Pro-europäische Kundgebung eine Woche vor den Parlamentswahlen 2024.
Rückblick: Am Samstag, dem 26. Oktober 2024 schien in Tbilisi alles wie an einem gewöhnlichen Herbsttag. Doch es war kein ganz gewöhnlicher Tag, denn an diesem Tag fanden Parlamentswahlen statt und es waren keine gewöhnlichen Wahlen. Keine Wahlen in einer normalen politischen Situation, keine Wahlen über programmatische Differenzen verschiedener Parteien, keine Wahlen, deren Ergebnis sich einfach in 4 Jahren demokratisch korrigieren lassen könnte. Sie erschien als letzte Hoffnung auf einen Ausweg aus dem autokratischen und pro-russischen Kurs der Regierung. Es war der Tag, an dem all dies ein Ende nehmen sollte: das Bangen um die europäische Zukunft, die Entbehrungen wochenlanger Proteste im Frühling 2023 und 2024, bei denen sich zahlreiche Menschen schon Polizeigewalt erwehren mussten. Kaum jemand wagte es zu offen auszusprechen, doch ein vorsichtiger Optimismus war zu spüren. Die politische Stimmung sprach eindeutig für einen Richtungswechsel und die Umfragen prognostizierten eine klare Mehrheit für die vier pro-europäischen Parteienbündnisse. Doch alle Hoffnungen verflogen im Laufe des Wahlabends, als die Ergebnisse eine angeblich deutliche Mehrheit für die Regierungspartei vermeldeten, obwohl unabhängige Nachwahlbefragungen einen Sieg der Opposition ergaben.
Es bestätigte eine von zwei Annahmen, die schon vor den Wahlen als recht wahrscheinlich gelten konnten: Dass die Partei nicht mehr bereit sein wird ihre Macht abzugeben, und dass ein Großteil der Bevölkerung nicht bereit sein wird, dass zu akzeptieren. Denn nach den wochenlangen Protesten im Frühling, wirkten viele Menschen fest entschlossen, sich gegen ein autokratisches Abdriften zu stemmen. Doch an diesem Abend blieb es völlig ruhig in Tbilisi. Es gab keine Proteste und keine wütenden Reaktionen, stattdessen schien der Schock zu lähmen.
Die Wahlmanipulation
Bei der verhaltenen Siegesfeier der Regierungspartei auf einer schon Stunden vor der Ergebnisverkündung aufgebauten Bühne sah man eine von der Bevölkerung entfremdete Parteielite um den Regenten „Ivanishvili“, der es sichtlich schwerfiel, glaubhaft zu verkörpern, dass man gegenüber der letzten Wahlen sogar noch deutliche Zugewinne erzielt habe.
Dass diese Wahlen nicht wirklich als fair bezeichnet werden konnten, war eigentlich schon vor dem Wahltag offensichtlich: In einem Wahlkampf der Regierungspartei, in dem reichlich Staatsgelder geflossen waren. Dass diese Wahlen auch nicht frei waren, wurde am Wahltag deutlich, als fast minütlich immer neue Vorfälle aus ganz Georgien publik wurden. Die Liste ist lang und weist schamlose Manipulation von Stimmenkauf, Mehrfachwahl mit konfiszierten ID-Karten bis hin zu manipulierten elektronischen Stimmgeräten auf. Kameras und unbefugte Parteimitglieder in den Wahllokalen sowie durchscheinendes Briefpapier sorgten für Verletzung des Wahlgeheimnisses. Hinzu kamen Behinderung von Wahlbeo-bachter*innen und Einschüchterung und Gewalt gegen Journalist*innen und Oppositionspolitiker*innen. Eine zu geringe Anzahl an Wahllokalen im Ausland erschwerte zudem der überwiegend oppositionell eingestellten Diaspora die Stimmabgabe.
Die zahlreichen gemeldeten „Unregelmäßigkeiten“ sind weder Einzelfälle noch Unfälle. Das Ergebnis der Wahl mit einer deutlichen Mehrheit von 54 % für die Regierungspartei ist nicht das Ergebnis von mehrheitlichem Vertrauen, sondern von Propaganda, Einschüchterung, gekaperten staatlichen Institutionen und einer umfassenden Manipulation. Der „Georgische Traum“ hatte sich akribisch vorbereitet die eigene Macht zu sichern, nicht nur für den Wahltag, sondern bereits in den Monaten und gar Jahren zuvor: Die Justiz, die nationale Wahlkommission und die Verwaltung liegen in den Händen der Partei. Während die Wahl in den großen Städten vergleichsweise reibungslos verlief (die Opposition gewann), konzentrierte sich die massive Manipulation insbesondere auf die ländlichen Regionen. Kleine ärmliche Dörfer, die unter geringerer Wahlbeobachtung und medialer Aufmerksamkeit standen, boten perfekte Bedingungen, um durch Ausnutzung lokaler Abhängigkeiten und der prekären ökonomischen Lage, Druck auszuüben oder Stimmenkauf zu betreiben. Auch die größten ethnischen Minderheiten, Aserbaidschaner und Armenier wurden instrumentalisiert und ihre missliche soziale Lage ausgenutzt, nicht zuletzt mit Hilfe des aserbaidschanischen Staats. Die Partei, die gerne westliche Einmischung beklagt, verdankte ihrem Erfolg auch der massiven Einflussnahme vonseiten Russlands, Aserbaidschans, Irans und Ungarns.
Auch wenn das komplette Vorgehen wohl niemals endgültig aufgeschlüsselt werden kann, zeigen verschiedene statistische Analysen, dass das offizielle Wahlergebnis aufgrund verschiedener Anomalien unmöglich legitim sein kann. Stattdessen brachte es viele Obskuritäten mit sich, darunter den Wahlsieg in einem längst verlassenen Dorf und Gemeinden, in denen die Stimmen für die Regierungspartei die Zahl der wahlberechtigten Bewohner*innen überstiegen.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Wahl vermutlich auch ohne die systematische Manipulation knapper ausgegangen wäre, als es viele Umfragen prognostiziert hatten. Die Propaganda der Wahlkampagne hat wohl bei nicht wenigen Menschen verfangen. In den Wochen vor der Wahl waren vielerorts riesige Wahlplakate zu sehen, die Bilder der Zerstörung aus der Ukraine zeigten und sie friedlichen Bildern aus Georgien gegenüberstellten. Der Wahlkampf des
Wahlplakate der Regierungspartei in der Metro Tbilisi
„Georgischen Traums“ basierte nicht auf politischen Ideen und dem Versuch, die Menschen von Inhalten zu überzeugen, sondern darauf Angst vor einem Krieg zu schüren. Eine Angst, die in einem Land, in dem der Krieg noch keine zwei Jahrzehnte zurücklieg, überaus wirksam ist. Der haltlose Vorwurf, der „Westen“ versuche, Georgien in Russlands Krieg gegen die Ukraine hineinzuziehen, ist seit Beginn der Invasion 2022 ein prägendes propagandistisches Narrativ.
Im hyperzentralisierten Georgien erscheinen vielen Menschen aus den ländlichen Regionen die politischen Ereignisse in Tbilisi weit entfernt von ihrer Lebensrealität. Die Propaganda des regierungstreuen Senders Imedi TV ist dort häufig die einzige Informationsquelle. Die Opposition hatte es der Regierungspartei zudem denkbar einfach gemacht und war im Wahlkampf in jenen ländlichen Gebieten kaum aktiv gewesen. Die drängenden ökonomischen Probleme, Themen die vielen Georgier*innen im Alltag Sorgen bereiten, spielten ohnehin kaum eine Rolle. Vielmehr war dieser ganz auf ein „Referendum“ zwischen Europa und Russland ausgerichtet. Generell verfügt die pro-europäische Opposition des Landes nur über mäßiges Vertrauen in der Bevölkerung. So ist die ehemalige Regierungspartei UNM für viele Menschen immer noch ein rotes Tuch, was sich Ivanishvilis Regime zunutze macht und deren Gründer Saakashvili als Feindbild stilisiert. Andere Oppositionsparteien sind mit der UNM personell verknüpft, während etwa der führende Oppositionspolitiker Giorgi Gakharia noch bis 2019 Premierminister des „Georgischen Traums“ war.
Nach den Wahlen
Anstatt der erhofften Befreiung aus dem Albtraum begann für viele Menschen in Georgien nach der Wahl ein mühsamer, langwieriger Kampf. Präsidentin Salomé Surabishvili erkannte das Wahlergebnis nicht an und sprach von einer „russischen Spezialoperation“. Gemeinsam mit den Oppositionsparteien, die ihre Parlamentsmandate ablehnten, rief sie zum Protest auf. Gleichzeitig wirkte die Opposition zögerlich und strategielos. Es kam zu regelmäßigen Protesten, doch es gelang in den folgenden Wochen nicht, die großen Massen zu mobilisieren. Am Tag nach der Parlamentskonstituierung, zu der sich nur wenige tausende zum Protest versammelt hatten, schien die georgische Demokratie an ihrem Tiefpunkt. Das Regime war vorerst konsolidiert, die Opposition verstummt und die Bevölkerung resigniert. Während der Westen sich lange im Nichtssagen übte oder sich um Formalitäten sorgte, schritt die Regierungspartei mit schnellen Schritten voran, um ihre Macht weiter auszubauen.
Ein Protestcamp auf einer Straßenkreuzung in Tbilisi, Mitte November 2024. Nach zwei Tagen wurde es gewaltsam von der Polizei geräumt.
In dieser Krise kam Präsidentin Salomé Surabishvili eine besondere Rolle zu. 2018 war sie als Kandidatin des „Georgischen Traums“ ins Amt gewählt worden. Doch in den letzten Jahren war sie auf offene Konfrontation mit der Regierung gegangen und hatte sich fortan zu einer unverhofften Führungsfigur der pro-europäischen Opposition entwickelt. Die Staatspräsidentin gegen den gesamten restlichen Staatsapparat, es war ein überaus ungleicher Machtkampf. Die Weigerung Surabishvilis, die erste Parlamentssitzung einzuberufen, der Parlamentsboykott der Opposition, der die für die Konstituierung erforderliche Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten verhinderte – all dies wäre Grund für eine Verfassungskrise und ein langwieriges Patt gewesen. Das Regime aber scherte sich nicht um einen letzten Anschein von Legalität, und das Parlament berief sich verfassungswidrig selbst ein. Allen Protesten zum Trotz schritt es sofort zur Tat, um das Parlament und später das Präsidentenamt in eine Farce zu verwandeln und Georgien in einen repressiven Polizeistaat.
Mit der erstmals von einer Wahlversammlung abgehaltenen Präsidentschaftswahl Mitte Dezember 2024 fiel auch die letzte unabhängige Institution in Ivanishvilis Hände: Die Wahl des ehemaligen Fußballspielers Mikhail Kavelashvili wurde von vielen Georgier*innen als Hohn empfunden – als unqualifizierte und reine Marionette des Oligarchen – und änderte nichts daran, dass sie Surabishvili weiterhin als einzig legitime Präsidentin anerkennen.
Das faktische Einparteienparlament ist bis heute vor allem damit beschäftigt, ein Gesetz nach dem anderen zu verabschieden, das die „Säuberung“ des öffentlichen Dienstes vorbereitet, die Grundrechte der Versammlungsfreiheit weiter einschränkt und die Repressionen des Sicherheitsapparats ausweitet. Es ist ein Parlament, das aus manipulierten Wahlen hervorging, sich verfassungswidrig konstituierte und anschließend eine illegitime Regierung und einen illegitimen Präsidenten wählte.
Quellen:
Details zur Wahlmanipulation:
Special OP Elections: How, Why, and What Next?
politicsgeo.com/article/105
How Georgia’s 2024 Elections Were Systematically Rigged – A Look at the Numbers
politicsgeo.com/article/106
A Dozen Daggers: How Georgia’s 2024 Elections Were Systematically Rigged
A-Dozen-Daggers_-How-Georgias-2024-Elections-Were-Rigged_Gutbrod.pdf