Georgiens europäischer Traum lebt. Er ist nicht nur sichtbar in den vielen europäischen Flaggen, die die Fassaden und Straßenecken von Tbilisi (Tiflis) säumen, er lebt durch die zahlreichen Menschen, die seit Monaten tagtäglich auf die Straße gehen, um für diesen zu kämpfen. Dieser Traum ist ein Wunsch nach Anerkennung; als Teil Europas wahrgenommen zu werden, was bis heute nicht selbstverständlich ist. Ein Sehnen nach Sicherheit, angesichts der sowjetischen Vergangenheit, dem Krieg von 2008 im Gedächtnis und der de facto andauernden russischen Besatzung in der Gegenwart. Eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft; die Visaliberalisierung und Erasmus-Programme boten vielen Georgier*innen neue Möglichkeiten. Doch in erster Linie ist es das Versprechen auf ein Leben in einem freien und demokratischen Georgien.

Der europäische Traum lebt jedoch nicht mehr politisch, spätestens seit dem 28. November letzten Jahres, als de facto Premierminister Kobachidze erklärte, den EU-Beitrittsprozess auszusetzen. Seitdem ist für viele Menschen in Georgien wenig, wie es vorher war: Es löste massive Proteste aus, die bis heute andauern, und bildete den Höhepunkt einer Krise, die nicht aus dem Nichts kam, sondern das Ergebnis einer schleichenden Autokratisierung darstellt. Eine Krise, die sich keineswegs nur um die europäische Zukunft dreht, sondern um die blanke Existenz der georgischen Demokratie. Seit über 300 Tagen stehen die Menschen daher (wieder) auf den Straßen – In einem Kampf, der zunehmend aussichtlos scheint, stemmen sie sich gegen das Regime eines Oligarchen, der nach den Wahlen im Oktober 2024 mit erhöhter Geschwindigkeit begonnen hat, eine Diktatur zu etablieren und Georgien zurück in die russische Hegemonialsphäre zu führen.

In einem Land, das 2023 noch den EU-Beitrittskandidatenstatus erhielt, mit einer Bevölkerung die überragende Zustimmungswerte für die europäische Integration aufweist, die als Ziel in der Verfassung festgeschrieben ist und wie eine einende Mission der Gesellschaft wirkte. Wie konnte es so weit kommen?
Die folgenden Artikel erzählen von den Ereignissen der letzten Monate in Georgien, sie zeugen vom Erstarken des rechten Autoritarismus und dem wachsenden russischen Einfluss in Europa; von einer EU, die nicht in der Lage scheint für ihre eigenen Interessen einzutreten und von einem unbändigen Verlangen nach Freiheit

Ein nicht enden wollender Kampf

Das Streben der georgischen Bevölkerung nach Freiheit, Demokratie und europäischer Integration liest sich wie eine tragische Geschichte; ein mühsamer Kampf mit immer neuen Rückschlägen und immer neuem Aufbäumen. 103 Jahre sind vergangen, seit die erste georgische Republik zerschlagen und das Land unter sowjetische Besatzung fiel, 36 Jahre nachdem 21 Menschen ihren Einsatz für die Unabhängigkeit mit dem Leben bezahlen mussten, als sowjetische Truppen friedliche Demonstrationen niederschlugen und 34 Jahre nachdem das Land seine staatliche Unabhängigkeit zurückerlangte. Doch Georgiens Ringen um seine Souveränität scheint immer noch anzudauern. Jede Generation stand seither immer wieder auf Rustaveli, der Hauptstraße im Zentrum Tbilisis, um zu protestieren. 16 Jahre nach der russischen Invasion im August 2008, fürchten viele Menschen wieder eine völlige Vereinnahmung ihres Landes durch Russland. Eine Invasion, die diesmal keine Panzer benötigt, sondern von innen heraus durch Gesetze erfolgt.

„Wie oft müsst ihr noch auf uns schießen?! Seht ihr denn nicht, dass wir trotzdem nicht sterben?!“
Statement eines Banners am Heldenplatz in Tbilisi, Oktober 2024

Mit dem Zerfall der Sowjetunion erlangte Georgien nach Jahrzehnten der Fremdbestimmung die Unabhängigkeit, doch die 1990er Jahre waren von Kriegen und prekären Lebensbedingungen zerrüttet. Bei der Rosenrevolution 2003 brachten Massenproteste die autokratische Ära des sowjetisch geprägten Eduard Shevardnadze zu Fall und den pro-westlichen und reformorientierten Mikhail Saakashvili an die Macht. Doch es folgte der Krieg im August 2008, in dessen Folge 20 Prozent des georgischen Staatsgebiets faktisch unter russische Kontrolle fielen. Saakashvilis ebenfalls zunehmend autokratische Präsidentschaft mündete 2012 in den Erdrutschsieg des „Georgischen Traums“. Seitdem die Partei die Regierung stellt, liegt die gesamte politische Macht de facto in den Händen eines einzelnen Mannes: des Parteigründers und Oligarchen Bidzina Ivanishvili, der anfangs kurzzeitig als Premierminister fungierte und seitdem aus dem Hintergrund regiert.

Ivanishvilis „Georgischer Traum“
Sein in Russland erwirtschaftetes Vermögen wird auf ein Viertel des georgischen Bruttoinlandsprodukts geschätzt. Genug, um Schritt für Schritt das ganze Land aufzukaufen. Ivanishvili ist es gelungen, den gesamten Staat zu durchdringen: die Verwaltung, den Sicherheitsapparat, führende Unternehmen und Banken bis hin zu Kulturinstitutionen. Als er 2012 die Wahlen gewann, versprach er eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland, ohne jedoch den westlichen Kurs aufzugeben. Schon damals gab es Stimmen, die vor einem Abdriften in den russischen Orbit warnten, aber das wahre Gesicht des Georgischen Traums war noch kaum zu erkennen. Die Partei wurde nicht gewählt, weil sie illiberal oder pro-russisch war, vielmehr galt Ivanishvili damals als demokratischer Hoffnungsträger. Doch diese Hoffnungen haben sich schon lange zerschlagen und nur wenige Jahre vergingen seitdem ohne politische Krise und ohne Massenproteste auf den Straßen Tbilisis, kaum eine Parlamentswahl war nicht von Manipulationsvorwürfen beschattet.

Die Politik des georgischen Regimes folgte bereits vor den Parlamentswahlen im Oktober 2024 dem klassischen autokratischen Playbook: Vereinnahmung staatlicher Institutionen, Druck auf die Zivilgesellschaft, Manipulation von Wahlen und Umschreibung der Geschichte. Im Laufe der Regierungszeit traten immer offener anti-westliche Positionen zu Tage, die „Gavrilov-Nacht“ 2019 gilt hierfür als ein wichtiges Symbol. Die westlichen Partner und die eigene Bevölkerung wurden fortwährend getäuscht, um die Illusion einer europäischen Zukunft aufrechtzuerhalten, immer waren Fortschritte im Integrationsprozess erzielt worden, um sie anschließend zu obstruieren. So faszinierend die Geschichten auch klingen mochten, über diesen mysteriösen Mann, der im Stile eines James Bond-Bösewichts in einer futuristischen Villa über Tbilisi residiert, so wurde im Rest Europas der Einfluss und die wahren Motive Bidzina Ivanishvilis lange Zeit unterschätzt. Inwieweit er direkt auf Anweisung des Kremls handelt, ist Gegenstand von Spekulationen. Jedenfalls erwecken die Taten seines Regimes mittlerweile den Eindruck in erster Linie russische Interessen zu vertreten.

Einige Beispiele legen zudem nahe, dass Ivanishvilis Kurs stark von seinen persönlichen finanziellen Interessen getrieben ist. Die Rechtsstreitigkeiten mit der Bank Credit Suisse seit 2020 und das Einfrieren eines Teils seiner Vermögenswerte gelten als möglicher Wendepunkt, der seine anti-westlichen Verschwörungstheorien begründeten.

Das schwierige Verhältnis zu Russland
Seit dem Krieg 2008 bestehen bis heute keine offiziellen diplomatischen Beziehungen zwischen Georgien und Russland mehr, die Verbindungen sind dennoch eng, und die wirtschaftliche Abhängigkeit Georgiens groß. Die russische Einflussnahme im Land ist massiv und beschränkt sich nicht nur auf die Regierung, sondern wird zum Teil auch über die Georgisch-Orthodoxe Kirche und andere Proxys ausgeübt, um anti-westliche Stimmung zu fördern. Die Mehrheit der Georgier*innen sieht Russland jedoch als Hauptfeind und reale Bedrohung. Nicht nur angesichts der georgischen Geschichte wird es als Kolonialmacht wahrgenommen, sondern auch der Gegenwart, in der Russland durch seine militärische Präsenz in Abchasien und Südossetien (Tskhinvali Region / georgisch: Samachoblo) als Besatzungsmacht auftritt. Vor diesem Hintergrund sind insbesondere unter jungen Menschen die Haltungen gegenüber Russen und Russinnen verbittert. Der Umstand, dass seit 2022 zehntausende Menschen aus Russland nach Tbilisi kamen, und damit auch die Lebenshaltungskosten massiv nach oben getrieben haben, hat dies nicht gerade entspannt.

Der „Georgische Traum“, vielmehr ein Machtinstrument Ivanishvilis als eine klassische Partei, war noch bis 2023 Mitglied der sozialdemokratischen Parteienfamilie, und bedient sich heute einer Rhetorik, die vielen europäischen Rechtsextremen in Nichts nachsteht. Ivanishvili verbreitet anti-westliche Verschwörungstheorien und faselt von den Gefahren einer „Globalen Kriegspartei“, während sein Premierminister, der in Düsseldorf Jura studiert hat, den „liberalen Faschismus“ ausmerzen will. Das nach russischem Vorbild verfasste „Ausländische-Agenten-Gesetz“, das als Angriff auf die Zivilgesellschaft angesehen wird, hatte im Frühjahr 2024 endgültig verdeutlicht, dass mit dieser Regierung eine europäische und demokratische Zukunft kaum mehr möglich sein würde. Das Gesetz hatte wochenlange, massive Proteste entfacht, die auch als ein „nationales Erwachen“ bezeichnet wurden und wurde letztlich dennoch verabschiedet. Doch die Parlamentswahlen im Herbst standen damals in Aussicht und bargen die Hoffnungen vieler Menschen, dem „Georgischen Traum“ ein Ende zu setzen.

Hier geht es zu Teil 2 des Artikels, der einen Blick auf die manipulierten Parlamentswahlen wirft.