Am 28. November 2024, rund ein Jahr nachdem in Tbilisi die Gewährung des Beitrittskandidatenstatus groß gefeiert worden war, löste das Statement Kobachidzes große Wut und Empörung aus und erweckte die Proteste zu neuem Leben. Die Aussetzung des EU-Beitrittsprozesses, der unter dem jüngsten Regierungskurs ohnehin zum Erliegen gekommen war, wurde als symbolträchtige Tat wahrgenommen: Als sei damit die letzte Maske eines Regimes gefallen, dem man lange „russische“ Politik nachgesagt hatte und dies nun offen zur Schau stellte.
Einen Monat nach den manipulierten Parlamentswahlen zeigten sich erstmals spontane Reaktionen und zehntausende kamen an diesem Abend nach und nach zum georgischen Parlament. Die angestaute Wut und Enttäuschung entlud sich – sie hämmerten mit Steinen gegen die Metallwand am Parlamentsgebäude, während immer mehr Menschen auf die Straßen strömten.
Es begann sich eine beispiellose Dynamik zu entwickeln, die das ganze Land erfasste und Georgien in eine Ausnahmesituation versetzte, die bis heute anhält. Eine Dynamik, die über die Hauptstadt hinausging und sich nicht nur durch landesweite Proteste ausdrückte, sondern anfangs auch in einer Reihe von Rücktrittsankündigungen von Diplomat*innen und Beamt*innen sowie in Statements großer Unternehmen, die erstmals offen Stellung gegen das Regime bezogen. Die Menschen forderten freie Wahlen und später zudem die Freilassung der politischen Gefangenen.
Die Proteste
Doch der Staat antwortete mit äußerster Brutalität. Das Regime versuchte es mit massiver Gewalt, doch die Leute strömten auch am nächsten Abend wieder auf die Straße – entsetzt über das verstörende Ausmaß sogar in noch größeren Scharen. Das Regime versuchte es mit Kontrollen an den Metrostationen – georgische Flaggen waren plötzlich Anlass verhaftet zu werden, Schutzbrillen und Masken wurden konfisziert und verboten. Das Regime versuchte es mit Einschüchterung – zahlreiche besonders aktive Bürger*innen wurden inhaftiert – aber die Menschen ließen sich nicht einschüchtern. Sie protestierten weiter – angetrieben von der Gewissheit, dass jegliche Hoffnung auf Veränderung durch Wahlen nicht mehr vorhanden war.
Für sechs denkwürdige Tage verwandelte sich die prestigeträchtige Rustaveli-Avenue im Zentrum der georgischen Hauptstadt jede Nacht zu einem Schauplatz von Straßenkämpfen. Mit massivem Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas versuchte das Regime, die Proteste niederzudrücken und die Menschen versuchten sich zu wehren – mit Pyrotechnik, Laserpointern und sporadisch errichteten Barrikaden, um so über Stunden die Stellung auf der Straße zu halten. Die Polizei wandte dabei eine Dimension systematischer Gewalt an, die auch in Georgien bisher beispiellos war. In der ersten Nacht wurden gezielt Journalist*innen attackiert. Hunderte Menschen wurden festgenommen, in Polizeivans gebracht und dort unter Aufsicht brutal zusammengeschlagen und misshandelt, wobei die Polizeikräfte gezielt auf die Gesichter einschlugen. Selbst die regierungsnahe Ombudstelle für Menschenrechte sprach von Folter. Das Video (Triggerwarnung: Gewalt), das einen am Boden liegenden jungen Mann zeigt, dem mehrfach gegen den Kopf getreten wird, ging um die Welt. Es war ausgerechnet auch die Empörung über einen Folterskandal und Polizeigewalt unter Saakashvili, die Ivanishvili einst zum Wahlsieg verholfen hatte. Allein in diesen Tagen wurden über 400 Menschen verhaftet. Hauptverantwortlich für die Gewalt war eine berüchtigte und sektenartig organisierte Spezialeinheit der Polizei, später übernahmen vermehrt angeheuerte Schlägertrupps. Sie jagten Protestierende durch die ganze Stadt, sie kidnappten willkürlich Menschen von der Straße, die bereits dabei waren den Protest zu verlassen. In einer europäischen Hauptstadt mit jährlich Millionen Touristen, herrschte in diesen Nächten völlige Gesetzlosigkeit. Wer zur falschen Zeit in den falschen Straßen unterwegs war, lief Gefahr, nicht mehr nachhause zu kommen.
Die Menschen sahen sich einem repressiven Staatsapparat gegenüber, völlig selbstorganisiert und ohne jegliche Führung. Aber die Menschen verstanden es, sich gegenseitig zu helfen und verschiedene Rollen einzunehmen: Menschen hielten Salinwasserflaschen hoch, um beim überbordenden Einsatz von Tränengas, schnell Hilfe anzubieten, an der vordersten Front versuchten sie die Tränengaskanonen zu entschärfen. Zahlreiche Menschen verteilten kostenlos Essen und Tee. Es organisierten sich kleine Gruppen, um die Gewalt der Schlägertrupps aus den Seitenstraßen abzuwehren.
Die staatlichen Repressionen
Nach einigen Tagen beruhigte sich die Lage – zumindest augenscheinlich: Die Proteste brachen nicht ab, aber sie wurden langsam etwas kleiner, die Polizei wich von der Straße – und Georgien damit auch zunehmend aus dem Fokus der internationalen Medien. Die gesamte Situation wurde jedoch keineswegs weniger dramatisch, die Gewalt verschwand nicht sondern, fand fortan nur auf anderen Ebenen statt. Es kam zu mehreren Razzien gegen die georgische Zivilgesellschaft und Opposition. Zahlreiche Menschen wurden verhaftet, darunter viele Journalist*innen oder aktive Bürger*innen wie der bekannte Schauspieler Andro Chichinadze. Besondere Aufmerksamkeit erlangte der Fall der Journalistin Mzia Amaghlobeli, die im Januar festgenommen wurde, sich anschließend über 30 Tage lang im Hungerstreik befand und im August zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde. Im Oktober wurde ihr gemeinsam mit dem inhaftierten belarussischen Journalisten Andrzej Poczobut der Sakharov-Preis des Europäischen Parlaments verliehen.
Ich werde mich diesem Regime nicht beugen (…). Es gibt etwas Größeres als das Leben selbst – die Freiheit!
Mzia Amaghlobeli in einem Brief aus der Haftanstalt.
Vermummte Männer, die auf offener Straße Menschen entführen, willkürliche Verhaftungen und Durchsuchungen, einschließlich der Konfiszierung privaten Eigentums: Menschen, die friedlich protestiert haben, wurden nachts von Polizei geweckt und mit drakonischen Geldstrafen belegt, die häufig das dreifache eines durchschnittlichen Monatsgehalts betragen. Konten mit gesammelten Spendengeldern zur Unterstützung jener Protestierenden wurden beschlagnahmt. Die enthemmten Repressionen in Georgien nahmen dystopische Dimensionen an.
Über das gesamte Jahr 2025 hat der repressive und autoritäre Kurs des georgischen Regimes beinahe täglich neue erschreckende Ausmaße angenommen: Weit über 100 Personen sitzen inzwischen in Haft, damit hat Georgien relativ zur Bevölkerungsgröße nun mehr politische Gefangene als Russland. Darunter befinden sich seit Sommer auch ein Großteil der führenden Oppositionspolitiker*innen. Zahlreiche, teils sehr junge Menschen wurden in politisch motivierten Gerichtsprozessen zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Die Regierungspartei plant nicht nur die demokratischen Oppositionsparteien verbieten, sondern auch Einzelpersonen vollständig von politischer Aktivität verbannen soll. Hinzu kommen Gesetze zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft, Drohungen und Gewalt gegen Aktivisten, die von Premierminister gebilligt wurde oder eine aggressive Rhetorik gegen westliche Diplomaten, insbesondere den deutschen Botschafter. Anfang Oktober 2025 hat das Regime begonnen, die Proteste durch neue Gesetzte weiter zu kriminalisieren: „Illegales Blockieren“ von Straßen und das Tragen von Gesichtsbedeckung werden nun mit Haftstrafen geahndet. Seither werden täglich Menschen allein für friedliches Demonstrieren festgenommen,Transparency International in Georgien spricht bereits von einer faktischen Abschaffung der Versammlungsfreiheit.
Die autokratische Politik beschränkt sich nicht nur auf die institutionelle Ebene, sondern richtet sich gegen die gesamte Zivilgesellschaft und nimmt zunehmend auch Universitäten und Bildungseinrichtungen ins Visier. Eine geplante Bildungsreform soll diese durch Zentralisierung von den verbliebenen kritischen Stimmen „säubern“ und würde Georgien so auch im Bildungsbereich von Europa isolieren. Zudem zeigt sich das Regime bereit, die Geschichte umzuschreiben, und offenbart dabei ein immer offenkundigeres „russisches Gesicht“. So gab es bekannt,
„antirussische” Literatur aus den Lehrplänen streichen zu wollen, darunter Texte der prägenden Nationalfigur Ilia Chavchavadze und arbeitet daran, Russlands Verantwortung für den Ausbruch des Krieges im Jahr 2008 zu revidieren. Die Partei befeuert nicht mehr nur Homophobie, sie gießt sie auch in Gesetze, erweist sich Angstmache vor „LGBTQ“ schließlich als wirksames Propagandamittel. Ein weniger beachtetes, repressives „Anti-LGBTQ“-Gesetz wurde bereits im September 2024 verabschiedet, einen Tag danach wurde eine prominente trans* Schauspielerin ermordet.
„Polizei überall, Gerechtigkeit nirgendwo“
Eine Parole, die häufig auf den Protesten skandiert wird.
Ivanishvili ist dabei Georgien in einen Unrechtsstaat zu verwandeln, in dem die Justiz nicht dem Recht folgt, sondern von einem Clan an Richtern bestimmt wird, der dem Willen seiner Partei befolgt; in dem die Gewalttäter für den Staat arbeiten und nicht befürchten müssen, zur Verantwortung gezogen zu werden. In einen Polizeistaat, in dem staatlicher Terror gegen die eigene Bevölkerung betrieben wird, in dem chinesische Überwachungskameras Menschen identifizieren, die ihr Recht auf friedliche Versammlung wahrnehmen, um sie anschließend mit hohen Strafen zu belegen. In einen nepotistischen Staat, der den Interessen eines kleinen Netzwerks um seine Person folgt, in dem nicht die kompetenten oder demokratisch legitimierten Personen regieren, sondern die die sich ihm als loyal erwiesen haben. In einen Staat der Unfreiheit, in dem fortan jegliche „LGBTQ Propaganda“ aus der Bildung und dem öffentlichen Raum verbannt ist. In einen Staat, der dem Land folgt, dass Georgien in der Vergangenheit unterworfen und angegriffen hat.
Quellen:
Why Georgians Won’t Give Up | Journal of Democracy
Wahlen in Georgien: Sinkflug in den hegemonialen Autoritarismus | Heinrich-Böll-Stiftung
Kommt es zu einer Revolution in Georgien? – Kommentare der anderen – derStandard.at › Diskurs
Was der Journalistin Mzia Amaghlobeli aus Georgien jetzt droht | taz.de
Georgia ramps up curbs on media, NGOs with drastic new laws – POLITICO