projekt „Eine Uni Ein Buch“ im Sommersemester 2020 in den Kontext des Themensemesters eingebunden, geht aber über dessen normalen Umfang hinaus.

 

Kooperationspartner sind folgende Institute und Einrichtungen:

  • Philosophie (FB 9)
  • Ethnologie und Kulturwissenschaft (FB 9)
  • Romanistik (FB 10)
  • Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS, FB 8)
  • Politikwissenschaften (FB 8)
  • Angewandte Statistik und Biometrie (FB 3)
  • Wirtschaftswissenschaften (FB 7)
  • Informatik (FB 3)
  • Rechtswissenschaften (FB 6)
  • Geschichtswissenschaften (FB 8)
  • Erziehungs- und Bildungswissenschaften (FB 12)
  • Sprach- und Literaturwissenschaften (FB 10)
  • Das Philosophische Atelier (Institut für Philosophie, FB 9)
  • Kompetenzzentrum für Klinische Studien Bremen
  • Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS Bremen
  • Interdisziplinäre Verbundforschungsplattform Worlds of Contradiction (WoC)
  • Zentrum für Performance Studies der Universität Bremen (ZPS)
  • Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst (TdV)
  • Theater InCognito (TiC)
  • Fremdsprachenzentrum der Hochschulen im Land Bremen
  • Philosophische Gesellschaft Bremen
  • Institut Français de Brême
  • Albert Camus Gesellschaft
  • Grundschule Oderstraße Bremen

 

Zusammenfassend:

Eine Einladung zu gemeinsamem Reflektieren und Erfahren von Solidarität Der Vorschlag, universitätsweit den Roman Die Pest zu lesen und zu diskutieren, ist als eine Einladung zu verstehen, jenseits von Expertise und fachwissenschaftlicher Exzellenz aber unter Einbezug derselben, einen gemeinsamen Blick über den jeweils eigenen Tellerrand zu wagen. Camus‘ literarische Kraft reißt mit, berührt, spricht den Einzelnen an in seiner universitären und gesellschaftlichen Rolle, aber auch als Mensch. Sollte das Projekt Erfolg haben, würde die Grundausrichtung der Ausschreibung auf zwei Ebenen erfüllt werden – Solidarität würde kritisch diskutiert und dabei ganz praktisch im Vollzug gelebt.

 

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Literatur

Camus, Albert (19471): Die Pest. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 201279 [Original: Paris: Éditions Gallimards, 1947].

Bude, Heinz (2019): Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee. München: Carl Hanser Verlag.

Cabot, Heith (o.D.): The  banality of solidarity. Occasional paper, https://www.academia.edu/25419638/Cabot_Banality_of_Solidarity.

Fischer-Lescano, Andreas. Rinken, Alfred. Buse, Karen. Meyer, Ilsemarie. Stauch, Matthias und Christian Weber (2016): Verfassung der Freien Hansestadt Bremen: Handkommentar. Baden-Baden: Nomos.

Hoffmann, Björn (2007): Die Pest in der Literatur. Eine Untersuchung von Boccaccio bis Camus. Aachen: Shaker-Verlag.

I.L.A. –Kollektiv (Hg.) (2019): Das Gute Leben für Alle: Wege in die solidarische Lebensweise. München: Oekom.

Sändig, Brigitte (2004): Albert Camus. Autonomie und Solidarität. Würzburg: Königshausen & Neumann.

Scardamalia, M., Bereiter, C. (2006): Knowledge building: Theory, pedagogy, and technology. In: K. Sawyer (Hrsg.): The Cambridge handbook of the learning sciences. Cambridge University Press, New York 2006, S. 97–115.

Stromberg, David (2014): Moral Reserve: Narrative Ethics and Aesthetic Principles in Camus’s La Peste. French Form, vol. 39 no. 1, 2014, 81-94, Project MUSE, doi:10.1353/frf.2014.0011.

Strunz, Franz (1997): Camus‘ Philosophie in seinen Werken La Peste und L’État de Siège. In: Anregung, Heft 4/1997, 241-249.

Theodorus, Dimitrios (2016): Philanthropy or Solidarity? Ethical Dilemmas about Humanitarianism in Crisis-Afflicted Greece. In: Social Anthropology 24 82), 167-184.

Tranow, Ulf (2007): Solidarität. Soziologische Perspektiven und Konzepte. Saarbrücken: VDM.

Internetquellen:

Freie Hansestadt Bremen. 2017. Der Bremer Solidaritätspreis 1988 – 2017. https://www.derbevollmaechtigte.bremen.de/ez/bremer_solidaritaetspreis-12344. Letzter Zugriff 28.12.2019.

Haunhorst, R., Zündorf, I.: Biografie Albert Camus, in: LeMO-Biografien, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/biografie/albert-camus.html. Letzter Zugriff 28.12.2019.

Theorieblog.de: Politische Theorie, Philosophie und Ideengeschichte. URL: https://www.theorieblog.de/