Französische Ritter auf sizilianischem Boden – Das süditalienische Marionettentheater
„Ich habe alle unter Zauber stehenden Ritter zu befreien, mein Königreich zu retten und die Maiden aus dem Gefängnis zu befreien.“ Im sizilianischen Dialekt hallen die entschlossenen Worte der Prinzessin Angelica durch den dunklen Raum. Ihr rotes Samtkleid flirrt unter den ausladenden Armbewegungen, der rubinrote Kronenschmuck funkelt im Licht. Wir befinden uns hier nicht in einem Opernhaus oder einem italienischen Kinosaal, sondern sind zu Gast in einem der traditionsreichsten Volkstheater Europas: dem sizilianischen Puppentheater!
Antike Ursprünge eines zeitlosen Publikumsmagneten
Die Anfänge der sizilianischen Marionettenkunst sind, wie so viele kulturelle Bräuche der Insel, mit der vorchristlichen Besiedlung durch griechische Kolonisatoren verwoben. Zu dieser Zeit waren Puppen oder Marionetten aber nicht nur Mittel zur Unterhaltung und Belustigung: Vor allem im Alten Ägypten und der griechischen Zivilisation wurden sie auch zu religiösen Ritualen und zur frühen Erziehung eingesetzt. Als vom achten bis vierten vorchristlichen Jahrhundert die Magna Graecia – der griechische Siedlungsraum in Süditalien und auf Sizilien – ihre Blütezeit erfuhr, etablierten sich die griechischen Marionetten als importiertes Kulturgut. Insbesondere in den südlichen Kolonien bei Catania und Siracusa wurde das Marionettentheater in privilegierten wie auch nicht-privilegierten Gesellschaftsgruppen ein beliebtes Unterhaltungsinstrument. Xenophon, Schüler des Sokrates, schildert in seinem Symposion eine Konversation zwischen Sokrates und einem aus Siracusa stammenden Marionettenspieler. Vor Sokrates führt letzterer einen Tanz auf und verspottet das niedere Volk: Ihre Lust am Marionettenspiel habe ihn zu Reichtum geführt. Zusammen mit weiteren griechischen Quellen wird hier erkennbar, dass es sich beim sizilianischen Puppenspiel um ein vom norditalienischen Kulturraum losgelöstes und mit einem süditalienischen Partikulargedächtnis verbundenes Erinnerungsmedium handelt.
An der zentralen Piazza Duomo befindet sich Siracusas Kathedrale, die aus einer Umfunktionierung des Anthenatempels hervorging. Die monumentalen dorischen Säulen zeugen vom kulturellen Einfluss auf den süditalienischen Kulturraum.
Dunkles Mittelalter – dunkle Zeit für die Marionetten?
Gemeinsam führten das Ende der Antike und die zunehmende Christianisierung Europas zu einem tiefen Einschnitt in der Geschichte der sizilianischen Marionetten: Christliche Missionare begannen, die Kunst des Marionettenspiels für die Propagierung des christlichen Glaubens zu instrumentalisieren und schließlich für sich zu beanspruchen. Nicht mehr profane Inhalte sollten gespielt, sondern die christliche Lehre verkündet werden! Für die oft über Generationen weitergereichte Profession des Marionettenspiels ein Hindernis: die mündlich tradierten Stücke begannen in Vergessenheit zu geraten. Unter Androhung der Exkommunikation sahen sich Siziliens opranti – die oft von Kindesbeinen an ausgebildeten Marionettenspieler – zur Emigration gezwungen. Nördlich der Grenzen des Kirchenstaates empfing man sie mit offenen Armen. Binnen weniger Jahrzehnte hatten sich die opranti über weite Teile Europas ausgebreitet: Von Venedig über die Alpen nach Deutschland und Frankreich bis über die Ostsee nach Skandinavien. Als „fremdländisches Kuriosum“ wurden sie insbesondere von der Aristokratie geschätzt. Zur Vergrößerung des eigenen Prestiges engagierten kleiner wie großer Adel die süditalienischen Puppenspieler am eigenen Hof, sodass sich das Marionettentheater bis zum 18. Jahrhundert als ein Bestandteil der westeuropäischen „Hochkultur“ etablierte. Für die emigrierten opranti und deren Familien bahnte sich damit ein neues Kapitel an: Die Rückeroberung des öffentlichen Raumes auf italienischem Boden.
Von der Oper Venedigs in die Palazzi Neapels: Der Siegeszug der opranti in Italien
Die allgemeine Popularität der pupi, wie die süditalienischen Marionetten bis heute genannt werden, leitete im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine Kommerzialisierung ein: Das sizilianische Puppentheater hielt Einzug in den europäischen Opernhäusern. Für diese schrieben zeitgenössische Komponisten wie Mozart, Haydn und Ziani eigens für das Marionettenspiel angedachte Partituren.
Das sich parallel abspielende Ende der Gegenreformation verhalf den opranti zum weiteren Siegeszug auf italienischem Boden: Die römisch-katholische Kirche ließ nunmehr die profanen Inhalte des Marionettentheaters gewähren. Auch in den Musikhäusern Roms wurde von nun an die Kunst des Marionettenspiels dargeboten.
Was in Rom nicht fehlte, durfte man wiederum in den Metropolen Süditaliens nicht entbehren. Im ständigen Konkurrenzkampf um Prestige setzte auch der Adel des Königreichs beider Sizilien auf Nachahmung. Das unter spanischer Fremdherrschaft stehende Regno delle due Sicilie umfasste Sizilien und das süditalienische Festland bis an die Grenzen des Kirchenstaates. Zur politischen Legitimation griff man auf kulturelle Adaption zurück: Nach außen gab sich der spanische Adel italienisch, indem Traditionen und Modeerscheinungen kopiert wurden. Dies galt auch für das Marionettentheater: Ende des 18. Jahrhunderts fanden die ersten Aufführungen in den Palazzi Neapels und Palermos statt.