Hier geht es zum ersten Teil des Artikels, der sich mit den Hintergründen der Eurokrise beschäftigt.
Um zu verstehen was der soziale „Kahlschlag“ in Griechenland angerichtet hat, ist es einleitend unbedingt notwendig, sich Zahlen und Statistiken zu vergegenwärtigen (die Daten beziehen sich auf den Zeitraum Januar 2010 – Januar 2014):
– Der private Konsum ist um 23,45% gesunken.
– Das durchschnittliche Einkommen sank von 1744€ auf 1511€.
– Die Arbeitslosigkeit ist von 11,9 % auf 27,4 % gestiegen. Insbesondere ein drastischer Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit von 30,3 % auf 56,2 % ist extrem problematisch.
– Im Zeitraum vom nahm die Zahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Personen um 27,7% zu (Eurostat, 2023).
Wenn man weitere Daten analysiert, alarmieren vor allem die Auswirkungen, die sich aus den Einsparungen im Gesundheitssektor ergeben: Während Griechenland 2010 noch 9,6 % des BIP für Gesundheitsausgaben aufbrachte, waren es 2014 nur noch 7,89 %. Das entspricht einer Ausgabensenkung von 17,8 %! (Eurostat, 2023).
Die unmittelbare Folge aus der zunehmenden Verarmung der Bevölkerung, sowie dem Rückbau des Gesundheitswesens wird von Kentikelenis et al. (2011: 1457)1 unter anderem so zusammengefasst:
“Suicides rose by 17% in 2009 from 2007 and unofficial 2010 data quoted in parliament mention a 25% rise compared with 2009. The Minister of Health reported a 40% rise in the first half of 2011 compared with the same period in 2010. The national suicide helpline reported that 25% of callers faced financial difficulties in 2010 and reports in the media indicate that the inability to repay high levels of personal debt might be a key factor in the increase in suicides”
Damit diese Ergebnisse in einen Kontext gesetzt werden: Der direkte Zusammenhang zwischen Armut und schlechterer Gesundheit wurde schon von mehreren Studien belegt, um hier das Robert-Koch-Institut (Lampert et al., 2005)2 zu zitieren: “Vor allem von Armut betroffene Bevölkerungskreise sind verstärkt durch Krankheiten und Beschwerden beeinträchtigt, schätzen ihre eigene Gesundheit und gesundheitsbezogene Lebensqualität schlechter ein und unterliegen einem höheren vorzeitigen Sterberisiko.” Neben erhöhter Suizidalität in der Bevölkerung war außerdem ein signifikanter Anstieg neuer HIV-Infektionen zu verzeichnen. Dieser rührt vor allem von intravenösem Drogenkonsum und der Zunahme von Prostitution (und damit einhergehendem ungeschütztem Geschlechtsverkehr). Es ist wichtig zu verstehen, dass die Zunahme dieser Phänomene direkt mit Verarmung im Zusammenhang stehen. Die Krise hatte in Griechenland nicht nur Folgen für die Wirtschaft, sondern vor allem für die Zivilbevölkerung. Teilweise auch lebensbedrohliche.
Reaktionen der Zivilgesellschaft
Auch wenn sich viele Menschen machtlos fühlten, gab es doch klare Reaktionen auf den politischen Kurs der griechischen Regierung und der EU. Zahlreiche Gewerkschaften und Sozialverbände riefen dazu auf, sich zu wehren. Die Proteste manifestierten sich in verschiedenen Formen, darunter Massendemonstrationen, Streiks im öffentlichen Sektor und Besetzungen von Plätzen wie dem Syntagma-Platz vor dem griechischen Parlament. Teilweise kam fast das ganze Land zum Stillstand. Die Demonstranten auf den Straßen von Athen und anderen Städten forderten ein Ende der Sparpolitik, mehr Unterstützung für Arbeitslose und eine gerechtere Verteilung der Lasten der Krise. Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten und Altersgruppen, von Arbeiter*innen über Student*innen bis hin zu Rentner*innen, die von der Krise betroffen waren, traten geschlossen auf und trugen somit die Protestwelle. Teilweise kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei, jedoch beschränkte sich der Großteil auf friedlichen Protest. Ich möchte betonen, dass ich die Standhaftigkeit und Entschlossenheit der griechischen Zivilbevölkerung, die sich bemerkenswerterweise und mit großer Entschlossenheit gegen die Folgen der Eurokrise zur Wehr setzt, äußerst bewundernswert finde.
Situation heute und das Zugunglück von Tembi
Seit Mitte 2022 steht Griechenland nicht mehr unter der EU-Finanzaufsicht und somit zunehmend wieder auf eigenen Beinen. Wie tief die Spuren der Sparpolitik heute dennoch sind, zeigt sich an einem sehr traurigen Ereignis, welches sich am 28. Februar 2023 ereignete: Zwischen den Orten Evangelismos und Tembi stieß ein Reisezug frontal mit einem entgegenkommenden Güterzug zusammen. Es ist der schwerste Eisenbahnunfall in der Geschichte Griechenlands. 57 Menschen starben, weitere 85 Menschen wurden verletzt, darunter 25 schwer. Bei der Aufarbeitung im Nachhinein wurde die Ursache des Unfalls schnell auf menschliches Versagen zurückgeführt. Der diensthabende Fahrdienstleiter, der für den betroffenen Streckenabschnitt zuständig war, gab die Abfahrt des Reisezuges frei, ohne die Weiche auf das Gleis der Regelfahrtrichtung umzustellen. Auch die griechische Regierung einigte sich schnell auf diese Version des Unfallhergangs. Aber was hat das ganze jetzt mit Sparpolitik zu tun? Hierbei kommt die kaputtgesparte Infrastruktur ins Spiel, welche die Tragödie überhaupt erst ermöglicht hat. Im Zuge der Privatisierungsmaßnahmen wurden auch die griechischen Bahnen verkauft, was Jahre der Unterfinanzierung und Unterbesetzung zur Folge hatte. Des Weiteren wurden Vorkehrungen zur Verhinderung solcher Unfälle, die heutzutage Standard sind, nicht umgesetzt. Auf der betroffenen Strecke gaben die Stationsleiter an den Bahnhöfen ihre Anweisungen noch per Funk an die Lokführer weiter und es gab weder ein elektronisches Leit- oder Überwachungssystem, noch Ampeln, die bei Gefahr auf Rot schalten könnten.
Das Unglück im Tembi-Tal war leider absehbar. Bereits 2019 verhängte die EU-Kommission eine Geldstrafe von zwei Millionen Euro gegen Griechenland aufgrund unzureichender Sicherheitsstandards im Zugverkehr und im April 2022 warnte ein Experte in einem Brief vor möglichen Zugunglücken. Die bittere Erkenntnis ist, dass diese Menschen wahrscheinlich nicht gestorben wären, wenn ausreichend in die Modernisierung der Infrastruktur investiert worden wäre. Der Unfall hätte verhindert werden können. Es zeigt sich vor allem eines: Wenn Profite und Sparzwang vor Sicherheit stehen, sind Menschenleben in Gefahr. 57 Menschen, darunter viele junge Studierende, bezahlten diese Tatsache mit ihrem Leben.
Die Folgen der griechischen Schuldenkrise und der Sparpolitik sind auch heute, mehr als ein Jahrzehnt später, noch spürbar. Zwar konnte Griechenland 2022 die direkte EU-Finanzaufsicht verlassen und hat begonnen, seine Wirtschaft langsam zu stabilisieren, doch die Einschnitte in das soziale und gesundheitliche Netz, die während der Krise vorgenommen wurden, prägen weiterhin den Alltag vieler Menschen. In einer globalen Zeit, in der Krisen – ob wirtschaftlich, sozial oder klimatisch – ganze Gesellschaften erschüttern können, ist das griechische Beispiel ein sehr eindringliches. Klar wird, wie wichtig es ist, Krisenpolitik nicht nur auf Zahlen und Finanzpläne zu reduzieren, sondern vor allem die Menschen und ihre Lebensrealität im Blick zu behalten. Die Zeit ist reif für Alternative Wirtschaftsformen, die das Wohl aller und nicht einiger weniger im Fokus haben.
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1 Kentikelenis, A. et al. (2011) ‘Health effects of financial crisis: omens of a Greek tragedy’, The Lancet, 378(9801), pp. 1457–1458. Available at: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(11)61556-0
2 Lampert, T. et al. (2005) ‘Armut, soziale Ungleichheit und Gesundheit’