Das Jahr 2020, der Start der Pandemie, ist in meiner Erinnerung gekennzeichnet durch eine seltsame Mischung aus Distanz und Verbundenheit. Eine Verbundenheit meiner Generation angesichts einer universellen Erfahrung des Neuen und Ungewissen, die sich besonders im Internet durch einen neuen Fokus auf mental health und nicht zuletzt durch quarantine trends äußerte. Während die einen massenweise Brot backten und die anderen Animal Crossing wiederentdeckten, fing ich im Sommer 2020 an, Rollschuh zu laufen. Im Internet hatte ich wie viele andere auch die viralen Videos der Berlinerin Oumi Janta gesehen, die eine solche Lebensfreude versprühten, dass ich mich auch mal am Rollschuh-Tanz versuchen wollte. Seitdem ist wahrscheinlich keine Woche vergangen, in der ich nicht skaten war. Selbst an Heiligabend habe ich, während meine Familie beim Gottesdienst war, die leeren Straßen genutzt, um zu üben. Ich mache schon lange und gerne Sport, aber noch nichts hat mich so sehr mit Freude und dem Gefühl von Freiheit erfüllt, wie mich auf Rollen zur Musik zu bewegen. Dass Roller Skating mehr als eine individuell ausgeübte Sportart ist, dass es politisch ist und hinter ihm eine eigene Kultur steht, ist mir erst mit der Zeit klargeworden.

Der Ursprung des Rollschuhs 

Die ersten Spuren der Schuhe auf Rollen finden sich in Europa. So soll der Belgier Jean-Joseph Merlin sich bereits 1759 zwei Rollen unter die Füße geschnallt haben, um das Schlittschuhlaufen nachahmen zu können. Im Jahre 1863 entwickelte der US-Amerikaner James Plimpton den Quad-Skate, der im Gegensatz zu den Inline-Skates nebeneinanderliegende Rollen hat und dem Rollschuh von heute am nächsten kommt. Aufgrund verstellbarer Achsen lassen sich durch die Verlagerung des Körpergewichts entweder die inneren oder die äußeren Rollen stärker belasten, was das Steuern nach rechts und links ermöglicht. Plimpton kreierte eine Nachfrage für das von ihm patentierte Produkt, indem er 1866 den ersten Rink, zu Deutsch die erste Rollschuhbahn, eröffnete und das Rollschuhfahren als Freizeitaktivität insbesondere für junge Männer und Frauen vermarktete. Zwanzig Jahre später hatte sich Roller Skating in den USA bereits etabliert und schwappte von dort wieder zurück nach Europa. Der Skate-Hotspot Europas verortete sich damals wie heute in London, wo sich besonders unter der High Society mit dem sonntäglichen Rollschuhlaufen eine „rinkomania“ breitmachte. Die sportlichen Anforderungen des Roller Skating lockten besonders junge Menschen in die Rinks und boten ihnen so die Möglichkeit, sich dem Blick der mütterlichen Obrigkeit zu entziehen und dem anderen Geschlecht ohne die ausladenden Anstandsnormen der damaligen Zeit näherzukommen. Dass Frauen überhaupt Sport machten und das unter den gleichen Voraussetzungen und am selben Ort wie die Männer, war zu dieser Zeit alles andere als selbstverständlich. Bereits in dieser Anfangsphase des Rollschuhlaufens bahnte sich der befreiende Effekt an, den der Sport sowohl auf das Individuum als auch auf gesellschaftliche Dynamiken haben kann.

Bevor sich Plimptons Quad-Skates endgültig durchsetzten, waren die Rollen typischerweise hintereinander. Mit dem Aufschwung der modernen Inline-Skates in den 90er Jahren kam der Trend wieder auf.

Maskenball auf Rollschuhen, London, 1877

Warum Roller Skating politisch ist

Schon seit seiner Erfindung 1863 war das Rollschuhlaufen besonders in den USA von strukturellem Rassismus geprägt. Dass weiße Besitzer eines Rinks keine Schwarzen Skater:innen hineinließen, war keine Seltenheit und führte dazu, dass eine Schwarze Skate-Community entstand, die für ihre Rechte protestieren musste. Als Antwort auf die Civil Rights Bewegung veranstalteten Rinks sogenannte Theme Nights speziell für Schwarze Menschen. Während vor den Gebäuden die Polizei und weiße Demonstrant:innen standen, war innen ein sicherer Hafen, in dem sich eine starke generationenübergreifende Gemeinschaft formte, für die Roller Skating mehr als nur ein Zeitvertreib war. Auch die Musik als essenzieller Bestandteil der rhythmusbasierten Skate-Styles, die sich von da an entwickelten, wurde von Schwarzen DJs und Rappern geliefert, denen andere Auftrittsorte außerhalb der Szene häufig verschlossen blieben. Queen Latifah und Dre sind nur zwei der vielen ikonischen Schwarzen Künstler:innen, die ihre Karriere in Rinks gestartet haben. Die Entstehung des Hip-Hop geht Hand in Hand mit der Entstehung von diversen Skate-Styles unter Schwarzen Skater:innen, darunter z.B. Jam Skating, das Elemente des Breakdance integriert und zu einem Großteil auf Freestyle beruht.

Auch heute sind Schwarze Skate-Communities ein wichtiger Raum der Organisation für Antirassismus, Feminismus und LGBTQ-Rechte. So fanden 2020 in den USA im Zuge von Black Lives Matter mehrere Rollschuhdemonstrationen statt. Ein großer und vor allem sichtbarer Teil der Skate-Community ist ebenfalls Teil der LGBTQ-Community. Viele Skate-Parties werden ausdrücklich zum Space für queere Menschen erklärt. Unter dem Motto ,,Take Up Space” veranstaltet beispielsweise Bily Ruiz aus San Diego jedes Jahr eine Skate-Party ,,zu Ehren Schwarzer, indigener und anderer LGBTQ-Skater:innen of Color”. Bily ist selbst Schwarz und nicht binär und setzt sich als feste Größe der Skate-Community kontinuierlich für die Sichtbarkeit nicht-weißer und queerer Menschen ein. Dieser Gemeinschaftszusammenhalt und die Organisation insbesondere Schwarzer Skater:innen ist außerdem der Grund für das Überleben der Rinks in Zeiten, in denen im Mainstream das Skaten nicht im Trend liegt.

Da sind wir nun auch bei dem großen Problem, das der „Quarantäne-Trend“ Rollerskating darstellt: Während Skaters of Color den Sport jahrelang am Leben gehalten, die Styles weiterentwickelt und ihre Kunst online geteilt haben, sind es in erster Linie weiße Skater:innen, deren Videos auf TikTok und Instagram viral gehen und denen lukrative Werbedeals angeboten werden. Um dieses Whitewashing zu vermeiden, ist es essenziell, sich der Kultur und der politischen Errungenschaften des Roller Skating bewusst zu sein. Wer so wie ich gerne auf Social Media Skate-Videos guckt, muss hinterfragen, ob die Personen, die dort am häufigsten erscheinen, die Diversität des Rollschuhlaufens wirklich widerspiegeln.

 

Die Dokumentation ,,United Skates” hat 2019 einen Einblick in die Skate-Kultur geschaffen. Allein der Trailer stellt eindrucksvoll dar, wie facettenreich die Thematik ist.

 

Bily Ruiz auf Instagram:

 

Europa, Deutschland, Bremen

Das Rollschuhlaufen hat in Europa leider nur die Hauptstädte wirklich erreichen können. Besonders Londons Skate-Kultur ist allerdings äußerst lebendig. Neben regelmäßigen Veranstaltungen in gleich mehreren Rinks finden fast täglich Skate-Treffen statt, zu denen jede:r kommen kann – bei gutem Wetter in Londons Parks, auf Basketballplätzen und am Ufer der Themse, bei schlechtem Wetter in Parkhäusern.

In Deutschland gibt es leider keine Rinks, die ausschließlich Skate-Parties veranstalten. Hin und wieder widmen Discos in Berlin und Hamburg einzelne Abende der Skate-Disco, doch spätestens seit Corona ist auch das zur Seltenheit geworden. Abseits vom Rollschuhkunstlauf, der sich zum Jam- und Rhythm-Skating aber in etwa so verhält wie Ballett zu Hip-Hop, findet man in Deutschland nicht viele Rollschuhläufer:innen. Während ich also auf das Gemeinschaftsgefühl und die Möglichkeit, mit und von anderen zu lernen, verzichten muss, gibt es gerade hier in Bremen ein Event, das diese Lücke füllt: Im Sommer findet an jedem ersten Dienstag des Monats die Bremer Skate Night statt, für die lange Straßenstrecken Bremens gesperrt werden. Mit lauter Musik und Hunderten von Menschen geht es dann einmal durch das Viertel, die Neustadt, Findorff und um zu. 2021 war ich dort zwar die einzige auf Rollschuhen unter Inline-Skater:innen, habe aber zahlreiche Inline-Profis kennengelernt und festgestellt, dass sich viele Tricks übertragen lassen. Die von ehrenamtlichen Skater:innen organisierte Skate Night kann ich allen Bremer:innen wärmstens empfehlen, die sich auf Rollen einigermaßen sicher fühlen.

 

 

Victoria Park, London

 

Impressionen der Londoner Skate-Community:

 

Bremer Skate Night 2018