Das Mittelmeer als Massengrab: Während die EU sich selber als Verfechterin der Menschenrechte wahrnimmt, scheint das nur innerhalb ihrer Grenzen zu gelten. Wer heute an einer EU-Außengrenze auf der Suche nach Schutz und Sicherheit ankommt, muss mit Gewalt und Zurückweisung rechnen: Die Diskrepanz zwischen der Europäischen Grundrechtscharta und der tatsächlichen Grenzpolitik könnte nicht größer sein. Europa als Festung wurde erstmalig in den 1990er Jahren diskutiert, als ausgelöst durch den Jugoslawienkrieg Menschen in der EU-Zuflucht suchten und der Begriff ist auch heute noch im Diskurs um EU-Außenpolitik präsent. Wie passt die Menschenrechtsrhetorik der Europäischen Union zu dieser Politik der Abschottung?
Eine Recherche des Guardians aus dem Jahr 2021 legt offen, die Grenzkräfte der Mitgliedsländer der EU haben aktiv 40 000 Menschen zurückgewiesen. Diese sogenannten „Pushbacks“ sind illegal und laut dem Guardian verantwortlich für mindestens 2000 Toten an den EU-Außengrenzen, insbesondere im Mittelmeer. Basierend auf Berichten der UN und verschiedener NGOs hat diese Praxis in den letzten Jahren zugenommen, insbesondere während der Pandemie nahm die Gewalt gegen Schutzsuchende an den Außengrenzen zu. „Pushbacks“ sind jedoch nach der Recherche des Guardian nicht die einzige Form von Gewalt, insbesondere Frauen erleben auf ihrer Flucht auch geschlechterspezifische Gewalt. So berichtet der Guardian von einer afghanischen Frau, die an der kroatischen Grenze von Grenzkräften vergewaltigt wurde. An den EU-Außengrenzen scheint die EU-Grundrechtscharta nicht mehr zu gelten, die griechische Küstenwache schickte Schlauchboote in Seenot zurück aufs offene Meer und die italienische Küstenwache ignorierte die Seenotmeldung mehrere Flüchtlingsboote. Anzeigen gegen Mitgliedsstaaten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verliefen ins Leere – ein Vorwurf der dem Gericht gemacht wird, die brutale Realität an den Europäischen Außengrenzen zu ignorieren und die Grundlage für Rechtfertigung der Gewalt durch seine Urteile zu festigen.
Der normative Anspruch der EU an ihre Grenzpolitik ergibt sich insbesondere aus der bereits benannten Europäischen Charta der Grundrechte und den Verträgen von Lissabon und Maastricht. Insbesondere im Vertrag von Maastricht verpflichtet sich die Europäische Union einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch der Vertrag von Lissabon hält eine gemeinsame operative Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union fest. Während die Verträge die EU zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verpflichtet, verpflichtet Europäische Grundrechtscharta wiederum die Organe und Mitgliedsstaaten der EU, ihre Werte auch in der Außenpolitik zu achten. Festgehalten in Artikel 18 der Freiheiten legt die Charta fest: „Das Recht auf Asyl wird nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie nach Maßgabe des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (im Folgenden „die Verträge“) gewährleistet.“
Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ stellt die Europäische Union vor normative und moralische Herausforderungen. Einerseits muss die Union den normativen Ansprüchen ihrer Verträge, aber auch den Forderungen ihrer Mitgliedsstaaten, sowie ihrer eigenen Moralvorstellungen gerecht werden. Die Kontrolle über die eignen Grenzen ist ein zentraler Aspekt nationalstaatlicher Souveränität, weswegen die EU in der Zusammenarbeit mit den Mitgliedsstaaten vor großen Herausforderungen steht. Hinzu kommt das moralische Selbstbild der Union, als Verfechterin der Menschenrechte, welches in einem starken Kontrast zu ihrer Politik der Abschottung steht, die auf illegalen Praktiken beruht. Die zunehmenden Differenzen innerhalb der EU fördern auch die fortschreitende Fragmentierung europäischer Grenzpolitik zwischen den Mitgliedsstaaten.
Während das Schengen-Abkommen offene Grenzen innerhalb der Europäischen Union ermöglicht, zeichnet sich die Politik an den Außengrenzen Europas durch politische, rechtliche und technische Hochrüstung aus. Die Europäische Asyl- und Migrationspolitik heute ist von einem Spagat zwischen den moralischen, sowie normativen Ansprüchen der Verträge und der Union und dem Wunsch nach nationaler Souveränität der Mitgliedsstaaten geprägt. Während diese Probleme in den EU-Institutionen heiß diskutiert werden, sterben an den Außengrenzen Menschen durch die Handlungen der EU und ihrer Mitglieder. Welche Institutionen in diesem Diskurs von besonderer Bedeutung sind und welche Akteure weiter relevant sind, gucken wir uns im nächsten Teil an.
Quellen:
- https://fra.europa.eu/de/eu-charter/title/title-ii-freedoms
- https://www.europarl.europa.eu/factsheets/de/sheet/165/menschenrechte
- https://www.maxweberstiftung.de/themenportal/die-macht-der-sprache-das-bild-der-festung-europa-in-der-eu-politik.html
- https://www.theguardian.com/global-development/2021/may/05/revealed-2000-refugee-deaths-linked-to-eu-pushbacks
- https://www.europaimunterricht.de/fluechtlings-migrations-asyl-politik