Für zwei spanische Nationalspieler hatten die Feierlichkeiten nach dem gewonnenen Finale der Fußball-EM im letzten Jahr ein bitteres Nachspiel. Álvaro Morata und Rodri wurden von der UEFA für das nächste Spiel gesperrt, nachdem diese zuvor bereits ein Ermittlungsverfahren gegen die beiden Spieler eingeleitet hatte. Der Grund: Sie stimmten während der Feier mehrmals den Slogan „Gibraltar ist spanisch“ ein, was als eine klare Provokation gegen Großbritannien bzw. England (dem Finalgegner Spaniens bei der EM 2024) aufgefasst wurde und von britischen Medien als politischer Skandal betitelt wurde.
Der Hintergrund des Skandals ist ein seit Jahrhunderten andauernder Streit zwischen Spanien und Großbritannien um den Besitz Gibraltars. Gibraltar befindet sich an der südlichen Spitze der iberischen Halbinsel und liegt nördlich der Straße von Gibraltar, welche Europa mit Afrika im Norden Marokkos verbindet. Mit ca. 40.000 Einwohnern und einer Fläche von 6,5km², lässt sich die Größe Gibraltars mit Kleinstädten in Deutschland vergleichen.
Warum genau eine kleine Halbinsel im Süden Europas zu politischen Spannungen zwischen beiden Staaten führt, soll im Folgenden dargestellt werden.
Der Ursprung für den bis heute andauernden Streit liegt im Spanischen Erbfolgekrieg zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Im Kampf um die Herrschaft über Spanien nach dem Tod von Karl II. führte Großbritannien eine Koalition mit Österreich und den Niederlanden an, die den Sohn des österreichischen Kaisers Leopold I. als Thronfolger anstrebten. Auf der anderen Seite unterstützte Spanien das Vorhaben des französischen Königs Ludwig XIV. seinen Enkel, Philipp von Anjou, auf den Thron bringen zu wollen.
Am 1. August 1704 traf eine Flotte aus britischen und niederländischen Kriegsschiffen vor Gibraltar ein. Unter der Leitung des deutschen Prinzens Georg von Hessen-Darmstadt landeten etwa 1.800 Soldaten, welche den Landzugang zur Stadt versperrten, während die Flotte den Seezugang blockierte. Zwei Tage später starteten die britischen und niederländischen Soldaten einen Großangriff auf einige Außenwerke der Halbinsel. Dieser war vor allem aufgrund der Bestimmung Georg von Hessen-Darmstadts, die Angriffe während der spanischen Mittagshitze durchzuführen, um Konzentrationsschwächen der spanischen Verteidiger bestmöglich auszunutzen, erfolgreich und führte zur Kapitulation ihrer Gegner.
Im Zuge des 1713 abgeschlossenen Friedensvertrag von Utrecht wurde Gibraltar offiziell Großbritannien zugesprochen. Jedoch akzeptierte Spanien lediglich die militärische Nutzung Gibraltars durch Großbritannien und erhob weiterhin den Hoheitsanspruch über die Halbinsel. Im Jahr 1727 sowie zwischen 1779 und 1783 scheiterten zwei Versuche Spaniens zur militärischen Rückeroberung Gibraltars. 1830 wurde Gibraltar zudem zur britischen Kronkolonie, wodurch die britische Vormachtstellung ausgebaut wurde und Spanien jegliche militärischen Ambitionen zur Rückeroberung Gibraltars aufgab.
Franco-Regime befeuert mit Grenzblockaden den Konflikt
Der spanische Diktator Francisco Franco betitelte den Verlust Gibraltars als „nationale Schmach“ und machte die Rückeroberung Gibraltars zu einem seiner wichtigsten außenpolitischen Ziele. Allerdings verzichtete Franco während des Zweiten Weltkrieges noch auf Maßnahmen zur Einnahme der Halbinsel, obwohl das nationalsozialistische Deutschland mit dem Unternhemen Felix einen konkreten Plan zur Eroberung Gibraltars in Kooperation mit Spanien vorlegte. Diesen lehnte Franco schließlich ab, was laut den Einschätzungen mehrerer Historiker, finanzielle Gründe hatte, da die spanische Wirtschaft in Folge des Bürgerkriegs von 1936-1939 enorm geschwächt war.
Nichtsdestotrotz setzte Franco nach Ende des Zweiten Weltkriegs seine Bemühungen zur Einnahme Gibraltars fort, wenngleich er dafür keine militärischen Aktionen plante, sondern stattdessen Initiativen auf diplomatischer Ebene startete. So initiierte Spanien im Jahr 1963 im Rahmen einer Vollversammlung der Vereinten Nationen (UN) eine tiefergehende Auseinandersetzung zum Streitfall. Zwar stimmte eine Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten (73:19 Stimmen) dafür, dass Großbritannien und Spanien Neuverhandlungen über die Zugehörigkeit Gibraltars aufnehmen sollten, weshalb für das Jahr 1967 eine Volksabstimmung der Bewohner Gibraltars über eine Rückkehr ins spanische Hoheitsgebiet angesetzt wurde.
Das Ergebnis dieser zeigte den Willen der gibraltarischen Bevölkerung mehr als deutlich auf: Eine fulminante Mehrheit von 99,64% stimmte für den Verbleib Gibraltars unter britischer Souveränität. Die britische Regierung wusste diesen herausragenden Erfolg direkt zu nutzen und verabschiedete 1969 eine neue Verfassung für Gibraltar, die Gibraltar von nun an als „autonomer Teil der britischen Überseegebiete“ definiert. Dies bedeutete konkret, dass eine eigenständige politische Verwaltung samt Parlament und Regierungssystem für Gibraltar eingeführt wurde.
Für die Ansprüche Spaniens war diese Entwicklung ein herber Schlag, weshalb sich Franco zu einer drastischen Gegenmaßnahme gezwungen sah. Nur wenige Wochen nachdem die Verfassung in Kraft trat, ließ Franco die Landgrenze schließen und sperrte den Flug- und Schiffsverkehr zwischen Spanien und Gibraltar. Die Konsequenzen bekam vor allem die Wirtschaft Gibraltars zu spüren, da die rund 5000 spanischen Pendler, die knapp ein Drittel der Arbeitskräfte ausmachten, durch die Grenzschließung wegfielen. Besonders Familien erlebten eine traumatische Zeit, da die Bewohner Gibraltars ihre Heimat nur über Umwege per Schiff oder per Flugzeug verlassen konnten.
Insgesamt 13 Jahre dauerten die Grenzblockaden an, ehe sie 1982 von der nun demokratischen Regierung Spaniens beendet wurden.
Spanischer EU- und NATO-Beitritt lässt den Konflikt etwas beruhigen
Im Zuge der demokratischen Transition Spaniens nach dem Ende des Franco-Regimes 1975, bekannte sich Spanien durch den NATO-Beitritt 1982 und den EU-Beitritt 1986 zu den Werten der westlichen Welt. Die Tatsache, dass Spanien und Großbritannien von nun an gemeinsam in supranationalen Organisationen agieren, führte dazu, dass sich beide Staaten im Gibraltar-Konflikt zumindest etwas annäherten. Nachdem die spanische Regierung 1982 die Grenzblockaden beendete, einigten sich Spanien und Großbritannien auf die gemeinsame Nutzung des Flughafens von Gibraltar.
Zu Beginn des 21. Jahrhundert schien sogar eine gemeinsame Lösung zur Beendigung des Konflikts möglich zu sein. So zeigte sich britische Regierung dazu bereit, die Souveränität über Gibraltar mit Spanien teilen zu wollen. Deshalb initiierten beide Staaten im Jahr 2002 eine gemeinsame Volksabstimmung, in der die Bewohner Gibraltars über eine britisch-spanische Co-Souveränität entschieden.
Allerdings zeigte sich bereits im Vorfeld der Abstimmung, dass die gibraltarische Regierung keinerlei Interesse an einer Co-Souveränität hatte und eine Beteiligung Spaniens mit allen Mitteln verhindern wollte. Letztendlich war das Ergebnis der Abstimmung ähnlich eindeutig wie das Votum aus 1967: 98,97% lehnten die geteilte Souveränität ab und stimmten für die Beibehaltung des Status Quo ab. Ausschlaggebend für das Ergebnis war vor allem die Tatsache, dass Spanien auch mit einer demokratischen Regierung weiterhin als Feindbild gesehen wurde. Zu nachtragend und traumatisch waren die Erlebnisse der gibraltarischen Bevölkerung während der Ära Franco.
Dennoch konnten im Verlaufe der 2000er-Jahre leichte Verbesserungen im Verhältnis zwischen Gibraltar und Spanien beobachtet werden. 2006 schlossen die Außenminister beider Staaten einen Vertrag zur Zusammenarbeit, welcher die Grenzkontrollen über die Landseite erleichterte. Im Jahr 2009 kam es erstmals seit Beginn der britischen Hoheit zu einem offiziellen Staatsbesuch eines Mitglieds der spanischen Regierung in Gibraltar.
Als am 23. Juni 2016 eine knappe Mehrheit von 51,9% der britischen Wähler*innen für den EU-Austritt Großbritanniens stimmten, bekam Gibraltar die Konsequenzen der britischen Herrschaft zu spüren. Denn wäre Gibraltar ein eigener autonomer Staat, hätte sich die gibraltarische Bevölkerung niemals über mögliche Folgen eines EU-Austritts Gedanken machen müssen. Mit einer klaren Mehrheit von 96% der Stimmen, votierten die Bürger*innen der Halbinsel für einen Verbleib in der EU und gegen den Brexit.
Folglich bedurfte es zahlreicher Verhandlungen zwischen Spanien, Großbritannien und der EU, um wirtschaftliche, territoriale und soziale Folgen des Brexits zu regulieren. Insbesondere der Zugang zum EU-Binnenmarkt ist für die Wirtschaft Gibraltars von besonderer Bedeutung, da täglich etwa 15.000 Menschen zur Arbeit nach Gibraltar pendeln. Ohne spezielle Regelungen würden Grenzkontrollen anfallen, die neben einem verzögerten Pendelverkehr auch Belastungen für den Handel und Tourismus zur Folge hätten.
Nach jahrelangen Verhandlungen gelang im Juni dieses Jahres mit der Verabschiedung eines Grenzabkommens zwischen den drei Parteien (Spanien, Großbritannien, EU) der endgültige Durchbruch zur Regulierung der durch den Brexit bedingten Probleme. Als Resultat des Abkommens fallen jegliche Kontrollen im Personen- und Güterverkehr zwischen Spanien und Gibraltar weg. Gibraltar bleibt somit Teil des EU-Binnenmarkts und des Schengen-Raums, wodurch die Bewohner Gibraltars die Vorteile des grenzfreien Reisens innerhalb der EU genießen können. Die Kontrollen an der EU-Außengrenze finden zudem nicht mehr am Grenzübergang zwischen Spanien und Gibraltar statt, sondern werden zukünftig am Flughafen Gibraltars abgehalten. Hierfür besteht eine Kooperation zwischen spanischen und gibraltarischen Beamten.
Fazit
Der rechtliche Status Gibraltars ist seit über 300 Jahren unverändert. Seit 1713 steht die Halbinsel unter der Souveränität Großbritanniens, was von der gibraltarischen Bevölkerung in zwei Referenden (1967 und 2002) mit breiter Zustimmung bestätigt wurde. Auch nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU gibt es keinerlei Bestrebungen nach einer erneuten Auseinandersetzung über den aktuellen Status der Halbinsel.
Jedoch löst der Verlust Gibraltars für Spanien bis heute generationenübergreifend kontroverse und emotionale Reaktionen aus, wie nicht nur die beispielhaften Provokationen der Fußballnationalspieler zeigen, sondern auch einigen Äußerungen spanischer Politiker zu entnehmen ist. Seitdem Spanien demokratisch regiert wird, gibt es zwar keine konkreten Pläne für eine mögliche Einnahme Gibraltars mehr, allerdings besteht auch in der aktuellen spanischen Politik nach wie vor Anspruch auf Souveränität über Gibraltar.
Obwohl sich beide Staaten seit den 1990er-Jahren angenähert haben, ist ein endgültiges Ende des Dauerkonflikts somit nicht in Sicht.
Gibraltar: Das müssen Sie zum Dauerkonflikt wissen (Der SPIEGEL)
Gibraltar: Fast sieben Quadratkilometer Streit (Die Zeit)
Vor 50 Jahren – Als Gibraltar eine neue Verfassung bekam (Deutschlandfunk)
Gibraltar und der Brexit: Der Stein des Anstoßes (Tagesschau)
Nach dem Brexit-Votum – Unsichere Zeiten für Gibraltar und Südspanien (Deutschlandfunk)
Brexit: EU und Großbritannien einigen sich auf Grenzabkommen zu Gibraltar (Die Zeit)