Im Mai 1970 protestieren tausende US-Bürger gegen die militärische Invasion Kambodschas. Dabei kommt es an der Kent State University im Bundesstaat Ohio zu den ersten Todesopfern seit Beginn der Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg. Noch im selben Jahr schreibt der Musiker Neil Young über das „Kent State Shooting“ eine Protesthymne. Während der fünf Jahrzehnte, die seit seinem Erscheinen vergangen sind, hat sich Youngs Song  „Ohio“ in das kollektive Gedächtnis der westlichen Protestkultur eingebrannt.   

“Tonight, American and South Vietnamese units will attack the headquarters for the entire Communist military operation in South Vietnam. This key control center has been occupied by the North Vietnamese and Vietcong for five years in blatant violation of Cambodia’s neutrality.”

Noch glauben US-Präsident Richard Nixon und sein Berater Henry Kissinger den Krieg in Vietnam für nicht verloren. Im Frühjahr 1970 werden auf Geheiß Nixons die Kampfhandlungen bis nach Kambodscha und Laos ausgeweitet. Zwar werden Hunderttausende von US-Soldaten in den folgenden Monaten aus Südostasien abgezogen. Jedoch nur, um mit großflächigen Bombardements zu neuen Formen des militärischen Terrors zu greifen.

Der bürgerlichen Opposition kamen diese Worte aus dem Munde des „Vertreters der westlichen Demokratie“ einem Affront gleich. Einer Opposition, bestehend aus Jugendlichen und Erwachsenen, Schülern und Studenten, Intellektuellen und Arbeitern, die sich nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern in der ganzen westlichen Welt seit den 1960er Jahren zusammenfand, um gegen den brutalen Imperialismus der Westmächte zu demonstrieren. Die Erklärung einer Ausweitung des Vietnamkrieges gibt vor allem Jugendlichen und Studierenden Anlass zu landesweiten Protesten. So auch an der Kent State University im Bundesstaat Ohio, im Süden von Cleveland gelegen. 300 Studierende versammelten sich Anfang Mai auf dem Campusgelände zu friedlichen Demonstrationen.

Doch seit geraumer Zeit hatten Verdruss und Desillusion in der Gegenkultur Nordmaerikas zu keimen begonnen. Das dreitägige Woodstock-Festival vom 15. bis zum 18. August 1969 hatte vielleicht bewiesen, dass Hunderttausende von Menschen mit Visionen, Hoffnungen und Träumen zu friedlichem Protest in der Lage sind. Woodstock hatte aber auch gezeigt, wie gering der Einfluss der protestierenden „Hippie-Bewegung“ auf die Entscheidungen im Oval Office tatsächlich war: Präsident Nixon gedachte nicht zu einem Augenblick, seinen außenpolitischen Kurs in Asien zu ändern. Die Verdrossenheit vieler amerikanischer Jugendlicher und junger Erwachsener, die seit der zweiten Jahreshälfte 1969 immer mehr zugenommen hatte, ließ eine Radikalisierung der Proteste daher immer absehbarer werden. Zu groß waren die erlebten Enttäuschungen, zu tief die Kluft zwischen ihnen und der konservativen Mehrheitsgesellschaft geworden, die weiterhin auf dem Dogma eines „Feindes im Osten“ beharrte.

1970 zählt Kent etwas mehr als 20.000 Einwohner. Mit der „Kent State University“ besitzt die Stadt zu dieser Zeit eine der größten Universitäten des Bundesstaates Ohio. Damit wächst Kent in den 1960er Jahren zu einem Zentrum der Studentenbewegung heran.

In Kent endeten die Proteste daher nicht mit jener Friedfertigkeit, wie sie Stunden zuvor begonnen hatten: In der Dunkelheit gingen einige der Oppositionellen vom friedlichen Protest zu Randale über. Die Wut einzelner Demonstranten entlud sich im Vandalismus gegen städtische Einzelhändler. James Rhodes, Gouverneur von Ohio, entschied sich daraufhin zur Entsendung der bewaffneten Nationalgarde auf das Universitätsgelände – eine letztendlich unverantwortliche Überreaktion, denn das Ausmaß an „Vandalismus“ war zu diesem Zeitpunkt tatsächlich nur geringfügig gewesen.

Erst am darauffolgenden Abend begann sich die Lage ernsthaft zuzuspitzen: Mitten auf dem Campusgelände loderten die Flammen aus dem Gebäude des Reserve Officer Trainings Corps, kurz ROTC. Diese bis heute bestehende Abteilung der US-Armee ist an Colleges und Universitäten für die Rekrutierung und Ausbildung von jungen Offizieren zuständig. Dass gerade das Hauptquartier des ROTC an der Kent State University Ziel eines Brandanschlags wurde, war der konservativen Regierung gegebener Anlass zu weiterer Polarisierung gegen die als „Faschisten“ und „Kommunisten“ diffamierten Demonstrierenden: Die Präsenz der Nationalgarde wurde verstärkt, das Versammlungsrecht massiv eingeschränkt.

13 Schüsse in 67 Sekunden

Am 4. Mai war die Lage auf dem Campus der Kent State University bereits derart angespannt, dass sich die Studierenden über das von Universität und Nationalgarde verhängte Versammlungsverbot hinwegsetzten, um sich in der Mittagszeit erneut zum Protest gegen Nixons Außenpolitik und die Anwesenheit der Nationalgarde zusammenzufinden. Nun waren es allerdings nicht mehr 300 Teilnehmende wie vor wenigen Tagen, sondern mehr als 1.500 Demonstrierende, die der bewaffneten Nationalgarde gegenüberstanden. Vollkommen unerwartet entfernte sich schließlich eine Gruppe von Nationalgardisten, kurz darauf wurde die Luft von Gewehrsalven erschüttert – 13 Schüsse in 67 Sekunden. In diesen wenigen Augenblicken wurden vier Studierende getötet, neun weitere verletzt. Zwei der von den Schüssen Getroffenen waren nur zufällig unter die Gruppe der Demonstrierenden geraten und überquerten das Campusgelände zur nächsten Vorlesung, als die Schüsse fielen. Die Gründe für das folgenreiche Handeln der Nationalgarde sind bis heute nicht eindeutig geklärt worden. Zeugenaussagen reichen von bloßer Willkür der Nationalgardisten bis hin zu bewussten Provokationen seitens einzelner Demonstrierender.

Ganz gleich, welche Umstände zu den ersten Todesopfern während einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg geführt hatten: Die Geschehnisse auf dem Campus der Kent State University vertieften die ohnehin bestehende Kluft zwischen Kriegsgegner*innen und -befürworter*innen umso mehr. Auch im Ausland blieben die Reaktionen auf das Kent State Shooting nicht aus. Binnen kürzester Zeit verbreitete sich die Kunde vom Kent State Shooting bis zum anderen Ende der westlichen Hemisphäre. Sieben Stunden, nachdem in Ohio die Schüsse gefallen waren, wurde das Amerikahaus in Westberlin von APO-Aktivisten in Brand gesetzt.