Der Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 erforderte eine Zäsur in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Erstmals seit Ende des Kalten Krieges wird die Friedensordnung in Europa durch das russische Regime massiv erschüttert, wodurch verteidigungspolitische Themen im gesellschaftlichen Diskurs deutlich an Bedeutung gewinnen.
Neben Debatten über höhere Verteidigungsausgaben sowie der Ausstattung und Modernisierung der Bundeswehr wird dabei vor allem über eine mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht diskutiert. Diese wurde 2011 vom damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) ausgesetzt. Entscheidend dafür waren die veränderten Bedrohungslagen und Anforderungen der Bundeswehr. Da keine akute Gefährdung für die kollektive Sicherheit Europas abzusehen war, konzentrierte sich die Bundeswehr auf Auslandseinsätze (z.B. in Afghanistan und in Mali), bei denen Wehrpflichtige ohnehin nicht teilnehmen mussten. Zudem bestand die Hoffnung, dass durch den Wegfall des Wehrdienstes neue Ressourcen freigesetzt werden, welche die Effizienz der Berufssoldaten verbessern.
Bundesregierung setzt (zunächst) auf Freiwilligkeit
Im Juli 2025 stellte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) seine Pläne für einen neuen freiwilligen Wehrdienst vor, welcher voraussichtlich im Januar 2026 in Kraft treten soll. Dieser sieht vor, dass jede/-r deutsche Bürger/-in nach der Volljährigkeit einen Fragebogen zugesandt bekommt, der das Interesse und die Eignung einer Person für die Bundeswehr abfragt. Wer als geeignet gilt, wird zunächst zur Musterung eingeladen und absolviert anschließend einen sechsmonatigen Wehrdienst. Während das Ausfüllen des Fragebogens für Männer verpflichtend ist, soll es für Frauen freiwillig sein.
Ziel der Bundesregierung ist es pro Jahr ca. 25.000 bis 30.000 junge Leute über den freiwilligen Wehrdienst zu gewinnen, um das Personal der Bundeswehr langfristig auf ca. 460.000 Soldaten (Reservisten miteingeschlossen) aufzustocken. Aktuell besitzt die Bundeswehr rund 182.000 Soldaten.
Zwar beruht das angestrebte Modell grundsätzlich auf die Freiwilligkeit jedes Einzelnen, jedoch schließt die Bundesregierung es nicht aus, bei ausbleibendem Erfolg auch verpflichtende Teile in den Wehrdienst zu inkludieren. Insbesondere die Union plädiert dafür, Vorbereitungen für einen mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht bereits jetzt zu konkretisieren.
Wehrpflicht gilt aktuell in neun EU-Staaten
Im europäischen Vergleich gehört Deutschland mit der Aussetzung der Wehrpflicht zur Mehrheit. Derzeit gilt die Wehrpflicht in neun EU-Mitgliedsstaaten (Dänemark, Estland, Finnland, Griechenland, Lettland, Litauen, Österreich, Schweden und Zypern) sowie in Norwegen und in der Schweiz und ab 2026 auch in Kroatien. Zum Vergleich: Vor 20 Jahren, hatte die Wehrpflicht noch in 22 Staaten Europas bestand, also in etwa doppelt so vielen wie aktuell. Die meisten Staaten entschieden sich genauso wie Deutschland die Wehrpflicht Ende der 2000er bzw. Anfang der 2010er-Jahre auszusetzen.
Jedoch führte die völkerrechtswidrige russische Annexion der Krim im Jahr 2014 in einigen, vor allem Nord- bzw. Nordoststaaten Europas zu einem Umdenken. So führten Norwegen und Litauen 2015 und Schweden 2017 die Wehrpflicht wieder ein. Nach Beginn des russischen Angriffskriegs steht eine mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht in fast allen europäischen Ländern auf der politischen Agenda. Dabei setzten viele Staaten wie z.B. Belgien, Polen und Portugal auf ein ähnliches Modell wie Deutschland und planen mit Einführung eines freiwilligen Wehrdiensts, junge Bürger/-innen für ihre Verteidigungsarmee zu gewinnen.
Unter den Staaten, die die Wehrpflicht derzeit aktiviert haben, gibt es verschiede Modelle für die Rekrutierung junger Menschen, die in Debatten über die Wehrpflicht in Deutschland und anderen Ländern als mögliche Vorbilder gesehen werden. Einige dieser Modelle sollen im Folgenden näher beschrieben werden:
„Klassisches Modell“ in Estland
In den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen ist die Verteidigung der nationalen Souveränität gegen Russland aufgrund ihres historischen Traumas einer jahrzehntelangen russischen Besetzung, fest im nationalen Gedächtnis verankert. Zudem bildet das Baltikum die Ostflanke der NATO, wodurch im Falle eines russischen Angriffs, die direkte Frontlinie auf baltischem Gebiet läge.
Daher ist es wenig verwunderlich, dass in Estland die Wehrpflicht zu keinem Zeitpunkt seit der Erlangung der Unabhängigkeit ausgesetzt wurde. Alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren unterliegen der Wehrpflicht und müssen einen acht bis elfmonatigen Grundwehrdienst absolvieren, ehe sie zudem an der Reservistenausbildung teilnehmen müssen. Frauen können sich im Alter zwischen 18 und 27 Jahren freiwillig dem Wehrdienst unterziehen.
Generell ist in Estland eine starke Bereitschaft zur Verteidigung des Heimatlandes zu erkennen. Pro Geburtsjahrgang werden bis zu 4.000 Bürger/-innen in die Streitkräfte einbezogen, was ca. 60% des Gesamtjahrgangs ausmacht. Im europäischen Vergleich zeichnet sich das estnische Modell als sehr beständig und effektiv aus, da sich die Zahl der Verweigerer nur auf einem sehr niedrigen Niveau befindet.
Trotz faktischer Wehrpflicht: Schweden setzt auf besonders motivierte Bewerber
Das schwedische Wehrdienstmodell wird in vielen Medien und von Verteidigungsminister Pistorius selbst als Musterbeispiel genannt. Denn auch wenn formell die Wehrpflicht im Jahr 2017 wiedereingeführt wurde, konzentriert sich die Auswahl der zur Musterung eingeladenen Menschen, stark auf die Motivation eines Einzelnen. Ein von allen volljährigen Schwedinnen und Schweden verpflichtend auszufüllender Fragebogen, gibt dabei Auskunft über Qualitäten, Interessen und die Motivation der einzelnen Personen. So werden letztendlich nur ca. 8.000 von anfangs 100.000 Kontaktierten auch in die einjährige Ausbildung berufen.
Seit der Anwendung dieses Modells gelang es Schweden die Armee auf ca. 14.850 aktive Soldaten und rund 11.500 Reservisten zu erweitern.
In Dänemark: Einberufung über Losverfahren möglich
Auch in Dänemark werden die Wehrpflichtigen nach persönlicher Motivation selektiert, sodass knapp zwölf Prozent eines Jahrgangs den elfmonatigen Dienst absolvieren. Ab nächstem Jahr soll nach Bestrebungen der dänischen Regierung eine umfassende Reform des Wehrdienstmodells in Kraft treten, welche vorsieht, dass die Wehrpflicht zukünftig auch für Frauen gelten soll. Nach Norwegen und Schweden wäre Dänemark das dritte europäische Land, das die Wehrpflicht auch für Frauen einführt.
Als Ziel gibt die Regierung vor, dass pro Jahr mindestens 5000 Wehrpflichtige zum Dienst antreten. Dabei bekommen zunächst Freiwillige den Vorrang, jedoch kann ggf. ein Losverfahren angewendet werden, welches darüber entscheidet, wer einbezogen wird und wer nicht, sofern die Zahl der Freiwilligen geringer als die angestrebten 5000 Wehrpflichtigen ist. Seit 2022 kam dieses Prinzip allerdings nicht mehr zur Anwendung.
Fazit:
Die veränderte Bedrohungslage führte in nahezu allen europäischen Staaten zu einer wiederaufkommenden Diskussion über die Notwendigkeit einer Wehrpflicht. In der Mehrheit der EU-Staaten ist die Wehrpflicht derzeit ausgesetzt, wenngleich einige Länder im letzten Jahrzehnt eine Wiedereinführung dieser beschlossen haben. Es fällt dabei auf, dass die Wehrpflicht insbesondere in den an Russland grenzenden Staaten, (wieder-)eingeführt wurde.
Modelle wie in Schweden und Dänemark zeigen zudem, wie Freiwilligkeit und Wehrpflicht koexistieren können und stehen exemplarisch für einen modernen Wehrdienst.
Quellen:
Bundeswehr-Generalmajor: Deutschland braucht Wehrdienst „mit Pflichtelementen“ (Euronews)
Steht die Wehrpflicht vor ihrer Rückkehr in Europa? (European news)
Diese Länder haben eine Wehrpflicht: Kommt sie auch in Deutschland? (Focus online)
Pistorius definiert Kriterien für Wehrpflicht (Tagesschau)
Naht die Rückkehr zur Wehrpflicht? (Tagesschau)
Wehrpflicht oder Nationaldienst: Was Deutschland sich von anderen Ländern abschauen kann (Stern)
Wie funktioniert das schwedische Wehrdienstmodell? (Die Zeit)