Foto: Stadtarchiv Neuss, Fotograf Wolfgang Maes, Aufnahmedatum 13.08.1973

Neuss, 13. August 1973, Frühschicht beim Automobilzulieferer Pierburg – 200 bis 300 migrantische Arbeiterinnen treten ihre Arbeit am Fließband des Betriebs Pierburg nicht an und begeben sich in einen Streik. Ihre Forderungen: mehr Gleichberechtigung und faire Arbeitsbedingungen. Außerdem die Abschaffung der Leichtlohngruppe 2.

Fünf Tage streiken die Frauen und ihnen wird zuerst mit Widerspruch von der Geschäftsleitung und polizeilicher Gewalt begegnet. Doch die Frauen schaffen es, ihre männlichen migrantischen und auch deutschen Kolleg:innen zu mobilisieren. Rund 2.000 Arbeiter:innen legen ihre Arbeit nieder und der Betrieb wird für eine Woche stillgelegt. Nicht nur Neusser Bürger:innen solidarisieren sich, sondern auch die Gewerkschaft IG Metall in Neuss erklärt ihre Unterstützung. Durch diese breite öffentliche Aufmerksamkeit sieht sich die Unternehmensführung von Pierburg dazu gedrängt, den Forderungen nachzugeben, und stimmt einer Lohnerhöhung von 53 bis 65 Pfennig zu sowie die Abschaffung der Leichtlohngruppe 2 zu.

Foto: Hans-Joachim Weber/DOMiD-Archiv, Köln

Die migrantischen Frauen, die den Pierburg-Streik angeführt haben, waren sogenannte „Gastarbeiterinnen“, die im Zuge der Anwerbedeals in den 50er und 60er Jahren mit südeuropäischen, aber auch nordafrikanischen Ländern abgeschlossen wurden. Dass in diesen Anwerbeverfahren nicht nur Männer, sondern auch viele Frauen zum Arbeiten nach Deutschland kamen, wird oft vergessen. „Gastarbeitermigration“ wird oft als männliches Phänomen wahrgenommen. Dabei macht der Anteil von weiblichen „Gastarbeiterinnen“, die bis 1973 nach Deutschland kamen, rund 30 % aus. Sie arbeiteten oft in der Textil- und Nahrungsindustrie, aber auch in Bereichen wie der Elektrotechnik und der Eisen- und Metallindustrie. Es gab mehrere Möglichkeiten für Frauen, nach Deutschland zu kommen: Zum einen den offiziellen Weg durch die Anwerbeverfahren, zum anderen die Einreise durch ein Visum oder als Touristin, um dann eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. Viel weniger kam es jedoch zum Familiennachzug, der auf die Arbeitsmigration der Familienväter folgte. Hingegen kamen viele verheiratete Frauen nach Deutschland, die ihre Männer in den Heimatländern zurückließen.

Dieser Streik ist ein Paradebeispiel für einen durch mehrheitlich migrantische Frauen durchgeführten erfolgreichen Streik. Migrantische Frauen, die in Deutschland arbeiten, werden nicht nur mit Rassismus, sondern auch mit Sexismus konfrontiert. Diese Überschneidung zweier Diskriminierungsformen nennt sich Intersektionalität. Genau diese Mehrfachdiskriminierung war auch bei den Arbeiterinnen des Betriebs Pierburg der Fall: Migrant:innen waren fast ausschließlich in den Niedriglohngruppen beschäftigt und bekamen weder Weihnachtsgeld, noch Jahresprämien. Zusätzlich war es Migrantinnen quasi unmöglich, innerhalb des Betriebs in höhere Lohnklassen aufzusteigen, während dies für migrantische Männer hin und wieder möglich war. Dazu kam, dass hauptsächlich migrantische Frauen in der Leichtlohngruppe 2 angestellt waren, in der sie 4,70 DM pro Stunde verdienten. Für die gleiche Tätigkeit verdienten ihre männlichen Kollegen 6,10 DM.

Auch das Geschlechterverständnis der 50er Jahre in Deutschland hatte Einfluss auf die Tatsache, dass migrantische Frauen weniger als migrantische Männer verdienten: Männer wurden als „Hauptverdiener“ der Familie gesehen und Frauen nur als „Zuverdienerinnen“. Die migrantischen Frauen verdienten also deutlich weniger als ihre männlichen Mitstreiter, wurden aber trotzdem als Vollzeitarbeitskraft gesehen. Auch hier zeigt sich die Theorie der Mehrfachdiskriminierung: Migrantische Arbeiter:innen wurden als Arbeitskraft objektifiziert, und gleichzeitig wurde den Frauen die Rolle der Hausfrau und Mutter zugeschrieben, die sie erfüllen sollten.

Aus dieser strukturellen Diskriminierung entwickelte sich die migrantische Frauenbewegung. Es entstanden Vereine wie der Türkische Frauenverein, der Angebote und Hilfe  für Migrantinnen von Migrantinnen organisierte. Auch beim „Gemeinsamen Kongress ausländischer und deutscher Frauen“, der 1984 in Frankfurt am Main tagte, versuchten die Frauen, mehr Sichtbarkeit für ihre Probleme zu erlangen: die Nachteile, die sie aufgrund ihres Frauseins erfuhren, und die gleichzeitige rassistische Diskriminierung.  Eine Bewegung, die vor über 40 Jahren angefangen hat, kämpft auch heute noch gegen strukturelle Diskriminierung migrantischer Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Wie auch zum Beispiel der Verein DaMigra, der mit seiner Kampagne #UnsichtbareSichtbarMachen 2025 zeigt, dass strukturelle Ungleichheiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt kein Zufall sind – besonders für Frauen mit Migrationsgeschichte.

Quellen 

https://www.deutschlandfunkkultur.de/migration-frauenbewegung-gastarbeiterinnen-diskriminierung-rassismus-100.html

https://domid.org/news/migrationsgeschichte-in-bildern-1960er-anwerbung/

https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/280217/frauen-in-der-migration-ein-ueberblick-in-zahlen/

https://www.demokratie-geschichte.de/karte/12915

https://domid.org/news/pierburg-streik-solidaritaet-unter-arbeiterinnen/

https://budrich-journals.de/index.php/fgs/article/view/44941/38459

https://kritisch-lesen.de/-/media/pdfs/rezensionen/noise-bei-pierburg.pdf

Unsichtbare sichtbar machen – Eine Reihe zur Benachteiligung von geflüchteten und migrierten Frauen auf dem Arbeitsmarkt