Im August 1865 schrieb Fjodor Dostojewski aus Wiesbaden an seinen russischen Schriftstellerkollegen Iwan Turgenjew in Baden-Baden:

Ich fühle mich abscheulich und schäme mich, Sie mit mir zu belästigen. Aber Sie sind schlichtweg momentan die einzige Person, an die ich mich wenden kann, und zweitens sind Sie sind viel klüger als die anderen, und deshalb ist es für mich moralisch einfacher, mich an Sie zu wenden. Worum es geht: Ich wende mich an Sie wie ein Mensch an einen Menschen und bitte Sie um 100 (einhundert) Taler. Ich erwarte einen Betrag von einer russischen Zeitschrift (Lesebibliothek), wo man mir bei meiner Abreise versprochen hat, etwas (wörtl.: ein Tröpfchen) Geld zu schicken, und auch noch von einem anderen Herrn, der mir helfen soll. Es versteht sich von selbst, dass ich es Ihnen wohl nicht früher als in drei Wochen zurückgeben werde. Aber vielleicht gebe ich es Ihnen doch schon früher. Auf jeden Fall einen Monat. Ich fühle mich schlimm (ich dachte, es würde schlimmer sein), aber vor allem schäme ich mich, Sie zu belästigen, aber wenn man ertrinkt, was soll man tun?

Fjodor Dostojewski

Welcher kluge Mensch könnte eine so schmeichelhaft vorgetragene Bitte ausschlagen, noch dazu von jemandem, der den Adressaten als „Bester und hochverehrter Iwan Sergejewitsch“ bezeichnet? Der Anfang des Briefes ist gelungen, der Schluss mit der Bitte angemessen demütig. Strategisch unklug ist der Mittelteil gestaltet, in dem Dostojewski von Glück und Pech beim Roulettespiel berichtet:

Aber [im Jahr 1863] habe ich in Wiesbaden in einer Stunde bis zu 12.000 Franken gewonnen. Obwohl ich jetzt nicht daran dachte, meine Lebensumstände durch Glücksspiel zu verbessern, wollte ich doch 1.000 Franken gewinnen, um zumindest diese drei Monate über die Runden zu kommen. Fünf Tage bin ich nun schon in Wiesbaden und ich habe alles verspielt, restlos alles, selbst meine Uhr, und sogar dem Hotel schulde ich noch etwas.

Welcher kluge Mensch wollte einem notorischen Glücksspieler noch Geld leihen? Wie hohl wirken nach diesem arglosen Geständnis die Versicherungen, in einem Monat oder auch schon in drei Wochen, vielleicht sogar noch früher, würde Turgenjew sein “Tröpfchen Geld” zurückbekommen. Turgenjew (Autor von „das Adelsnest“, „Rauch“, „Väter und Söhne“ etc.) wählte seinem Charakter entsprechend den goldenen Mittelweg und schickte statt der erbetenen 100 immerhin 50 Taler, Dostojewski eskalierte ganz nach seiner Art die Situation. Nicht drei Wochen und nicht einen Monat, sondern elf Jahre später gab er Turgenjew das Geld zurück.

Iwan Turgenjew (1818-1883), Bild aus den 1870ern

Dostojewskis Biographie wirkt phasenweise wie eine Seifenoper. Da verkauft er die Rechte an seinen Werken und verpfändet einen noch nicht geschriebenen Text, den er aus Zeitnot einer jungen Stenotypistin diktiert. Wie es in Seifenopern eben der Fall ist, verlieben sich die beiden ineinander. Das Manuskript wird im letzten Moment fertig, sie nimmt seinen Heiratsantrag an – wäre es ein Märchen, wäre an dieser Stelle Schluss. In bester Seifenopermanier folgt aber die nächste Wendung der Ereignisse mit Flucht vor Schuldnern ins Ausland, Freude über die erste Schwangerschaft, Trauer über den Tod des Kindes, Spielschulden, Krankheit … Ganz schön dick aufgetragen vom Leben und in Dramatik und Emotionalität jeder Telenovela überlegen.

Dabei hätte Anna Grigorjewna Snitkina es besser wissen können. Mit dem “Spieler” (Igrok) diktierte Fjodor Michailowitsch ihr schließlich das ganze Drama der Spielsucht. Doch bereits in ihrem Fall wog gegenüber dem schnöden Geldproblem die literarische Kunstfertigkeit des Schriftstellers schwerer. Die dem Zeitmangel geschuldete notgedrungene Kürze des „Spielers“ mag auch dazu beigetragen haben. Dostojewskis Werke nahmen ja sonst gern epische Züge an. Bezeichnend ist etwa in den „Dämonen“ (Besy) der Vermerk auf Seite 53 (PSS Bd. 10), hier beginne nun recht eigentlich die Chronik. Statt über 50 Seiten Vorspann demonstriert „Der Spieler“ komprimiert Dostojewskis Können, vor allem seinen selten vermuteten Humor und die treffende Schärfe seiner Charakterzeichnungen: die starrsinnige babulenka – großartig!; die geldgierige Familie, die heuchlerisch schmeichelnd ihrem Ableben entgegenfiebert – grandios!

Als Mensch war Fjodor Michailowitsch Dostojewski, dessen Geburtstag sich 2021 zum 200. Mal jährt, weder der einfachste noch der angenehmste Umgang. Doch nicht an seinen Taten sei der Schriftsteller zu messen, sondern an seinen Worten, und da vor allem an denen seiner Romane und Erzählungen. Und die sind so gewichtig, dass sie in Vadim Jendreykos Dokumentarfilm (2009) über Swetlana Geier als „Elefanten“ bezeichnet werden. Geier hatte die fünf großen Romane Dostojewskis ins Deutsche übersetzt und dabei auch etablierte Titel geändert. So wurde aus dem „Jüngling“ (Podrostok) „Ein grüner Junge“ und statt „Schuld und Sühne“ (Prestuplenie i nakazanie) heißt der wohl bekannteste Roman Dostojewskis bei ihr den Titel „Verbrechen und Strafe“.

Zwei Elefanten (Idiot, Besy [„Dämonen“/“Böse Geister“]) und zwei „Elefäntchen“ (Krotkaja [„Die Sanfte“], Dvojnik [„Der Doppelgänger“])

Neben der elefantösen Bedeutung für russischsprachige und Weltliteratur gleichermaßen ist der Dickhäutervergleich eine mögliche Fortsetzung der ausufernden Dostojewskiforschung. Die Liste der Forschungsthemen (die Auswahl ist weder vollständig noch repräsentativ) umfasst Dostojewski und

  • die Frauen
  • die Liebe
  • die deutsche Literatur
  • Freud
  • Wahnsinn
  • St. Petersburg
  • Tolstoj
  • Recht und Gerechtigkeit
  • Nietzsche
  • the Doors

ine Arbeit mit dem Titel „Dostojewski und das liebe Vieh“ ließe sich hier nahtlos einfügen. Von den metaphorischen Elefanten abgesehen bekommt man es bei Fjodor Michailowitsch schließlich mit allen möglichen Lebewesen zu tun.

Zu nennen sind hier Hunde mit mehr oder weniger langer Lebensspanne, dafür umso größerer Flugweite, siehe „Idiot“ und die von General Ivolgin erzählte Anekdote.

Weiter geht es mit Pferden: Die ergreifendste Szene in „Schuld und Sühne“ ist die Schilderung des Traums, in dem Rodion Raskolnikow das traumatische Ereignis seiner Kindheit erneut durchlebt und mitansieht, wie ein Kutscher sein Zugpferd zu Tode prügelt. Die einfühlsame Schilderung beansprucht alles Lesermitgefühl für das Tier. Für die Pfandleiherin und ihre Schwester bleibt da nichts mehr übrig.

Selbst exotische Vierbeiner umfasst Dostojewskis Bestiarium, man nehme nur die groteske Erzählung „Das Krokodil. Ein ungewöhnliches Ereignis oder Die Passage in der Passage“, in welcher der Petersburger Beamte Iwan Matweitsch vom Krokodil Karlchen verschluckt wird und sich im Krokodilbauch so wohl fühlt, dass er dort bleiben und eine „neue eigene Theorie über die neuen ökonomischen Verhältnisse“ entwickeln will.

Zu Lebzeiten des Autors bald verehrt, bald verachtet, wurden Dostojewskis Werke nach seinem Tod vor allem im Ausland zum Inbegriff der russischen Literatur. Zu Sowjetzeiten hatte man in Russland Schwierigkeiten mit Dostojewski. Umso größer fiel der Dostojewski-Boom in Perestrojka und postsowjetischer Zeit aus, der bald über Lektüre und Diskussion der Texte hinausging. Auch vor dem Jubiläumsjahr wurde Dostojewskis bärtiges Gesicht in Russland kommerzialisiert, es blickt einem von T-Shirts, Tragetaschen, Kühlschrankmagneten und Anstecknadeln entgegen. Längst sitzt nicht mehr nur Viktor Pelevins „Generation P“ (Kultroman der 2000er Jahre) im Café „Arme Leute“: In St. Petersburg und Moskau tragen Restaurants den Namen „Dostoevskij“ und über die Internetseite dostaevsky.ru kann man rund um die Uhr Sushi und „stritfud“ bestellen.

Mit den Texten setzen sich neben der Literaturwissenschaft vor allem literarische Vereinigungen auseinander. Die Deutsche Dostojewskij-Gesellschaft e.V. lädt interessierte LeserInnen jedes Jahr zu Tagungen ein und versorgt sie über Newsletter mit Neuigkeiten.

Stanislaw Lem (1921-2006), Bild aus den 1960ern

Fjodor Michailowitsch Dostojewski wurde am 30. Oktober (julianischer Kalender, damals in Russland verwendet; 11. November nach gregorianischem Kalender) 1821 in Moskau geboren. Er starb am 28. Januar (9. Februar) 1881 in St. Petersburg. Auf das Jahr genau 100 Jahre nach Dostojewski kam der polnische Schriftsteller und Philosoph Stanislaw Lem auf die Welt, 125 Jahre nach Dostojewski starb er. Dostoevskij war für den pessimistischen Lem ein wichtiger Bezugspunkt in seinem Schreiben und Denken. Was Lem in den 1980er Jahren über Dostojewski und in erster Linie dessen “Notizen aus dem Kellerloch” (Zapiski iz podpol’ja) sagte, gilt heute mehr denn je: “[…] alles andere, was diese entsetzlichen Aggressionen und grauenhaften Widersprüche betrifft, und die Höllen der menschlichen Natur – das alles ist absolut aktuell.” (Lem/Bereś 1986, S. 162-163) Nur eins konnte er ihm nicht verzeihen: dass Andrei Tarkowski mit dem Film “Solaris” (1972) nicht Lems Roman, sondern “Schuld und Sühne” verfilmt habe.

Literatur

  • Dostoevskij, Fedor: Polnoe sobranie socinenij v 30 tomach. Tom 28, kniga 2: Pis’ma 1860-1868. Leningrad 1985.
  • Guski, Andreas: Dostojewskij. Eine Biographie. München 2018.
  • Lem, Stanisław: Lem über Lem. Gespräche mit Stanisław Bereś. Aus dem Polnischen von Edda Werfel. Frankfurt am Main 1986.

Dieser Text erschien ursprünglich in leicht abgewandelter Form in der 2021er Ausgabe des „Bulletins der Deutschen Slavistik„, Jahrgang 27, S. 129-131.