Wenn Deutsche ins Ausland gehen, heißt es, dass sie dort vor allem ihr Brot vermissen. Als ich für vier Jahre als DAAD-Lektorin nach Russland gegangen bin, war ich da keine Ausnahme. Nun blickt man in Russland selbst mit Stolz auf seine differenzierte Brotkultur. Aber egal ob Borodinskij oder Moskovskij bujarskij, irgendwie kam nichts so recht an das Roggenmisch von zu Hause ran. Laugengebäck, wovon ich ein großer Fan bin, fand ich sowohl in Uljanowsk als auch in Moskau, aber eben nicht standardmäßig beim Bäcker um die Ecke. Die Geschmäcker sind verschieden und über Geschmack lässt sich nicht streiten. Ein neuer Geschmack kann aufregend sein. Vertrauter Geschmack steht für Heimat und Zugehörigkeit.
Die Küche wandert deswegen mit aus. Dass Pizza und Gyros in Deutschland Verbreitung fanden, liegt an den Einwanderungsbewegungen der sogenannten „Gastarbeiter“. Vor allem aus dem (post-)sowjetischen Raum kamen (Spät-)Aussiedler in die Bundesrepublik, also Menschen mit deutschen Familienwurzeln. Sie stellen eine der größten Migrationsgruppen dar. Hinzu kommen Menschen anderer Gruppen aus dem postsowjetischen Raum. Restaurants und Geschäfte, in denen die Zugezogenen ihre vertrauten Gerichte und Lebensmittel bekamen, wurden überall dort eröffnet, wo sich die Neuankömmlinge niederließen. Esskulturen sind ein Forschungsthema in Ethnologie, Soziologie, Kulturwissenschaft, Geschichte und weiteren Disziplinen. Die Herausgeber des Bandes „Esskultur und kulturelle Identität“ Heinke M. Kalinke, Klaus Roth und Tobias Weger bemängeln in ihrem Vorwort: „Spricht und schreibt man jedoch generell über Nahrungsgewohnheiten und Europa, ist meist nur Westeuropa gemeint, und dieses zerfällt in die Trias ‚Fleisch, Brot, Bier‘ im Norden und entsprechend ‚Gemüse, Getreide/Nudeln, Wein‘ im Süden.“ (8) Mit dem Blick nach Osten des 2010 erschienenen Sammelbands mit dem Untertitel „Ethnologische Nahrungsforschung im östlichen Europa“ bin ich selbst vertraut.
Und darum bin ich hier, im Mix Markt, der laut Werbeplakat an der Außenfassade „Leckeres aus der Heimat“ bietet. Mir ist in den vier Jahren, die ich in Russland verbracht habe, immer wieder bewusst geworden und verdeutlicht worden, dass ich einerseits „biodeutsch“ bin, andererseits habe ich mich in Uljanowsk und Moskau sehr wohl gefühlt und überhaupt: In vier Jahren waren mir diese russischen Städte eine Art Heimat. Eine Heimat, die für mich einen spezifischen Geschmack hatte, den ich nun im Mix Markt suche.
Wobei der Mix Markt vielen Nationalküchen Heimat bietet. Auf der Internetseite werden russische, polnische und rumänische Lebensmittel genannt, man verspricht „Altbekanntes“ ebenso wie „neue kulinarische Impulse und spannende gastronomische Erfahrungen“. Die Betreiber fordern auf: „Seien Sie mutig und probieren Sie sich durch die osteuropäische Küche. Sie werden es nicht bereuen!“
Na dann: Einkaufswagen geschnappt und auf geht’s zur „Wiederbegegnung“ mit meinen russischen Esserlebnissen. In der Obst- und Gemüseabteilung sieht es noch aus wie in vielen anderen Supermärkten, mit Gurken – vielleicht etwas kleiner, vielleicht etwas mehr als bei meinem Stamm-Supermarkt -, Tomaten, Auberginen, Zwiebeln, Kartoffeln, Melonen, Äpfeln ist alles wie gewohnt. Erste Besonderheiten treten in der Getränkeabteilung zutage, vor allem in Gestalt des Kwas in Dosen und Flaschen verschiedener Größen und Marken. Meine Uljanowsker Kollegin Ivetta war einmal ganz erstaunt, als ich den von ihr angebotenen Kwas dankend annahm: „Das schmeckt dir? Die Deutschen mögen doch keinen Kwas!“ Wie der für Russland zuständige Leiter der Auswahlkommissionen des DAAD für das Lektorenprogramm kurz vor seiner Pensionierung erzählt hatte, versah er die Unterlagen von seiner Einschätzung nach geeigneten Bewerberinnen und Bewerbern mit dem Kürzel RT – „russlandtauglich“. Für Ivetta ist die Kwas-Frage die äquivalente Nagelprobe. Ich packe zwei Flaschen Kwas à 0,5 bzw. 1 Liter in den Wagen, nehme aus Neugier noch eine Flasche „Warka“-Bier aus Polen mit und schiebe einen Tick schneller am georgischen Borjomi-Mineralwasser vorbei. Ich weiß, eine Delikatesse und im gesamten postsowjetischen Raum wie zu Sowjetzeiten weiterhin Kult, aber ich finde den Geschmack des ach so gesunden hochmineralischen Getränks ähnlich abstoßend wie den des schwefeligen Heilwassers im englischen Bath. So gar nicht meins.
Kwas (квас) ist ein gegorenes Getränk aus Brot, hat aber mit dem in Deutschland bisweilen in Reformhäusern erhältlichen, blassen „Brottrunk“ nichts gemein. In Farbe und Geschmack erinnert er an Malzgetränke, die als „Kinderbier“ die Fantasie beleben und von Erwachsenen meist als viel zu süß empfunden werden. Kwas ist nicht so süß und wird im Sommer als Erfrischungsgetränk auf Russlands Straßen frisch gezapft aus fassgroßen Tanks verkauft. (Das Zitronen-Himbeer-Radler erwies sich übrigens als Fehlkauf).
Getrocknet, geröstet, im Plastikbeutel, im Karton, parboiled, gar in drei, fünf, sechs Minuten, „extra“ oder „Auswahl“ – bei Buchweizen hört der Spaß auf und fängt die Vielfalt an.
„Das Annehmen kulinarischer Standards […] kann ein Beitrag zur Akkulturation sein“, bemerken Veronika Zwerger und Ursula Seeber in ihrem Vorwort zum Band „Küche der Erinnerung. Essen & Exil“ (2018). Mein größtes Eingeständnis an den russischen Geschmack war wohl der Buchweizen. Dessen Stellenwert wurde in der Corona-Epidemie deutlich. Während im Frühjahr 2020 in Deutschland Toilettenpapier, Nudeln und Mehl ausverkauft waren und man sich in Frankreich mit Wein und Kondomen eindeckte, wurden in Russland die Regale mit Buchweizen leergefegt. Inzwischen sind die Bestände wieder gefüllt. Auch der Bremer Mix Markt lässt sich nicht lumpen. Ich kann mir ein Leben ohne Buchweizen vorstellen – für meine Freunde in Russland eine nahezu blasphemische Aussage! -, aber ab und an mag ich ihn ganz gern. Ein Päckchen kommt mit.
Gut, dass ich Vegetarierin bin, die längste Schlange im Geschäft gibt es nämlich an der Fleischtheke. Bei meiner sechswöchigen DAAD-Kurzzeit-Dozentur in Tschita im Februar-März 2011 wurde ich noch von den Kolleginnen kritisch beäugt: Bei der Kälte brauche man Fleisch. 2019/20 wurden in Moskau die immer beliebteren vegetarischen Restaurants der Kette „Jagganat“ zu meinen regelmäßigen Anlaufpunkten. Vegetarisch/Vegan ist jung/modern/in. In dieser Hinsicht war ich also Trendsetterin, wie ungewohnt.
Beim Kleingebäck fallen mir die Kekse Geschmacksrichtung „gezuckerte Kondensmilch“ auf. Das russische Wort, sguschonka (сгущёнка), habe ich auf die harte Tour gelernt. Bei einer Maifeier hat man mich vor Jahren in St. Petersburg gefragt, ob ich zu meinen Blini Marmelade, also varenie (варение) haben möchte, oder tuschonka (тушёнка). Ich nahm letzteres in der Annahme, die Milchcreme zu bestellen, und war anschließend vom gereichten Büchsenfleisch ebenso überrascht wie angeekelt. Intensive emotionale Reize begünstigen Lerneffekt und Langzeitgedächtnis. Den Unterschied zwischen сгущёнка und тушёнка werde ich nie mehr vergessen.
Geschmack und Erinnerung hängen unmittelbar zusammen. Was Proust mit seinem Madelaine-erlebnis schilderte, hat beispielsweise auch der russische Exilschriftsteller Gaito Gasdanow (1903-1971) beschrieben, der als Jugendlicher im russischen Bürgerkrieg auf Seiten der Weißen gekämpft hatte und seine Erinnerungen daran etwa für den Roman „Ein Abend bei Claire“ (1929) nutzte. Dort schrieb er:
Genauso wie ich, um mir mein Leben im Kadettenkorpssamt der unvergleichlichen steinernen Traurigkeit, die ich in dem hohen Gebäude zurückgelassen hatte, deutlich ins Gedächtnis zu rufen, nichts weiter brauchte, als den Geschmack von Frikadellen, Fleischsoße und Makkaroni im Mund zu spüren, genauso stellte ich mir, sobald ich den Geruch verbrannter Steinkohle wahrnahm, sogleich den Anfang meines Dienstes im Panzerzug vor, den Winter neunzehnhundertneunzehn, Sinelnikowo, bedeckt mit Schnee.“
Negative Erinnerungen möchte ich nicht geschmacklich heraufbeschwören, ich möchte in den positiv konnotierten Erinnerungen schwelgen, werde aber von Gasdanow darauf aufmerksam gemacht, dass sich die geschmacksprovozierte Erinnerung nur schwer steuern lässt. Wer weiß, woran ich mich erinnern würde bei Kontakt mit Gerüchen und Geschmacksrichtungen, denen ich mich nicht bewusst aussetzen kann, weil ich von der ohne Beteiligung des Bewusstseins entstandenen Verbindung nichts ahne.
Ohne Erinnerungsbezug landen polnische Pralinen in meinem Einkaufswagen, weil mich der Markenname „Solidarność“ anspricht. Der griechische φέτα und der Zopfkäse – πλεξούδα – haben auch nichts mit meinem mnemonischen Russlandausflug zu tun, sprechen mich aber aus anderen Gründen an und kommen ebenfalls mit.
An der Kasse dann erwischt es mich ganz unerwartet und nicht olfaktorisch oder gustatorisch, sondern rein optisch vermittelt. Von kleinen Schokoladentäfelchen schaut mir Aljonka mit großen Augen entgegen. Wie banal, und das gleich doppelt: Zum einen, weil der alte Kassentrick verfängt, mit dem Eltern dazu gedrängt werden, die Süßigkeiten bzw. Quengelware zu kaufen, weil der plärrende Nachwuchs nicht anders ruhigzustellen ist. Zum anderen, weil das Mädchenmotiv der Firma Krasnyj Oktjabr (Roter Oktober) längst international vermarktet wird und zu einem weiteren russischen Klischee geworden ist. Doch beim unerwarteten Anblick von Aljonka stehe ich sofort wieder im Schokoladengeschäft „Aljonka“ mit Waren von Красный Октябрь und РотФронт an der Pervaja Tverskaja-Jamskaja uliza gleich ums Eck von meiner Moskauer Wohnung und kaufe Tee mit meinem alten Freund Daniel, der zu Besuch gekommen war. Bei Daniel muss ich mich auch mal wieder melden. Gut, dass ich mich heute daran erinnert habe.
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