Viele Filme und Romane spielen in Hotels. Sie eignen sich als Mikrokosmos zur Darstellung von Gesellschaften. Personal und Gäste werden zu exemplarischen Vertreterinnen und Vertretern von Personengruppen. Zu diesem Zweck werden sie oft genug karikiert, um Besonderheiten anschaulich zu machen. Das kann zu Klamauk führen wie im britischen Film The Best Exotic Marigold Hotel (2011, Regie John Madden). Auf farbenprächtige Absurdität setzte Regisseur Wes Anderson mit The Grand Budapest Hotel (2014). In seiner lose auf Erzählungen von Stefan Zweig basierenden Tragikomödie sind die opulenten Raumausstattungen wahlweise leuchtend grell oder rauchig verschlissen, je nachdem, ob die Handlung vor bzw. während dem Zweiten Weltkrieg oder in sozialistischen Zeiten spielt. Anderson zeigt das Hotel als Ort, der sich dem Lauf der Zeit nicht entziehen kann, erzwungenen Änderungen aber mit Würde begegnet.

Die Welt im Hotel – die Welt als Hotel

Kaum ein Hotel, das nicht die Zimmer, das Ambiente, den Service in den höchsten Tönen bewirbt. Doch ein Hotelaufenthalt kann auch alles andere als angenehm ausfallen. Dabei sind laute Nachbarn, Straßenlärm, schmutzige Badezimmer und magere Auswahl am Frühstücksbuffet zu vernachlässigende Übel, wobei sie einem durchaus den letzten Nerv rauben können. So zeterte 1876 Fjodor Dostojewski bei einem Kuraufenthalt in Bad Ems in einem Brief an seine Frau Anna:

Dieses Zimmer nebenan […], von meinem jetzigen nur durch eine verschlossene Tür getrennt, belegten zwei soeben angereiste Damen, Mutter und Tochter, anscheinend aus Griechenland; sie sprechen griechisch und französisch, aber, kannst Du Dir das vorstellen, sie reden ohne Unterlaß, besonders die Mutter; und wenn sie nur sprechen würden, aber sie schreien buchstäblich, und vor allem ununterbrochen, verstummen nicht für eine Sekunde. Im ganzen Leben ist mir so eine unermüdliche Geschwätzigkeit noch nicht begegnet.

Seine „griechischen Elstern“ lassen ihm keine andere Wahl als in eine andere Etage zu ziehen.

Im 20. Jahrhundert kam es in der Sowjetunion zu absurden Situationen, als Menschen zwangsweise in Hotels untergebracht wurden, um von den Geheimdiensten unter Kontrolle gehalten zu werden. Nicht selten lagen die „Gäste“ nachts wach und lauschten darauf, vor welcher Zimmertür die Schritte der NKWD-Mitarbeiter halten würden. Die dortigen Bewohnerinnen und Bewohner wie Wassili Ulrich verschwanden dann, meist auf Nimmerwiedersehen. Eugen Ruge erzählt in seinem 2019 erschienenen Roman Metropol von dieser nervenzehrenden Ungewissheit im Moskauer Hotel Metropol. Bully Herbigs Film Hotel Lux (2011) verpackt die Schicksale von deutschen Emigrantinnen und Emigranten im ebenfalls in Moskau gelegenen titelgebenden Hotel in Klamauk und streicht die Absurdität der Lage heraus.

Gleich lebenslang im Hotel Metropol unter Hausarrest gestellt ist der Titelheld in Amor Towles‘ Roman A Gentleman in Moscow (2016). Graf Alexander Rostov wird hier 1922 zum unfreiwilligen Dauergast und schafft es erst 1954, den Aufsehern in Gestalt des Hoteldirektors und seiner Gehilfen zu entkommen. In diesen Jahrzehnten wandelt sich Rostov vom Gast zum Mitarbeiter, der mit seinem feinen Gaumen und seinen ausgesuchten Umgangsformen als Berater des Küchenchefs und Kellner im Restaurant seiner Existenz neuen Sinn verleiht. Im Restaurant ist es auch, dass er sich in ein Gespräch zweier Ausländer einmischt. Der Deutsche behauptet, Russlands einziger Beitrag „zur Kultur des Westens“ sei der Wodka. Das kann Rostov, dem Towles nicht umsonst den Namen einer der wichtigsten Familien in Tolstojs Krieg und Frieden gegeben hat, nicht unwidersprochen stehenlassen. Mühelos kommt er der Aufforderung des Deutschen nach, drei Beiträge zu nennen. Als Nummer eins führt er Tschechow und Tolstoj an: Tschechow als weltweit unübertroffenen Meister der Kurzgeschichte und Tolstoj als Autor von Romanen mit gewaltiger Reichweite. Rostovs Nummer zwei ist Tschaikowski, genauer gesagt erster Akt, erste Szene des Nussknackers. Niemand habe den Weihnachtsgeist so gut eingefangen wie Tschaikowski mit dem Mädchen Mascha, das in der Weihnachtsnacht einschläft und um Mitternacht den Weihnachtsbaum wachsen sieht. Rostov ist überzeugt: „Ich sage Ihnen – nicht nur wird jedes europäische Kind des zwanzigsten Jahrhunderts die Melodien aus der Nussknacker-Suite kennen, es wird sich auch das Weihnachtsfest so vorstellen, wie es in der Suite dargestellt wird“. An Nummer drei, Kaviar, tut sich die Gesprächsrunde gütlich und stimmt so der Auswahl des Grafen zu.

Originalausgabe 2016

Towles greift mit seiner Szene eine alte russische Debatte auf. Im Streit der Slawophilen mit den Westlern haben sich im 19. Jahrhundert so ziemlich alle Größen der russischen Intelligencija zu Wort gemeldet und positioniert. Dostojewski etwa erhob Russland wegen seiner Beibehaltung der Orthodoxie zur Weltenretterin, während Westeuropa den Mammon anbete. Turgenjew war gegenteiliger Ansicht. In seinem Roman Rauch (Dym, 1867) lässt er Potugin am Beispiel des Londoner Kristallpalastes von der ersten Weltausstellung 1850 erklären, Russland habe nichts zur Weltkultur beigetragen:

In diesem Frühjahr hab ich den Kristallpalast bei London besucht. In diesem Gebäude ist, wie Sie wissen, so etwas wie eine Ausstellung all dessen untergebracht, was menschlicher Erfindergeist ersonnen hat – eine Enzyklopädie der Menschheit, so muss man sie schon nennen. Nun, während ich also an all diesen Maschinen, Werkzeugen und Standbildern großer Männer vorüberwandelte, kam mir der Gedanke: Wenn einmal ein Erlaß herauskäme, daß beim Verschwinden eines Volkes vom Antlitz der Erde gleichzeitig auch all das aus dem Kristallpalast verschwinden müßte, was jenes Volk erdacht und erfunden hat, könnte unser Mütterchen, das rechtgläubige Rußland, in den Tartarus versinken, ohne daß es auch nur ein einziges Nägelchen oder Nädelchen aufstören würde, das teure; alles könnte seelenruhig an seinem Platz bleiben, denn nicht einmal den Samowar, die Bastschuhe, das Krummholz und die Knute, diese unsere berühmtesten Erzeugnisse, haben wir erfunden. (Kapitel 14)

Der russische Beitrag zur, wahlweise, westlichen, europäischen oder Weltkultur bewerten wurde und wird immer wieder in Zweifel gestellt oder vehement verteidigt. Unabhängig von der Position ist der Umstand interessant, dass die Frage überhaupt gestellt wird. Kaum ein anderes Land hadert so mit seiner Bedeutung und changiert so extrem zwischen Minderwertigkeitskomplex und Überlegenheitsgefühl. Die Frage, was zum Beispiel Italien denn zur europäischen Kultur beigetragen habe, wirkt angesichts der überbordenden italienischen Kulturgeschichte an sich schon absurd. Nicht weniger abwegig ist es, nach dem französischen Beitrag zu fragen. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Und den Schweizer, der Orson Welles‘ bissigen Kommentar im Film The Third Man (1949), zustimmen würde, die Schweiz habe der Welt nicht mehr gegeben als die Kuckucksuhr, muss man mir erst noch zeigen.

Nationale Beiträge zur Kultur lassen sich problemlos auflisten. Welche davon als genuin europäisch zu werten sind, ist schon eine andere Frage.

Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm

Originalausgabe 2018

Dt., 2. Auflage 2020

.uropa als Freilichtmuseum?

Vor diesem Hintergrund greift nun der in Italien lebende Niederländer Ilja Leonard Pfeijffer mit seinem Roman Grand Hotel Europa in den Diskurs ein. Bei ihm wird das Hotel zur Metapher für Europa. Europa als Festung, Europa als Bollwerk – das sind die Bilder, die ansonsten häufig mit Europa verbunden werden. Hier nun Europa als Hotel. Kann das funktionieren?

Es funktioniert in dem Sinn, dass Pfeijffer Europa als kulturgeladenen Raum der Schönheit auffasst, der seine besten Zeiten aber hinter sich hat, gerade so wie das verschlafene Hotel in Italien, das von seinem neuen chinesischen Besitzer umgekrempelt wird. Das Paganini-Porträt macht Platz für ein Allerweltsbild des Eiffelturms, der Kronleuchter wird mit Swarovski-Kristallen und bunten LED-Lampen gepimpt. Der Ich-Erzähler Ilja zieht sich hierhin zurück, um das Ende seiner Beziehung zu verkraften und einen Roman über Tourismus zu schreiben. Die Rückschau auf seine Liebe zu Clio trägt Züge einer Indiana-Jones-Schatzsuche, statt der verlorenen Bundeslade suchten Ilja und Clio den letzten Caravaggio. Dazu kommen Auslassungen unterschiedlicher Figuren über die zerstörende oder errettende Macht des Tourismus, Europas politische Bedeutungslosigkeit und amerikanische Kulturbanausen, Ausführungen, die sich nicht selten zu Traktaten auswachsen und auch repetitiv daherkommen. Hier wäre weniger mehr gewesen.

Den ostmitteleuropäischen Intellektuellen Patelski lässt Pfeijffer auf die Frage, woher er komme, antworten: „Aus Europa“. Während des Abendessens mit Ilja referiert er die fünf Charakteristika der Idee Europas nach George Steiner (1929-2020), denen Patelski zustimmt.

Europa ist demnach (1.) charakterisiert durch die Allgegenwärtigkeit von Kaffeehäusern als Orten des Austauschs zivilisierter Menschen.

Die Natur Europas ist (2.) gezähmt, aber auch gepflegt wie ein Garten.

Europa ist (3.) „durchtränkt von der eigenen Geschichte“ und „ertrinkt in ihr. Hier gibt es derart viel Vergangenheit, dass für die Zukunft kein Platz mehr ist.“ (S. 124)

Für Patelski wurde Europa (4.) „in Athen und Jerusalem geboren und ist die Frucht der Vernunft und der Offenbarung.“ (S. 125) Das typisch Europäische am zweitausendjährigen Ringkampf zwischen Glaube und Vernunft sei demnach deren Koexistenz.

Und zuletzt ist Europa (5.) dem Untergang geweiht und „weiß um seinen Verfall“ (S. 127).

Ilja erhebt den Garten, Patelskis und Steiners zweiten Punkt, zu einem Park, dann zu einem Freilichtmuseum, einem „Erholungsgebiet für den Rest der Welt“ (S. 130).

Sowohl Steiners Thesen als auch Pfeijffers Romanfiguren vertreten die Grundidee, Europas Energie sei aufgebraucht, seine Schaffenskraft erschöpft. Anstelle einer Begründung dieser Annahme liefert Grand Hotel Europa  schier endlose illustrative Beispiele dafür, dass alles Europäische inzwischen von nicht aus Europa Stammenden übernommen worden sei. Am plakativsten geschieht dies in der Szene, in der ein zwölfjähriges chinesisches Mädchen virtuos Paganini spielt und die greise einstige Besitzerin des Hotels in der Nacht darauf stirbt. 

Mehr als das Vergehen der Zeit und die somit anwachsende Geschichte werden als Begründung für Europas angeblich anstehenden Abtritt von der Weltbühne nicht geliefert. Man mag an die mittelalterliche Idee der “translatio imperii” denken, mit der sich das Heilige Römische Reich in die Tradition des Römischen Imperiums stellte. Für Russland reklamierte Starez Filofei im 16. Jahrhundert Moskau nach Rom und Konstantinopel als “drittes Rom” und prognostizierte, ein viertes werde es nicht geben. Nun entwirft Pfeijffer keine Herrschaftstheorie, sondern legt einen Unterhaltungsroman mit dem Potential zur Denkanregung vor. Er muss nicht begründen – der Leser oder die Leserin sollte dagegen überlegen, ob die gezeichnete “Europadämmerung” zum einen realistisch, zum anderen unausweichlich ist.    

 

Blattgold und Badewanne

Anders als Udo Lindenberg möchte ich, wie Towles’ Rostov, nicht mein ganzes Leben im Hotel verbringen. Wenn ich aber in einem wohne, sind mir, wie bei Theatern auch, üppig gestaltete Orte mit Plüsch, Schnörkeln und Blattgold durchaus sympathisch, sofern sie mit stabilem W-Lan und modernem Badezimmer ausgestattet sind. Muss Freude an der Vergangenheit sich in Nostalgie ausdrücken? Die Zwangsläufigkeit des Niedergangs (bei Steiner) bzw. der kulturellen Verflachung (bei Pfeijffer) sehe ich nicht. Aus der Tatsache, dass Kulturgeschichte kommerzialisiert wird, eine Notwendigkeit abzuleiten, ist ein Trugschluss.

Iljas und Clios Neuanfang in Dubai am Ende von Pfeijffers Roman funktioniert für den Text. Als Gegenmodell oder Alternative zu Europa ist der Wüstenstaat nur bedingt geeignet. Towles‘ Rostov gelingt die Flucht aus dem Hotel und er strebt zum zerstörten Familiensitz, ergibt sich also der Nostalgie. Ich blicke lieber in die Zukunft und hoffe, dass mit dem nächsten Hotelaufenthalt auch ein gerüttelt Maß Muße verbunden ist, sodass ich in der hoteleigenen Badewanne in den nächsten 500-Seiten-Schmöker versinken kann.